Gelebte Solidarität mit verkauften Frauen
Über 20 Jahre nach der Gründung des Vereins SOLWODI e. V. ist die Arbeit für Betroffene von Menschenhandel und Sextourismus notwendiger denn je
Von Regina Kalthegener
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKaum war die Euphorie der Fußball-Weltmeisterschaft verklungen und in den Austragungsorten wieder Alltag eingezogen, erhielten Fachberatungsstellen, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution betreuen, einen Fragebogen. Es sollte kurzfristig mitgeteilt werden, ob und wenn ja, wie viele Zwangsprostituierte im Zusammenhang mit den Spielen registriert wurden. Politisch sollte damit möglichst schnell ein Negativbild von Deutschland gerade gerückt werden. Denn im Vorfeld der WM geisterte die Zahl von 40.000 jungen Frauen durch die Medien, die zusätzlich zwangsweise nach Deutschland gebracht und der Prostitution zugeführt werden würden. Im benachbarten Frankreich und in Schweden schlugen die Wellen der Empörung hoch, dass es Deutschland zulasse, ein riesiges Bordell zu werden.
Bei allen den Anstrengungen, die vermeintlich richtige Anzahl ausfindig zu machen, wird in der Öffentlichkeit schnell übersehen, dass es bereits vor der WM und seitdem weiterhin ungebrochen eine enorme Nachfrage nach preiswert verfügbaren jungen Frauen für die "schnelle und tabulose Nummer" in unserem Land gibt. Dabei fragt sich kaum einer bei Angeboten in Zeitungen von "frisch eingetroffenen willigen Polinnen" oder "russischen Sklavia", 24 Stunden täglich einsatzbereit, ob hier noch freiwillig Sexdienste geleistet werden. Immer wieder berichten Opferzeuginnen in Menschenhandelsprozessen, dass sie Freier vergeblich um Hilfe gebeten hatten. Kaum einer interessiert sich wirklich für die Lebenssituation einer Frau, die mit viel Mut zum Risiko das Wagnis auf sich nimmt, in einem ihr fremden Land vorübergehend Arbeit zu finden, um ihre Familie daheim ernähren zu können. Wird sie anlässlich einer polizeilichen Razzia zufällig aus den Fängen von Menschenhändlern befreit, findet sie - wenn sie Glück hat - vorübergehend Unterstützung in einer der wenigen Fachberatungsstellen in Deutschland. SOLWODI ist eine davon.
SOLWODI bedeutet Solidarity with Women in Distress, die Solidarität mit Frauen gegen Verzweiflung, völlige Erschöpfung, Sorgen, Bedrängnis und Not. In dem Buch setzten sich verschiedene namhafte Autorinnen und Autoren mit der Arbeit der Organisation auseinander, aber auch mit dem Überlebenskampf von Frauen und ihrer Würde. Es geht um Katharina, Natascha, Elena, Milena oder Namins Mutter, einige der vielen Frauen, die, zur Ware für Menschenhandel oder Sextourismus degradiert, verkauft wurden. Aber es handelt auch um die Kraft von Frauen und um Neubeginn mit Hilfe von Organisationen wie SOLWODI.
