Die Lust und das Laster

Geschichten menschlicher Leiden(-schaften)

Von Gesa HinrichsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gesa Hinrichsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anthologien sind was Wunderbares. Der ungeduldige Leser kann die schlechten Texte besten Gewissens überspringen, der Geduldige sich dafür bei den schönen umso länger aufhalten. Irgendwo in der Mitte des Buches einzusteigen ist genauso möglich, wie die Unart, das letzte Kapitel zuerst zu lesen. So ist jedem Leseverhalten bestens gedient und der Leser kann sich genussvoll zurücklehnen.

Doch wird in dem Buch "Ich biete der Stadt meine Haut" nicht nur den Lesefreuden genüge getan, auch die allzu menschlichen Begierden werden befriedigt. Geschichten und Geschichtchen aus "dem Reich der Sinne", einem Reich, in das wohl jeder zu gern ab und an eintauchen möchte. Und gerade dieses Thema lädt so wunderbar ein zum kurzen Stöbern und Schmökern, Verweilen und Träumen. Daher sei dem Herausgeber Rainer Weiss verziehen, der "gar nicht recht [weiß], wie [er] die Auswahl [s]einer Texte rechtfertigen soll". Sicher liegt er nicht verkehrt, wenn er zu Bedenken gibt, es gäbe derlei schon so viel auf dem Markt - doch diese eher ungewöhnliche Zusammenstellung der Texte und Autoren rechtfertigt ein weiteres Werk dieser Art.

Autoren aus der ganzen Welt, von Tokyo bis New York, von Madagaskar bis Hamburg, kommen in diesem Buch zu Wort. Große Namen wie Brecht und Nabokov erdrücken keineswegs die eher unbekannten wie Sandra Kellein und Alissa Walser. Von der reinen Liebe bis zur masochistischen Lust, von der homosexuellen bis zur pädophilen Begierde, sämtlichen nur denkbaren Formen der menschlichen Leidenschaft gibt Rainer Weiss die Möglichkeit, sich zu präsentieren und zu rechtfertigen.

Die Protagonisten bieten schonungslos ihren Körper dar. Sie legen ihre Seele bloß, lassen sich erniedrigen oder erniedrigen selbst, stehen hilflos ihrer eigenen Lust gegenüber, aber sind sich in Einem alle gleich: im Moment der Extase gibt es keine Reue, keine Schuldgefühle, da gibt es nur sie, sie und diesen einen Moment. Und doch sind Sie darauf angewiesen, verstanden zu werden, verstanden von demjenigen, von dem sie ihr Glück erwarten, denn "[s]ie können nichts machen [...] ohne Gelegenheit." Cees Noteboom, Patricia Highsmith, Maguerite Duras, Philip Roth, Mario Vargas Llosa - sie alle scheinen dies gewusst zu haben. So sensibel der eine, so brutal der andere mit diesem Thema spielt, keiner übersieht die Grenzen, verletzt die ungeschrieben Regeln dieses alten Spiels.

Der Leser wird auf eine Reise geschickt, auf der er seinem Spiegelbild manchmal zur Gänze und dann wieder nur bruchstückhaft unerwartet gegenübersteht. Sicher gibt es bei 26 Varianten dieses Themas die eine oder andere, die man gern überschlägt. Stilistisch und thematisch so unterschiedliche Erzählungen bzw. Romanauszüge können nicht jeden Leser glücklich machen, und doch lässt sich sagen, dass selbst in den weniger geliebten Passagen immer wieder ein Wort, ein Satz auftaucht, der Mitgefühl, Hass oder auch nur ein freundliches Achselzucken hervorruft. Und was kann es für ein Buch, das sich mit den Abgründen und Hochgenüssen menschlicher Gefühle beschäftigt, Schöneres geben, als auch nur die kleinste Regung der Leidenschaft zu erwecken?

Titelbild

Rainer Weiss (Hg.): Ich biete der Stadt meine Haut. Geschichten aus dem Reich der Sinne.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
244 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3518390147

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