Jenseits des Lagerdenkens

Viktor Otto untersucht deutsche Amerikabilder

Von Gunther NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunther Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Schlusskapitel dieser Dissertation liegt ein Aufsatz zugrunde, der 1999 im zweiten Band des Zuckmayer-Jahrbuchs erschienen ist. Schon damals formulierte Viktor Otto das Ziel, sich von den gängigen Zuordnungsschemata einer ideologiekritisch ausgerichteten Literaturwissenschaft zu lösen, sie zumindest relativieren zu wollen. Warum? Weil diese Zuordnungen undifferenziert, wenn nicht gar irreführend seien. Das zeigte er - ausgehend von bahnbrechenden Studien wie Helmut Lethens "Verhaltenslehre der Kälte" (1994) oder Rolf Peter Sieferles "Die Konservative Revolution" (1995) - am Beispiel des Amerikabilds von Zuckmayer und Brecht und wies auf die verblüffenden zivilisationskritischen Parallelen im Frühwerk dieser beiden Autoren hin, die man gemeinhin als Antipoden betrachtet.

Otto hat das Thema keine Ruhe gelassen. Nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes beschäftigte er sich intensiv mit den Amerikabildern von Heinrich Hauser, Ernst Jünger und Carl Schmitt und konsultierte neben einer Fülle weiterer Primär- und Sekundärliteratur auch alle thematisch einschlägigen Beiträge in der radikaldemokratischen Wochenzeitschrift "Die Weltbühne". Sein bemerkenswerter und minutiös belegter Befund: Wie bei Brecht, Zuckmayer, Hauser, Jünger und Schmitt lasse sich nach dem Ersten Weltkrieg "eine insgesamt amerikaskeptische bis dezidiert antiamerikanische Linie" in dieser Zeitschrift ausmachen: "Die Begeisterung für Chaplin und den Jazz sind eher Ausnahmen von der Regel. Und wenn in der 'Weltbühne' US-amerikanische Schriftsteller wie Sinclair Lewis oder Upton Sinclair - letzterer selbst sporadischer Mitarbeiter - gefeiert werden, so eben gerade wegen der amerikakritischen Haltung, die sie einnehmen." Otto gelingt der Nachweis, dass der misstrauische bis ablehnende Blick auf Amerika Ausdruck einer Kritik an der Moderne ist, bei der ein politisches Lagerdenken, das "Linke" und "Rechte" in steter und unversöhnlicher Opposition wähnt, selbst eine Ideologie im Marx'schen Sinne ist. Differenzen in der Bewertung der amerikanischen Modernisierung bestanden nämlich nicht zwischen den politischen Lagern, sondern lediglich in den Antworten auf die Frage, wie man auf ihre Herausforderung reagieren soll: Jünger und Brecht sahen Ende der 20er-Jahre keinen anderen Ausweg, als den Versuch zu unternehmen, den - mit Julius Evola gesprochen - "Tiger der Moderne" zu reiten. Sie verknüpften ihren ursprünglichen Vitalismus mit Elementen des neusachlichen Diskurses zu einem Neo-Barbarismus, womit sie das Schreckbild Amerika an Radikalität noch übertreffen wollten. Auch Zuckmayer, schreibt Otto, habe seine vitalistische Phase hinter sich gelassen, im Unterschied zu Brecht und Jünger nun aber einen "religiös ambitionierten Humanismus" proklamiert. In Abkehr von ihrem "avantgardistisch gepflegten Anti-Humanismus" hätten in späteren Jahren Jünger und Heinrich Hauser ebenfalls diese Haltung eingenommen, während das bei Brecht und Carl Schmitt nicht der Fall gewesen sei.

