Grenzen überschreiten

Anlässlich des 75. Geburtstags von Fritz J. Raddatz werden seine Romane neu aufgelegt

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich bin der Auffassung, dass Literatur immer über die Grenzen gehen muss und da, wo sie wichtig wurde, immer über die Grenzen gegangen ist, ob es Anstand betraf oder Moral oder politisches Denken." So beschrieb der literarische Tausendsassa Fritz J. Raddatz in einem Interview sein literarisches Credo, das in diversen Funktionen seine Arbeit prägte - als Lektor bei Volk und Welt und Kindler, als stellvertretender Verlagsleiter bei Rowohlt, als Professor an der Universität Hannover und von 1977 bis 1985 als Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit". Raddatz, der Hans Dampf in allen Literaturgassen, hat streitbare Sachbücher über Karl Marx, Gottfried Benn und Heinrich Heine verfasst, das Tucholsky-Gesamtwerk herausgegeben, Filme über Ezra Pound, Louis Aragon und Erich Mühsam gedreht und sich auch als Romanautor versucht. Nicht zufällig bezeichnete er im berühmten FAZ-Fragebogen Marcel Reich-Ranicki als seine "Lieblingsgestalt der Geschichte." Wie der spiritus rector des Literarischen Quartetts bevorzugte Raddatz auch oft die überspitzten Urteile - enthusiastische Lobeshymnen oder polemische Verrisse pflastern Raddatz' Weg als Kritiker.

Seine eigenen literarischen Arbeiten "Kuhauge", "Der Wolkentrinker" und "Die Abtreibung", die nun unter dem Titel "Eine Erziehung in Deutschland" in einem Sammelband neu erschienen sind, wurden von den Kollegen mit viel Skepsis aufgenommen.

Hämische Untertöne waren auch in den Kommentaren nicht zu überhören, die 1985 nach seinem Ausscheiden als Feuilletonchef der "Zeit" erschienen waren. Raddatz war über ein manipuliertes Goethe-Zitat eines Kollegen gestolpert und danach auf den Posten des Kulturkorrespondenten abgeschoben worden. Ein langjähriger Weggefährte, der "Zeit"-Redakteur Karl-Heinz Janssen, bezeichnete Raddatz (aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Wochenzeitung) als "den anregendsten, neugierigsten, temperamentvollsten und eloquentesten" Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung.

Seine 2003 erschienene Autobiografie "Unruhestifter", die sich wie ein reißerisches Stück Boulevardprosa liest, funktionierte er kurzerhand zu einer Generalabrechnung mit allen ihm missliebigen Personen um. Der einstige "Zeit"-Chefredakteur Theo Sommer überreichte Raddatz nach einer Lesung aus diesem Buch - durchaus symbolträchtig - eine Mimose als Geschenk.

Fritz J. Raddatz, der am 3. September 1931 in Berlin als Sohn eines UFA-Direktors geboren wurde, studierte Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte und Amerikanistik an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin und promovierte mit einer Arbeit über Herder. Ende der 50er-Jahre übersiedelte er in die Bundesrepublik und wurde später - neben Marcel Reich-Ranicki - zum einflussreichsten deutschen Literaturkritiker.

Der Rotwein- und Porsche-Liebhaber Raddatz, der für seinen Tucholsky-Film mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, mag mit seinem Versuch, sich als Schriftsteller zu etablieren, gescheitert sein, aber mit seinen Essays, Kritiken und großen Interviews für die "Zeit" hat er die Kulturlandschaft bereichert und immer wieder zu heftigen Kontroversen Anstoß gegeben. Ein streitbarer Geist zwischen allen Stühlen - aber bekanntlich lohnt es nur, über bedeutende Figuren zu streiten.


Titelbild

Fritz J. Raddatz: Eine Erziehung in Deutschland. Romantrilogie.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
491 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3498057782

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