Ein Gleiches

Michael Lentz' Prosasammlung "Oder"

Von Axel SanjoséRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Sanjosé

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

»die vorhänge meines zimmers waren rot, wie auch die astern von den hasen gefressen wurden«. Mit der schlichten Gattungsbezeichnung »Prosa« präsentiert Michael Lentz eine Sammlung von Texten, deren ›autobiographistische‹ Ausrichtung geradezu programmatisch die aktuelle Tagebuchseligkeit rave-geschüttelter Zeitgenossen durchbricht. Was Lentz erzählt, ist nicht wahr - und gerade deshalb authentisch. Wie er es erzählt (oder genauer: doch nicht erzählt), macht seine literarische Bedeutung aus, und zwar jenseits seiner Qualitäten als Live-Performer. Mag auch so manche Prosavignette auf Bühneneffekt zugeschnitten und die eine oder andere Geschichte entbehrlich sein - Lentz gelingt es, den Wahnsinn der alltäglichen Kommunikation derart lebensnah zu reproduzieren und ad absurdum zu führen, dass der Kunstanspruch nicht aus dem angeblich Dokumentarischen, sondern eben aus dem Künstlichen erwächst, der Fähigkeit, Welt einzufangen, ohne sie nachzuahmen. Und so, wie er in seinem Bericht über den historischen 12. Juni 1994 (Wiederaufstieg des TSV 1860 München) beschließt, für die »riesige wortfindung trinkkalt [...] dem wirt ein ewiges angedenken im herzen wachsen zu lassen«, so will ich ihm (Lentz) für die Substantive »menschenleerheit« und »abgewohntheit«, für das Adjektiv »redesprachlich« und die Wortfügung »ernstzunehmend verabschieden« ein Gleiches tun.

Titelbild

Michael Lentz: Oder.
edition selene, Wien 1999.
158 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3852660866

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