Bauernglück
Andrea Maria Schenkel bedient Klischees vom Leben auf dem Lande - aber auf sehr lesenswerte Weise
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas ist ein ganz, ganz ferner Kontinent: Das Leben auf dem Lande ist auch auf dem Land heutzutage nicht mehr das, was es einmal war, oder sagen wir besser: gewesen sein soll. Selbst Einödhöfe, die früher nur über stundenlange Fußwege erreichbar waren, sind heute erschlossen, Auto und Telefon ermöglichen sogar denen, die einstmals notgedrungen zur Schweigsamkeit neigten, so etwas wie soziale Anbindung. Vom Fernsehen, den Zeitungen, Radio und den sonstigen Errungenschaften der Moderne reden wir hier erst gar nicht. Dem Klischee vom brutalen Einödbauern, der seine Frau schlägt und mit seinen Mägden und der Tochter schläft, hat der soziale Wandel allerdings nicht wirklich geschadet.
Immer noch traut man solchen Gestalten zu, was andernorts mittlerweile von modernen Formen der Gewalttat, dem Serienmord, der Kinderpornografie, der Verschleppung von Frauen und ihrer Zwangsrekrutierung als Prostituierte abgelöst worden ist. Hier im tiefsten Inneren des Landes, haben wir es aber noch - literarisch gesehen - mit den urtümlichen Formen der Missetat zu tun. Ein Mord ist geschehen: Die Bevölkerung eines ganzen Hofs ist niedergemetzelt worden, Bauer, Frau, Tochter, zwei Enkel und eine Magd. Das Ganze auf grausamste Weise, mit einer Hacke, wie sich herausstellt. Wer es denn gewesen sein könnte, bleibt lange unklar. Der anfänglich verdächtige Hausierer, Hehler und Gelegenheitsdieb war es jedenfalls nicht, auch wenn der Verdacht mit aller Ruhe aufgebaut wird. Wie wir aus der zahlreichen Kriminalliteratur gelernt haben, ist es nahe liegend jemand aus dem näheren sozialen Umfeld, der sich das Ganze hat zuschulden kommen lassen - und er stammt aus "einer bigotten", "ganz und gar nicht idyllischen dörflichen Gemeinschaft mit einem traumatischen Beziehungsgeflecht, das schließlich zum Mord führt", wie der Waschzettel uns informiert. Hätten wir etwas anderes erwartet von einem Text, den man getrost der modernen Heimat- und Provinzliteratur, vielleicht sogar dem Bauernroman zuschreiben kann? Nicht wirklich.
Soweit gesehen, ist Andrea Maria Schenkels Krimi "Tannöd" nicht besonders bemerkenswert, ganz im Gegenteil. Böswillig betrachtet haben wir es hier mit einem Exempel aus jener Textschar zu tun, die aus dem Land- und Provinzmotiv die immerselben Klischees ableiten: Schweigsam ist man hier, ein wenig dumpf und hinterhergeblieben, man gibt sich kleinen Vergnügungen hin, pflegt seine Feindschaften, sorgt für sich am meisten (um damit der angeblichen Solidarität ländlicher Gemeinschaften gleich zu widersprechen) und am wenigsten für andere. Ausgebeutet wird, was sich ausbeuten lässt. Und wenn nichts mehr hilft, ist schlagkräftige Gewalt immer noch ein probates Mittel. Hier hat jede Tat ihre archaische Geschichte, und jeder einzelne trägt das Gewicht einer Welt, die nicht mehr von heute ist. Kommt jemand von außen dazu, trifft er/sie natürlich auf eine Mauer des Schweigens, aus der nur die Fremden, die Neuhinzugekommenen ausbrechen würden (die es aber in diesem Fall nicht gibt). Freilich legt uns die Erzählinstanz nahe, dass hier jemand zurückgekehrt ist und man ihm deshalb weit genug vertraut, dass man ihm alles, nun wirklich alles erzählt.
Und trotzdem ist "Tannöd" ein lesenswertes und höchst spannendes Stück Literatur, freilich nichts für den Krimi-Leser, der auf den ungebremsten Rede- und Erzählfluss einer Patricia Cornwell setzt, oder der moderne Literatur mit beliebiger Assoziationsflut und ironischer Brechung gleichsetzt (was immer das dann auch heißen mag). Schenkel geht einen anderen Weg: Konzentriert, auf das Wesentliche beschränkt, löst sie die Handlung in die perspektivische Beschreibung der verschiedenen handelnden und beteiligten Personen auf. Nur gelegentlich übernimmt der Erzähler/die Erzählerin das Heft, dabei nicht einmal notwendigerweise an den Stellen, die dramaturgische Knotenpunkte darstellen würden. Selbst die Auflösung wird dem Täter selbst auferlegt. Er muss es selbst erzählen, und er tut dies so ausführlich wie nötig, so knapp wie möglich. Kaum eines der Einzelkapitel, in denen Schenkel "Tannöd" erzählt, ist länger als drei, vier Seiten. Die Erzählung dieser Tat, die insgesamt nur 120 Seiten umfasst, wird aus den kleinen Schnipseln der vielen Erzählstimmen zusammengesetzt, die sich aneinander reihen - das ist eine Leistung der Leser, die die Autorin ihnen abverlangt, und das erfolgreich. Soll heißen: Das Lob der vergangenen Monate ist der Autorin und ihrem Erstling mit sehr, sehr großem Recht gezollt worden.
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