Alterskunst weiblich

Hanna Gagel entdeckt die Energie der dritten Lebensphase bei Künstlerinnen

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alterswerke von Künstlern finden seit jeher Beachtung in der Kunstgeschichte, auch in der Literatur gibt es dazu einiges an Untersuchungen. Bei Künstlerinnen verhält es sich da ganz anders. Auch wenn sie bereits zu Lebzeiten mit ihren Werken Erfolg hatten, steht ihr Alterswerk nur selten im Fokus. Vor diesem Hintergrund hat sich die Kunstwissenschaftlerin Hanna Gagel in ihrem neuen Buch über Künstlerinnen in der dritten Lebensphase zur Aufgabe gemacht, dieses Thema näher zu betrachten und mit Ansätzen aus der Altersforschung zu verbinden.

Gagels Herangehensweise ist einfach: Sie wählte 16 Künstlerinnen aus, die alle sehr alt wurden und bis zu ihrem Tod künstlerisch aktiv waren. Dabei setzt sie den Altersschnitt bei den Wechseljahren an, die um die 50 angesiedelt werden, und konzentriert sich auf die Werke, die die ausgesuchten Künstlerinnen danach entwickelten und schufen. Damit will die Autorin ein Gegengewicht schaffen zu einem Diskurs über Altern, der bestimmt ist von Begriffen wie Defizit und Krankheit, Altersabbau und Leistungsabfall, Pflegekosten und Hinfälligkeit.

Die biografisch und kunstwissenschaftlich orientierten Aufsätze zeigen Künstlerinnen, die Neues konzipieren, Großes schaffen, sich auf eine Weise entwickeln, die Energie und Potenzial freisetzt. Krisen werden gemeistert, Brüche integriert, Arbeit und Leben gehen ineinander über. Die Kunst wird direkter, radikaler, ausdrucksstärker, auch monumentaler.

So findet Marianne Werefkin erst in diesem Alter zu ihren eigentlichen Themen, Käthe Kollwitz schafft ihre bedeutendsten Skulpturen wie die "Pietà", "Abschied", "Die Klage". Niki de Saint Phalle beginnt mit 49 Jahren ihren Tarot-Garten und realisiert weitere Großprojekte, Georgia O'Keeffe entwickelt mehrere Werkgruppen, Magdalena Abakanowicz kreiert immer monumentalere Gruppen-Skulpturen. Einige thematisieren das Alter und seine Gegebenheiten wie Maria Lassnig, die zugleich Tagebuch schreibt, oder Alice Neel, die ein Selbstporträt von sich malt, auf dem sie nackt ist, dazu energisch und selbstbewusst.

Sie alle tragen mit ihren Alterswerken wesentlich zur Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert bei, so Verena Loewensberg zum Konstruktivismus oder Hanna Höch. Und immer wieder zeigt sich, welches Potenzial in Krisen steckt: Seien es Krankheiten oder Trennungen, Tod der Eltern oder von Freunden, Partnerinnen oder Ehemännern; diese Brüchigkeit zeigen vor allem Meret Oppenheim oder auch Lee Krasner.

Gagel kommt in ihrer Dokumentation zu sehr interessanten Ergebnissen. Stilistische Ähnlichkeiten wie bei Künstlern und deren Alterswerken kann sie nicht feststellen. Stattdessen konstatiert sie, dass den bedeutenden Alterswerken von Künstlerinnen intensive künstlerische Schaffensphasen vorausgingen, das Alterswerk also 'vorbereitet' wurde. Viele der Künstlerinnen greifen ihre Lebensthemen wieder auf, verbinden zentrale Motive zu neuen Bildsprachen. Einige setzen sich mit Weiblichkeit und Geschlechtlichkeit auseinander, wie z. B. Niki de Saint Phalle oder Louise Bourgeois. Ihnen allen ist trotz Krankheit, Armut, fehlender öffentlicher Anerkennung eines gemeinsam: die Lust an der Arbeit, eine mit dem Alter zunehmende Kreativität, die einige bis ins hohe Alter nicht verlässt, so u. a. Sonia Delaunay. Ideenreichtum, intensiver erlebte Emotionen, Experimentierfreude (wie bei Helen Dahm), all das findet sich; es sind zugleich Kriterien, die in der Altersforschung ein so genanntes erfolgreiches Altern kennzeichnen bzw. den Altersprozess charakterisieren.

Gagel verbindet in dem sehr schön gestalteten und lesenswerten Buch Biografisches, Kunstgeschichtliches und Altersforschung zu einem spannenden Panorama über Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts und deren Alterswerke. Es ist unglaublich faszinierend und berührend zugleich, wenn man sich vorstellt, welche Kräfte die Künstlerinnen mit über 70 Jahren aufbrachten und welche Werke sie realisierten. Die Befriedigung, die im eigenen künstlerischen Ausdruck steckt, darf dabei nicht unterschätzt werden. Auch wenn einige der Künstlerinnen erst spät finanziellen Erfolg hatten, war ihnen die Arbeit, das Erkunden des eigenen Lebenswegs und der inneren Prozesse, die Umsetzung persönlicher Kunstkonzepte immer zentraler Bezugspunkt. Dies hält die Alten jung, könnte man meinen. Und wünscht sich, es ihnen gleich zu tun.


Titelbild

Hanna Gagel: So viel Energie. Künstlerinnen in der dritten Lebensphase.
AvivA Verlag, Berlin 2005.
268 Seiten, 28,50 EUR.
ISBN-10: 3932338243

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