Die Selbstentfremdung des Menschen vor den Apparaten
Ein Sammelband widmet sich "Walter Benjamins Medientheorie"
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLängst gilt Walter Benjamin als einer der Diskursgründer der neuen Medienwissenschaften. Das hängt vor allem mit dem in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstandenen Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" zusammen, der nicht nur den Ruhm seines Autors begründete, sondern zugleich einer der meistrezipierten Texte der Kunst- und Medientheorie insgesamt ist. Obwohl Benjamins Texte für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen reklamiert wurden, sollte nicht übersehen werden, dass der entscheidende Bereich seiner Untersuchungen der ästhetische ist, wobei der Ausgangspunkt seiner medientheoretischen Überlegungen in der Um-Schrift des griechischen Nomens aisthesis liegt. Als Theorie der 'Wahrnehmung' wird Ästhetik in der Moderne fortschreitend mit dem technischen Diskurs verknüpft und vergegenständlicht, indem die Wirklichkeit oft nur durch Vermittlung von Apparaten (Mikroskop, Fernrohr, Fernseher) wahrgenommen werden kann. Die technischen Geräte verstellen also nicht nur die Sicht auf die Welt, sie entstellen sie vielmehr, indem sie unsere Wahrnehmung präformieren. Exakt hier, in der technischen Reproduzierbarkeit des Bilds und der Befreiung der Schrift von den engen Grenzen des Buchs, liegt der Ausgangspunkt von Benjamins Medienästhetik: Sein Hauptunterfangen, eine Urgeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben, fußt auf der Erkenntnis, dass dieses sich in einer Bilder-Schrift, die Norbert Bolz treffend als "Hieroglyphen des Kollektivtraums: Mode, Architektur und Reklame" bezeichnet hat, selbst schreibt. Benjamin erscheint die Großstadt in seinen Augen-Blicken als eine zur Plakatwelt erstarrte Zirkulation von Buchstaben, die taktil sind: Es ist eine Schrift, die eigentlich nicht gelesen werden soll, wie bei Büchern, die man horizontal liest, sondern den Massen auf den Leib rücken soll, da sie vertikal angeordnet ist.
Dieser Befreiung der Schrift vom Buch tritt nach Benjamins Erkenntnis die Technik der Bildreproduktion zur Seite, die sich in der Zerstörung der Aura der frühesten Fotografien manifestiert: Seit lichtstarke Objektive das Hell-Dunkel-Kontinuum der primitiven Kameras aufgesprengt haben, ist die spiegelgenaue Aufzeichnung zur Norm der Bildreproduktion geworden. Wenn die Fotografie aber zum Medium geschichtlicher Erkenntnis werden soll, muss sie über ihre rein abbildende Funktion hinaus noch eine konstruktive gewinnen, weshalb der Fotomontage und der Bildbeschriftung in Benjamins Medientheorie eine Schlüsselfunktion zukommen. Die Foto-Grafie, die Licht-Schrift, kann das in dem Moment leisten, in dem sie sich als Technik vom Menschen ablöst. Die verstellbare Linse des Apparats befreit das Sehen von den Schranken der "natürlichen" Optik, von den Limitationen des menschlichen Auges. Diese von Benjamin durchgeführte "große Überprüfung des Wahrnehmungsinventars" durch die "antiphysische" Optik des Fotoapparats lüftet den Schleier, den menschliche Gewohnheit und Trägheit über die Weltformen geworfen haben. So erscheint der Fotograf in Benjamins Medienästhetik als ein, so Bolz, "Augur der entzauberten Welt".
Christian Schulte hat im Vorwort zu dem von ihm jüngst herausgegebenen Sammelband zu "Walter Benjamins Medientheorie" daran erinnert, dass Benjamin keine in sich konsistente Medientheorie hinterlassen habe, vielmehr seien "[s]eine Reflexionen zum Wahrnehmungs- und Erfahrungswandel in der Moderne, zu Presse, Fotografie, Film und nicht zuletzt zum Bildbegriff [...] über das Gesamtwerk verstreut und begegnen oft an unerwarteten Stellen, in seiner Sprach- und Mimesistheorie ebenso wie in literaturkritischen Essays, im Kontext seiner Geschichtsphilosophie ebenso wie in der Fragment gebliebenen Arbeit über die Pariser Passagen". Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge ist die Annahme, die weit verzweigten Fäden von Benjamins medienästhetischen Überlegungen ließen sich dennoch sinnvoll bündeln. Die versammelten Studien zielen darauf, Benjamins Ansätze zu Film, Fotografie, topografischer Materialität und der Frage nach der Wiederkehr der Aura in seinen Texten mit den Diskursfeldern der heutigen Mediendebatten zu verknüpfen, ihre Anschlussfähigkeit zu testen und Wirkungszusammenhänge herauszuarbeiten. Glücklicherweise kommt bei allen (berechtigten) Diskussionen um Aktualität und Gebrauchswert von Benjamins sprachphilosophischen Überlegungen und den an der Mimesis orientierten Implikationen seines Medienbegriffs die Kon-Textualisierung seiner Theorie nicht zu kurz. Benjamins Medienästhetik, daran sollte nicht vorbeigesehen werden, verdankt sich dem Trauma von Weltkrieg und Faschismus. Mit dem Ersten Weltkrieg sind die Massenmedien an die Stelle von Erfahrung und Erinnerung getreten. Was geschehen ist, liegt nicht mehr in der Tiefe der Erinnerung, sondern an der Oberfläche der Bildarchive. Der Weltkrieg hat - aus der Perspektive einer Theorie der Erfahrung betrachtet - das Leben in Schocksequenzen verwandelt. Das lässt sich an Benjamins Aufzeichnungen zur Pariser Passage erkennen, die surrealistische Formgebungsprozesse, die den Wahrnehmenden inmitten ihn überraschender oder gar schockierender sinnlicher Eindrücke festhalten, eindringlich reflektieren. Benjamin weiß, dass der Surrealismus, der als erster den "Blick" auf die "Ruinen der Bourgeoisie" freigegeben hat, in erster Linie "auf die revolutionären Energien [stieß], die im 'Veralteten' erscheinen, in den ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrikgebäuden, den frühesten Fotos, den Gegenständen, die anfangen auszusterben, den Salonflügeln, den Kleidern von vor fünf Jahren, den mondänen Versammlungslokalen, wenn die vogue beginnt, sich von ihnen zurückzuziehen. [...] Im Mittelpunkt dieser Dingwelt steht das Geträumteste ihrer Objekte, die Stadt Paris selbst".
