Selbstbewusste Sünder
Gerhard Schulze verteidigt das schöne Leben vor seinen Verächtern
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Projekt der Moderne hat an Attraktivität verloren. Hierzulande erstrahlte es letztmalig in altem Glanz, als die Mauer fiel und der Sozialismus Millionen glückstrunkener Menschen in die Freiheit entließ. Kein Wunder: Sich für die Moderne zu begeistern, ist schwer; Jubelstürme über ein noch schnittigeres Auto, einen noch besseren Geschirrspüler gibt's nur in der Werbung.
Inzwischen befindet sich der Westen mitten in einer Identitätskrise. Verursacht durch all das, was man mit "Kampf der Kulturen" etikettiert. Dabei haben die Feinde von Liberalismus und Individualismus einen Vorteil: Sie sind von ihrer Sache überzeugter als die Menschen der westlichen Kulturen. Etliche sind bereit, ihr Leben zu opfern, um das Projekt des Pluralismus zu zerstören.
Das grassierende Unbehagen in der Moderne kurieren möchte nun Gerhard Schulze. Der prominente Gegenwartsdiagnostiker will wieder den Sinn für die Poesie der Ernüchterung und des Alltags in unserer Anything goes-Welt wecken. Das neue Buch des Bamberger Soziologen ist der trotz einiger Längen gelungene Versuch einer "Selbstbesinnung" angesichts der Herausforderung durch die wieder auferstandene Vormoderne, die "magische Religiosität".
Diese bedroht die Moderne nicht nur von außen. Im Westen selbst wächst die Sehnsucht nach einer Rückkehr der Religion. Christliche Fundamentalisten beeinflussen mittlerweile via Washington die Weltpolitik. Deshalb widerspricht Schulze auch Samuel Huntington. Dessen Konzept von einem "christlichen Abendland", das sich des Islams zu erwehren habe, ist für Schulze eine Schimäre; der wirkliche Konflikt, Moderne versus Vormoderne, hält sich nicht an Landkarten.
Wenig überraschend erklärt Schulze die Anziehungskraft der Vormoderne mit dem uralten Dualismus von Verstand und Gefühl. Die magische Religiosität bietet ein einziges Ja, zielt direkt aufs Herz, packt den Menschen mit Haut und Haaren. Die Moderne dagegen ist das ewige Nein, der dauernde Zweifel, eine bombastische "Kathedrale der Kritik". Die Bedürfnisse des Gefühls bleiben Privatsache. Hier, beim Gegensatz von Affirmation und Negation, verläuft für Schulze die "heiße Front" des globalen Konflikts. Für Menschen aus einer affirmativen Kultur kommt ein Leben im westlichen Durcheinander einem Sturz in die Hölle gleich, wie die Biografien der Terroristen vom 11. September zeigen.
Im ersten Teil beschreibt Schulze die westliche Kultur aus solch fundamentalistischer Perspektive. Bei der Suche nach einem geeigneten Beobachtungsinstrument wurde der Soziologe bei den alten Kirchenvätern und ihrem Konzept der sieben Todsünden fündig: "Wer sich dafür interessiert, was es eigentlich bedeutet, in der Kultur des Westens heute zu leben und sich als Kind der Zeit zu fühlen, findet ex negativo Aufschluss bei der Erbsündenlehre und ihren drastischen Konsequenzen für das Lebensgefühl."
Auch wenn sich Schulzes Einsichten mitunter in Plattitüden erschöpfen (wie im Fall des Zorns: "Man ist es sich selbst schuldig, sich nicht alles gefallen zu lassen"): Die Lehre von der Abtötung des Fleisches in Dienste des Seelenheils vermag tatsächlich, als Kontrastmittel den westlichen Lebensstil zu profilieren. Die Sünde der "Hoffart" zum Beispiel: Hätten die Menschen weiterhin darauf verzichtet, auf sich und ihre Leistungen stolz zu sein, wäre es wohl nie zu einer Moderne gekommen. Und was die "Unkeuschheit" angeht, so gilt es heute eher als Sünde, sich eine Gelegenheit dazu entgehen zu lassen.
Ganz so fremd, wie einem schon das Vokabular anmutet, sind sich Vormoderne und Moderne aber überraschenderweise nicht. So ist im Fall der "Völlerei" an die Stelle der Bibel der Ernährungsratgeber getreten. Für viele begehen Übergewichtige, Raucher oder Trinker immer noch eine Sünde, allerdings eine gegen sich selbst. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie fundamental sich die Bezugspunkte geändert haben. Auch bei der "Trägheit" wissen sich Kirchenväter und Moderne einig - nur dass heute statt der Sicherung des ewigen Seelenheils die des Arbeitsplatzes als Rechtfertigung dient. "Die gegenwärtige Schwäche des Westens in dieser Konfrontation" mit der Vormoderne, folgert Schulze daher, "besteht nicht etwa in einem Defizit an Wertvorstellungen, sondern in ihrer Verstecktheit."
Bei der Frage, Leben für Gott oder eigenes Leben, fällt den Menschen der Moderne die Antwort leicht. Dennoch wäre es voreilig, die Todsündenlehre endgültig zu verabschieden, glaubt Schulze. Verbirgt sich doch unter ihrem verstaubten Habit eine noch immer aktuelle Lebensweisheit. Sie kann helfen, bei der Wahl zwischen Exzess und Askese Kompromisse zu finden, die Lust und Vernunft gleichermaßen zu ihrem Recht kommen lassen. Wer Schulzes frühere Bücher kennt, ahnt, was jetzt kommt: "Vom Können zum Sein", das Credo des Soziologen, soll auch in der Auseinandersetzung mit der Vormoderne helfen.
Die Formel meint: Sich nicht immer nur neue Optionen eröffnen, sondern aus ihnen auch endlich etwas machen. Lernen, die Möglichkeiten diesseitigen Glücks, die das Leben bietet, auszuschöpfen und zu gestalten. Konkret: Wichtiger als die Anschaffung des neuesten Hightech-Handys wäre es, wieder zu lernen, geglückte Gespräche zu führen. Das "Steigerungsspiel" allein , das unsere Gesellschaft voranpeitscht, kann kein "schönes" Leben schaffen.
Der Einwand liegt auf der Hand: Wandelten sich die Menschen im Westen wirklich kollektiv zu Epikureern, wären die Mohammed Attas dieser Welt davon wohl kaum beeindruckt. Nicht einmal Joseph Ratzinger wäre es - dessen katholische Kirche Schulze ebenfalls zu den Wiedergängern der Vormoderne zählt, im Unterschied zum aufgeklärten Protestantismus à la Schleiermacher.
Aber das weiß Schulze natürlich selbst. Sein Plädoyer für eine gereifte Moderne, die das antike Konzept der Selbstbegrenzung revitalisiert und der eine profane, diesseitige Religiosität genügt, will nur dazu verführen, sich wieder mit seiner Kultur zu versöhnen - all ihrer anstrengenden Widersprüchlichkeit und auf Dauer gestellten Selbstkritik zum Trotz. In der berechtigten Annahme, dass sich aus einer sinnerfüllten Existenz neues Selbstbewusstsein schöpfen ließe.