Ottos Revision intellektueller Frontlinien ist mutig und faszinierend, auch wenn die Durchmischungen und zum Teil fließenden Übergänge scheinbar konträrer Positionen tatsächlich wohl noch komplizierter waren. Jünger zum Beispiel zeigte sich in seiner Schrift "Der Friede" aus dem Jahr 1944 zwar ganz ohne Zweifel erstaunlich humanistisch gestimmt, stellte aber später als einsamer "Waldgänger" immer wieder fest, dass sich seine Programmschriften für eine technologische Revolution und einen "neuen Menschen" aus den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren auch als veritable kulturkritische Prognosen lesen ließen, ja dass er nie anderes als Kulturkritik im Sinn gehabt habe. Aus der Perspektive des "Waldgängers" aber erscheint jede Hoffnung auf eine Restauration des Humanismus als illusionär.

Brechts Entwicklung dagegen gewinnt in Ottos Darstellung nur bis zum Ende der 20er-Jahre Kontur. Wer sich über Brechts Amerikabild im Exil und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg informieren will, findet nur einige knappe Bemerkungen über Architektur und Möbel, die allein noch keine weit reichenden Schlüsse gestatten und schon gar nicht geeignet sind, um eine Parallele zur Universalismuskritik Carl Schmitts zu begründen. Allein die Umarbeitung von "Das Leben des Galilei" nach den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki hätte reichlich Stoff geboten, um Brechts erstaunliche Preisgabe früherer Standpunkte darzustellen. Peter Hacks kritisierte schon 1959, Brecht habe mit der dritten Fassung dieses Stücks "keine geringere Absurdität" verkündet, "als daß das moralische Bewußtsein des Herrn Galilei das Sein der Welt bestimmt habe." Konsterniert fügte Hacks hinzu: "Er, Brecht!" Zuckmayers Atomstück "Das kalte Licht" über einen Fall von Atomspionage in den USA wirft ganz ähnliche Probleme auf, was ebenso wenig thematisiert wird wie die gleichermaßen entschiedene Ablehnung der These von der Kollektivschuld aller Deutschen an den Verbrechen des NS-Regimes sowohl durch Zuckmayer als auch durch Brecht.

Es kommt hinzu, dass Otto im Kapitel über Zuckmayer erneut eine ideologiekritische Positionierung vornimmt, die er zuvor mit vielen guten Gründen verworfen hat. Zuckmayer, schreibt er, transportiere 1923 in seinem Stück "Pankraz erwacht" "gängige gegen-aufklärerische Ideologeme", operiere "mit wolkigen Begriffen, die der völkischen Literatur der Zeit als Distinktionskriterien dienten und durchaus als topisch anzusehen" seien und bewege sich "in den Denkmustern antirepublikanischer Zivilisationskritik". Das alles ist nicht falsch und trotzdem nur die halbe Wahrheit. Zuckmayers politische Haltung unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg kann man nicht anders als linksradikal bezeichnen. 1917 bis 1919 veröffentlichte er Beiträge in Franz Pfemferts "Die Aktion", von 1923 bis 1925 gehörte er zu den Mitarbeitern der "Weltbühne" - beides Zeitschriften, die eindeutig dem linken politischen Spektrum zuzurechnen sind.

Das Beispiel Zuckmayer wäre also geeignet gewesen, Ottos grundlegende These nochmals zu stützen, dass sich in der Zwischenkriegszeit Ästhetiken, Tropen, Mentalitäten und Diskurse beobachten lassen, deren ideologisches Flottieren eingebürgerte politische Einordnungen mehr als fragwürdig werden lassen. Von Zuckmayers Fall abgesehen liefert Otto für diese Einschätzung - und das macht den großen Wert seiner Arbeit aus - eine derart große Zahl von Belegen, dass man nur wünschen kann, möglichst viele tapfere Anhänger des politischen Lagerdenkens mögen dieses Buch lesen und staunen.


Titelbild

Victor Otto: Deutsche Amerika-Bilder. Zu den Intellektuellen-Diskursen um die Moderne 1900-1950.
Wilhelm Fink Verlag, München 2006.
357 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3770542487

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