Der Rekurs auf die Traum-Welt lässt erkennen, dass alle medienästhetischen Überlegungen Benjamins in eine Theorie des Kinos münden, woran Andrea Gnam in ihrem Beitrag erinnert. Das Kino steht am Ende einer um 1800 freigesetzten technischen Entwicklung der Wahrnehmung, die in Begriffen der "klassischen" Moderne nicht mehr hinreichend beschreibbar ist. Der Stil wird von der Mode, die Kunst von der Reklame ersetzt, und an die Stelle des schönen Scheins tritt nach Ansicht Benjamins die "Filmwirklichkeit". Benjamin begreift das Kino als den Ort, an dem sich die Wiedergeburt des "ästhetischen Zuschauers" ereignet. Die zerstreute Wahrnehmung der Massen ist das neue Modell einer aisthesis, die ganz vom Taktilen beherrscht und im Kino eingeübt wird. Es setzt die schockhafte Nähe, von der Benjamin an verschiedenen Stellen spricht, in Funktion. Diesen von den Reproduktionsmedien "unbewusst" durchdrungenen Raum nennt er, in Analogie zu den Eroberungen der Psychoanalyse, das Optisch-Unbewusste. Das Kamera-Auge verdeutlicht nämlich nicht das schon undeutlich Gesehene, sondern zeigt im bekannten Phänomen eine unbekannte Strukturbeschaffenheit. Dementsprechend deutet Benjamin den Film als ein Medium, das alles von Erinnerung Aufgezeichnete zersetzt und das Netz des Vertrauten zerreißt. Für alle von Benjamin untersuchten neuen Medien, die von den einzelnen Beiträgen des Sammelbandes kenntnisreich unter die Lupe genommen werden, ist es charakteristisch, dass sie die Selbstentfremdung des Menschen vor den Apparaten produktiv zu verwerten wissen. "Im Film erkennt der Mensch", wie Benjamin ausführt, "den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stimme."
Ein herausragendes Beispiel für die Aneignung der Person Benjamins und seiner (medien-)ästhetischen Überlegungen findet sich in Jorge Sempruns Autobiografie "Unsre allzu kurzen Sommer" (1998, dt. 1999), in der Semprun Benjamins eigene Medien des Erzählens, nämlich Schrift, Erinnerung und Fotografie verwendet, um sich an die mögliche Anwesenheit des Autors im Pariser Café "Select" im Sommer des Jahres 1939 heranzutasten. Semprun kommt in seiner erinnernden Annäherung an eine Erfahrung oder Vorstellung im Medium der Schrift zu einem ähnlichen Ergebnis wie der hier besprochene Sammelband, wenn er die Bedeutsamkeit und Anschlussfähigkeit von Benjamins Denken für die Gegenwart unterstreicht: "Ich weiß nicht und werde nie wissen, ob der Mann, der am Ende des Tisches saß und dessen Meinung den anderen besonders wichtig zu sein schien, tatsächlich Benjamin war. Später, als ich Fotos von ihm gesehen habe, meinte ich, den Unbekannten des Select wiederzuerkennen, dem die anderen deutschen Flüchtlinge aufmerksam lauschten, wenn er, selten, das Wort ergriff. [...] War er jene wortkarge Person, die sich diskret im Hintergrund hielt, dessen Worte seine Landsleute jedoch besonders zu interessieren schienen? Faktisch ist das möglich. An jenem Tag war Benjamin noch nicht von der französischen Polizei aufgegriffen worden, die ihn im Lager von Nevers internieren ließ, aus dem er Ende des Monats befreit wurde. Im Jahr darauf floh er vor seinen Landsleuten, der Gestapo, überschritt illegal die spanische Grenze und beging Selbstmord in Port-Bou, unter Umständen, die nie ganz geklärt worden sind. Seit langem lese ich Walter Benjamin: seine Essays, die beiden Bände des Passagen-Werks, seine letzten Thesen über den Begriff der Geschichte. Eine unerschöpfliche Lektüre; ständig entdeckt man darin neue Reichtümer, neue Deutungsmöglichkeiten. Jedesmal, wenn ich mit Entzücken die sowohl hermetische wie gleißend prägnante Prosa von Benjamin lese, frage ich mich, ob er jene kleine Person war, die sich hinter einer Wasserkaraffe und Bergen von Zeitungen verstecken zu wollen schien, am Ende des Tisches des Select, an jenem Tag Anfang September 1939. Ich werde es nie erfahren, aber ich gäbe alles darum, daß es wahr wäre, daß ich Glück gehabt hätte, ihm, wenn auch anonym, begegnet zu sein, diesem schmerzlichen, gequälten - auch quälenden: labyrinthisch wie die Welt dieses Jahrhunderts selbst, die zu entziffern er sich bemühte - Genie des zeitgenössischen Denkens."
(vgl. auch die Rezension "Abschied vom Benjaminismus" von Inge Münz-Konen in dieser Ausgabe)
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