Wie man ein "unbewusster Faschist" wird

Fiamma Nirenstein korrigiert den Blick auf den Nahost-Konflikt

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahre 1967 kam Fiamma Nirenstein als junge italienische Kommunistin nach Israel. Wie es damals noch en mode war unter jungen Linken, arbeitete sie in einem Kibbuz, der einen Teil seiner Umsätze dem Vietcong spendete. Außerdem war gerade der Sechstagekrieg; sie lernte Selbstverteidigung und Schießen, begleitete kleine Kinder in die Schutzbunker. Als sie nach Italien zurückkam, so erzählt sie in ihrer Rede "Wie ich ein 'unbewusster Faschist' wurde", die sie im April 2003 in New York gehalten hat und die nun als Einleitung zu ihrem neuen Buch dient, weiter, da hatte sich etwas verändert. Manche Freunde und Bekannte schauten sie anders an, denn als Jüdin war sie zum Feind geworden, zu einer schlimmen Person, die wenig später zum "Imperialisten" erklärt wurde. Ein Leserbriefschreiber nannte sie später "unbewusste Faschistin". Sie hatte die "Unschuld des guten Juden" verloren. "Die Linken schätzten die Juden als das Opfer par excellence, immer ein großartiger Partner im Kampf für die Rechte der Schwachen gegen die Bösen. Als Gegenleistung [...] gaben die Juden den Linken moralische Unterstützung und luden sie ein, mit ihnen an den Holocaust-Gedenkstätten zu weinen. Heute ist das Spiel offensichtlich aus. Die Linke hat bewiesen, dass sie selbst die wahre Wiege des gegenwärtigen Antisemitismus ist."

Über diesen gegenwärtigen Zustand und seine Wurzeln schreibt Nirenstein. Sie ist seit langem Kolumnistin in Jerusalem für die italienische Tageszeitung "La Stampa". Ihr Buch "Terror" ist eine umfangreiche Sammlung ihrer Reportagen, Artikel und Glossen aus den Jahren 1997-2003, davon zum größten Teil aus den Jahren der zweiten Intifada. Damit sind die zusammengestellten Texte alt, zumal nach journalistischer Sicht, aber sie sind immer noch unabgegolten. Denn das, worüber Nirenstein berichtet, das dauert an: die Bedrohung Israels, die anti-israelische Hetze in den arabischen Ländern und die Berichterstattung im Westen, die Israel vorzugsweise als grausamen Täter und islamistische Terroristen als verständniserheischende, verzweifelte Opfer darstellt. Nach wie vor fehlt ein empathischer Blick auf Israel oder wenigstens einer, der indifferent kühl ist wie bei anderen Konflikten.

Nirenstein verschafft einen Zugang, der so ungewohnt ist, dass er einem beschämenderweise fast wie ein Blick auf ein unbekanntes Land vorkommt. Sie erzählt von einem Selbstmordanschlag, der in der Nähe ihrer Wohnung verübt wurde, während sie an einem Artikel schrieb; über Türsteher von Diskotheken, "Israel's last line of defense", die mit Sprengstoffgürteln umwickelte Palästinenser überwältigen; über die Zaka, die orthodoxen Juden, die am Ort des Massakers die Leichenteile einsammeln und sortieren. Sie beschreibt Anschlagsopfer und die psychologischen Auswirkungen der Anschläge. Sie berichtet von der aus Rentnern rekrutierten Armee-Reserve und von Juden, die die Shoah überlebten, nach Israel gingen und dort den Judenschlächtern der Gegenwart zum Opfer fallen.

Ebenso beschäftigt sie sich mit der Gegenseite: sie erstellt das Profil eines Terroristen, interviewt einen Jahid und porträtiert Bin Laden und Arafat ebenso wie Sharon und Netanjahu. Nirensteins Ton erinnert ein wenig an den von Hannah Arendt: ein wenig kühl und schroff, mit einem guten Maß Polemik. Es ist kein Buch aus einem Guss; es gibt Überschneidungen, Wiederholungen und kaum eine thematische Ordnung. Eine Sammlung von Artikeln ist keine zusammenhängende Analyse, aber dennoch sind Analyse und Theorie vorhanden.