Über 20 Jahre existiert die Grundidee von SOLWODI bereits. In dem Lese- und Textbuch wird anschaulich die Entwicklung bis zu den heutigen Strukturen in Kenia und Deutschland geschildert. Dabei wird deutlich, wie maßgeblich Einzelschicksale von Frauen und die unterschiedlichen Lebensumstände die Zielrichtung der Vereinsarbeit beeinflussten. Angefangen hatte es Mitte der 80er-Jahre in Kenia. Zur Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrer in das Land gesandt, realisierte 1985 die katholische Ordensschwester Lea Ackermann stattdessen ihren Wunsch, mit Frauen zu arbeiten, "die im Leben keine Chancen hatten und nur die hohlen Versprechungen von Touristen bekamen, die sie während ihres Urlaubs missbrauchen wollten." Eine Organisation wollte sie zunächst nicht gründen. Es interessierte sie lediglich, wie es den Frauen und Mädchen in der Not wirklich ging und ob Prostitution der einzige Weg aus ausweglosen Situationen war, so wie für Katharina. Erst 17 Jahre alt war sie zusammen mit ihrem dreijährigen Sohn nach Mombasa gekommen, um Geld zu verdienen. Es zeigte sich schnell, dass die gelegentliche finanzielle Unterstützung keine wirkliche Hilfe war. Es bedurfte eines organisatorischen Rahmens für das Konzept und Geld für die Realisierung einer langfristigen Hilfe zur Selbsthilfe für Katharina und die vielen anderen Frauen, die folgten. Unermüdlich sammelte Lea Ackermann in Deutschland für die Umsetzung der Idee Unterstützer/innen und Geld. 1995 wurde SOLWODI e.V. gegründet. In Kenia ist SOLWODI-Kenia seit 1997 als eigenständige Nichtregierungsorganisation anerkannt und besitzt mittlerweile vier Beratungsstellen, jeweils eine in Mombasa, Mtuhapa, Kilifi und Malindi.
Es zeigte sich rasch, dass in Deutschland, einem der Nachfrageländer von Sextouristen und Heiratshändlern, ebenso Bedarf an Beratung und Unterstützung von betroffenen Frauen bestand wie in Kenia. Deshalb traten Mitarbeiterinnen von SOLWODI vehement für mehr Wahrnehmung der Probleme in der Öffentlichkeit ein. Immer wieder machte Lea Ackermann deutlich, dass gesetzgeberische Maßnahmen gegen die organisierte Kriminalität und für den Opferschutz in der Praxis wenig bewirkten. Obwohl seit Ende der 90ger Jahre eine Reihe von Kooperationsvereinbarungen und gesetzlichen Regelungen einen Opferschutz gewährleisten, liegt bis heute noch manches im Argen. Es ist ein ständiger Kampf um die Sicherstellung der Finanzierung der Hilfe für betroffene Frauen. Leere öffentliche Kassen und nicht abgestimmte Regelungen des Zeugenschutzes über die Grenzen der Bundesländer sind weitere Stolpersteine, die den Mitarbeiter/innen der zehn deutschen SOLWODI Beratungseinrichtungen täglich im Weg liegen. In dem Buch werden diese Schwierigkeiten geschildert. Aber es erschöpft sich nicht in der rein technischen Darstellung der Arbeit der Organisation SOLWODI. Es sind die Einzelschicksale von Mädchen und Frauen, die im Mittelpunkt stehen. Es sind Schlüsselsituationen, die geschildert werden, um das teilweise Unfassbare begreiflich zu können.
Wer über Menschenhandel und Sextourismus nur abstrakt redet, ohne sich mit der Lebenssituationen von Betroffenen auseinander zu setzen, der erfasst die Dimension der Verbrechen nicht wirklich. Hinter jedem "Fall" steht ein Mensch und kein Opfer der Straftaten verdient es, nur in einer passiven Rolle gesehen zu werden. Das Buch trägt mit den Berichten, Anmerkungen und Gedichten dazu bei, ein wenig Licht in die Zusammenhänge zu bringen. Aber die Beiträge erregen nicht ausschließlich Mitleid mit Betroffenen, sondern geben Beispiele für neu gewonnene Kraft und Stärke von Frauen, die mit Hilfe von SOLWODI die eigene Zwangssituation zu überwinden gelernt haben.
In ihrem Vorwort schreibt Lea Ackermann, dass das Lesebuch Lehrerinnen und Lehrern Texte für den Ethik-, Religions-, Geschichts-, Deutsch- und Sozialkundeunterricht an die Hand geben will. Junge Leserinnen und Leser sollen angeregt werden, über diese Verbrechen an jungen Menschen nachzudenken, die oft im gleichen Alter sind wie sie selbst. Die einzelnen Schilderungen eigenen sich trefflich zum Nachdenken und diskutieren. Die Sachinformationen über Menschenhandel und Sextourismus und die menschenrechtliche Situation von Mädchen und Frauen kommen leider etwas zu kurz. Aber neben weiteren Sachbüchern zum Thema bietet das Buch eine hilfreiche Ergänzung.
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