Das größte Problem, dem Nirenstein sich gegenüber sieht, sind ihre eigenen Kollegen. Dank ihnen weiß Europa "immer schon alle Antworten, die die Palästinenser und die Israelis betreffen: es weiß alles, was nicht wahr ist"; dank ihnen erfährt man nichts über die alltägliche staatlich betriebene antisemitische Hetze in der muslimischen Welt. In Ost-Jerusalem gibt es ein schönes altes Hotel, "The American Colony". Hier logiert die Großzahl der Journalisten der westlichen Welt. Die Palästinenser betrachten dieses Hotel "als ihre Mobilisierungsbasis, als einen Ort, wo sie Treffen abhalten und Interviews führen können." Die Crews und die Informanten der Journalisten sind allesamt Palästinenser. Aber die Journalisten sind nicht nur Opfer einseitigen Datenflusses, sie wollen auch nichts anderes hören. Denn "viele der Gäste hier sonnen sich in ihren Erinnerungen an sich selbst, im Alter von zwanzig Jahren, die Kefia um den Hals, auf den Campus von amerikanischen oder europäischen Universitäten: junge Rebellen, junge Helden, junge Umstürzler. Für sie ist eine pro-palästinenesische Haltung ganz natürlich." Von damals nahmen sie ein Weltbild mit, wonach der Arme immer Recht habe. Heutzutage, so kann Nirenstein beobachten, lassen sie, "allesamt mehr oder weniger erfolgreiche Hemingways", sich von palästinensischen Intifada-Organisatoren erzählen, wo am nächsten Tag "spontane Aufstände" stattfinden werden.

Einem Fall von anti-israelischer Berichterstattung widmet Nirenstein sich ausführlich: dem angeblichen Massaker von Jenin im April 2002, "ein Meilenstein in der Geschichte, wie der gegenwärtige israelisch-palästinensische Konflikt wahrgenommen wird." Die Welt akzeptierte die Version, die die Palästinenser und ihre Freunde ihr lieferten. Palästinenser wurden ohne Ausnahme als bemitleidenswerte Opfer wahrgenommen, ihre Kämpfe, Feuerkraft und organisatorische Stärke komplett ignoriert. Auch als die Behauptung eines Massakers von offizieller Seite und von den Menschenrechtsorganisationen, die dies vorher behauptet hatten, widerrufen wurde, blieb die Presse bei ihrer Version und schilderte weiterhin palästinensische Einzelschicksale mit ergreifenden Bildern.

Diese Öffentlichkeit weiß nichts von der palästinensischen Alltagskultur. Jahids werden verehrt. "Oh, Schwester Wafa, oh pulsierende Braut, Knospe, die auf der Erde spross und die nun im Himmel ist, Schwester.... Allah Akbar, oh Palästina der Araber, oh Wafa, du hast dich fürs Martyrium entschieden, durch deinen Tod hast du Hoffnung in unseren Kampf gebracht." Dies sang ein eleganter Sänger vor palästinensischem Publikum in einer Konzerthalle, begleitet von einem Orchester. Dies wurde mindestens zwei Mal im palästinensischen Fernsehen gesendet. Er pries Wafa Idris, ein 26jährige Krankenschwester, die sich im Zentrum Jerusalems in die Luft sprengte und dabei Dutzende Personen ermordete. Die Gesellschaft billigt im allgemeinen die Selbstmordattentate, der Terrorismus wird gefeiert. Nirenstein zitiert Noah Salameh, einen palästinensischen Aktivisten, der sich für den israelisch-palästinensischen Dialog einsetzt und der Direktor des "Center for Conflict Resolution" ist. Dessen Tochter erklärte ihm, dass "jeder in der Schule über Ayyat Ahras redet, die 17jährige Selbstmordattentäterin, die in einem Jerusalemer Supermarkt zwei Israelis ermordete und 28 verletzte. Sie ist die Heldin von all meinen Freunden. Ihre Organisation, die Al Aksa-Märtyrerbrigaden, kommt häufig zu uns in die Schule, und sie ist meine Heldin." Nirenstein spricht von einer "Todeskultur". Das palästinensische Fernsehen hat den "modern-day kamikaze" zu einer "vertrauten Figur" gemacht, so dass diese Gesellschaft den Tod "nicht fürchtet, sondern tatsächlich herbeisehnt."

Ebenso alltäglich ist der Wunsch, Israel vernichtet zu sehen. Dieser wird von den arabischen Medien vorbereitet und auch selbst gefordert. "Ein palästinensisches Video zeigt eine theatralische Nachstellung eines Angriffs (den es nie gab) von israelischen Soldaten in einer palästinensischen Wohnung: ein kleines Mädchen wird von ihnen unter den Augen ihrer Eltern vergewaltigt, welche danach umgebracht werden." Arabische Medien streuen Gerüchte, wie die, dass Israel drogenbeschichtete Süßigkeiten verteile, um arabische Kinder zu töten und arabische Frauen sexuell zu verderben; dass Israel die in Palästina ausgebrochene Maul- und Klauen-Seuche verbreitet habe. Das Lied "I hate Israel" wurde in diesen Ländern ein großer Hit. Die weit verbreitete Holocaust-Leugnung in muslimischen Ländern ist inzwischen auch in Europa bekannt. Dass dies nicht das Resultat eines Mangels von historischen Kenntnissen ist, sondern Kalkül, zeigt die tiefe Dankbarkeit Adolf Hitler gegenüber: Am 29. April 2002 wurde in der ägyptischen regierungsnahen Zeitung "Al-Akhbar" zunächst die Shoah geleugnet, um sich dann imaginär an Hitler zu wenden: "Wenn du nur Erfolg gehabt hättest, Bruder... die Welt könnte dann in Frieden atmen, ohne ihre [der Juden] Boshaftigkeit und ihre Sünden."

Diese Öffentlichkeit würde auch nie Nirensteins realistischen Blick auf Israel teilen: dass Israel ein ermutigendes Beispiel und ein Vorbild für alle Demokratien ist. "Israel ist eine einzige große Wunde." Es musste Kriege führen, die allesamt Verteidigungskriege waren; es sollte mehrfach vernichtet werden und die Vernichtungsdrohung besteht weiter. Seine Reaktionen sind nicht "unverhältnismäßig", wie es jetzt heißt - manches Land würde sich an Israels Stelle ganz anders verteidigen und hätte die äußere Bedrohung wesentlich stärker auf die Innenpolitik durchschlagen lassen.

Der Westen verurteilt lieber Israel und hat Verständnis für die muslimische Welt. "Dieses ganze Bemühen, die arabische Welt zufriedenzustellen" irritiert und beunruhigt Nirenstein. Geläufig ist das Entgegenkommen gegenüber Selbstmordattentätern und die Rechtfertigung ihrer Taten, die aus sozialer Deprivation, ungebrochenem Gerechtigkeitsgefühl und Freiheitsgeist unter 'israelischer Besatzung' und, schließlich, Verzweiflung erklärt werden. Die westlichen Intellektuellen, "die über Kommunikation theoretisieren", so Nirenstein, "behandeln die Araber, als ob diese eine autistische Welt wären, pathologisch infantil, ein verzweifelter Fall."

Eine Untersuchung des Phänomens Selbstmordattentäter zeigt, dass niemand aus sozialen Gründen dazu wird. Es reagiert nicht einmal auf Aktionen Israels, sondern hat seine eigene Kontinuität. Es ist zum normalen Kampfmittel geworden, ist kein Extrem mehr; es ist Zweck, nicht Mittel: die Ermordung von Juden ist der Sinn und das Ziel dieser Aktionen, nicht Mittel, um ein anderes Ziel zu erreichen. Antisemitismus ist der "Kern dieses Terrorkrieges".

Antisemitismus ist aber auch "eine neue Art und Weise, Menschenrechte zu praktizieren." Seit der UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban (Südafrika) im August/September 2001 ist Antisemitismus das Banner der neuen weltlichen Religion der Menschenrechte. "Antisemitismus strömte durch die Luft wie giftige Pollen." Delegierte mit jüdischem Familiennamen trugen aus Sicherheitsgründen ihre Namensschilder verkehrt herum, Juden, die eine Kippah trugen, wurden in den Straßen von Durban körperlich angegriffen; bei mindestens zwei Demonstrationen wurden die "Protokolle der Weisen von Zion" verteilt; jüdische Delegierte wurden mit körperlichem Einsatz daran gehindert zu sprechen. Wer sich heutzutage für Menschenrechte einsetzt, der benutzt diese meist, um autoritäre Regime vor Kritik zu schützen. In der "Friedensarena der Welt" dienen "Menschenrechte" und "Frieden" als "Allzweckwort", als Schutzschild.

An der Seite der UNO kämpfen die NGOs. Sie richten ihren Fokus der Kritik stets auf Israel. Menschenrechtsverletzungen werden vor allem in Israel angeprangert - die in den arabischen Ländern interessieren nicht, auch wenn sie dort wesentlich gravierender sind. Keine Kinderschutzorganisation engagiert sich, wenn palästinensische Kinder von ihrer politischen Führung, von der Schule und von ihren Eltern zu Selbstmordattentätern abgerichtet werden; keine Frauenschutzorganisation protestiert dagegen, wenn die Selbstmordattentäterin als role model für moderne Frauen propagiert wird; keine Lehrergewerkschaft protestiert gegen palästinensische Schulbücher, in denen Israel von den Landkarten verschwunden ist und Terrorismus legitimiert wird. Mit der Menschenrechtspolitik der UNO und der NGOs werden die Menschenrechte geschliffen. Dem arbeitete die Linke vor. Unter den Begriffen von "Pluralismus", "Selbstbestimmung" und "Anti-Ethnozentrismus" werden Drittwelt-Diktaturen legitimiert. "Dinge, die einst Unterdrückung, Diktatur and sexuelle Diskriminierung genannt wurden, werden nun als 'Differenzen' verkleidet."

Die zweifelhafte Arbeit der UN veranschaulicht Nirenstein auch am Flüchtlingslager Deheisheh. Die UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) wurde 1949 als Unterorganisation des Flüchtlingshilfswerks der UN (UNHCR) mit dem Ziel gegründet, sich allein für die Belange der Palästinenser einzusetzen, die April/Mai 1948 flohen. Damit sind die Palästinenser "die einzigen Flüchtlinge auf der Erde, die als Flüchtlinge institutionalisiert wurden." Im Gegensatz zur üblichen Praxis der UNHCR bemüht sich die UNRWA nicht darum, die Palästinenser anzusiedeln. Sie müssen seit über fünfzig Jahren in so genannten "Flüchtlingslagern" leben. Deheishe ist ein offenes Zentren des Terrorismus. Indem die UNRWA nichts dagegen unternimmt, duldet und unterstützt sie ihn stillschweigend. Das Elend der Flüchtlinge liegt darin, von der UNRWA, von den palästinensischen Rackets und von den arabischen Staaten im Flüchtlingsstatus festgehalten zu werden. Die UNRWA appellierte nicht an die umliegenden arabischen Staaten, die Flüchtlinge einzubürgern. Von anderer Seite darum gebeten, weigerten diese sich, diejenigen, die sie sonst emphatisch als ihre "Brüder" bezeichnen, als Staatsbürger, das heißt als Personen mit Rechten, Partizipationsmöglichkeiten und Zukunft anzuerkennen. Die Palästinenser sind wie "lebende Gedenkkerzen".

Inzwischen gibt es Flüchtlinge in vierter bis fünfter Generation. Die UNRWA erkennt die Nachkommen als Flüchtlinge an - auch hier entgegen der üblichen Praxis des UNHCR. Die UNRWA züchtet eine bestimmte Mentalität in den Lagern, die sich in Äußerungen wie der vom 22jährigen Shaladi niederschlägt, den Nirenstein in Deheishe interviewte: "Mein Leben gehört mir nicht, bis ich nach Ajour zurückkehre." Ajour ist die Stadt, aus der seine Vorfahren 1948 flohen. Er begreift sich als Materiatur der palästinensischen Sache. Als Flüchtling, so Nirenstein, ist ein Palästinenser "keine Person, sondern ein Pfand in einer größeren politischen Strategie", eine Strategie, die "nie den Gedanken einer Zweistaatenlösung akzeptieren" wird. Das vielbeschworene "Recht auf Rückkehr" ist vielmehr ein "Euphemismus für die Auslöschung Israels", die palästinensischen Flüchtlinge sind hierbei die "palästinensische Kriegsmaschine".

Es mag überraschen, dass auch Nirenstein die Phrase bedient, dass Kritik des Antisemitismus nicht bedeute, auf der anderen Seite Israel und seine Politik nicht kritisieren zu dürfen. Aber sie zieht die Grenzen viel enger. Denn "nur sehr wenig von dem, was wir über Israel hören, ist präzise Kritik. [...] Die sich selbst Kritiker nennen, sind für Juden nicht die frommen Gesprächspartner, die sie zu sein vorgeben. Deswegen müssen wir ihnen sagen: Von jetzt an könnt ihr den Menschenrechte-Pass nicht mehr umsonst benutzen. [...] Ihr müsst beweisen, was ihr behauptet [...]. Ihr könnt es nicht? Ihr nanntet Jenin ein Gemetzel? Dann seid ihr ein Antisemit, genau wie die alten Antisemiten, die ihr vorgebt zu hassen."


Titelbild

Fiamma Nirenstein: Terror. The New Anti-Semitism and the War Against the West.
Smith & Kraus Pub Inc, Lyme 2005.
368 Seiten, 17,13 EUR.
ISBN-10: 1575253771

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