Psychologische Aufklärung

Hundert Jahre vor Sigmund Freud wurde Karl Philipp Moritz geboren

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

"Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit." Was Sigmund Freud 1907 in dem Vortrag "Der Dichter und das Phantasieren" ausführte, hatte ein gutes Jahrhundert früher ein anderer großer Psychologe an einem ihm bestens bekannten Beispiel in allen Details und immer neuen Variationen vorgeführt: der Schriftsteller, Pädagoge und Philosoph Karl Philipp Moritz mit seinem unverhüllt autobiografischen Romanhelden Anton Reiser: "So bestanden von seiner Kindheit auf seine eigentlichen Vergnügungen größten Teils in der Einbildungskraft, und er wurde dadurch einigermaßen für den Mangel der wirklichen Jugendfreuden, die andre in vollem Maße genießen, schadlos gehalten." Ob Lesen, Theaterspielen oder Dichten, dem armen Anton Reiser wird es zum Bedürfnis, "wie es den Morgenländern das Opium sein mag"; es lässt ihn eine imaginäre Welt genießen, in der "er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte".

Man hat die Forschungen Freuds einmal als "Fortsetzung romantischer Literatur mit anderen Mitteln" bezeichnet. Doch wer die Ursprünge der Psychoanalyse vorrangig in der Romantik vermutet, übersieht den genuin aufklärerischen Impuls der Freud'schen Schriften und kennt vermutlich nicht den so gewichtigen wie imponierenden Beitrag, den schon die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zum Projekt einer "Seelenkunde" geliefert hat.

"Mit Zittern schreite ich zu der Ausführung eines Unternehmens, dessen Wichtigkeit und Nutzbarkeit mir von Tage zu Trage mehr in die Augen leuchtet... Was für ein Feld ist es, wohin sich meine unsichern Schritte wagen, welche unbetretne Pfade, welche Dunkelheit, welch ein Labyrinth!" Vom fremden Land der Seele sprechen diese Sätze. Mit ihnen eröffnete Moritz 1783 das "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde", mit dem er zu einem der Pioniere empirischer Psychologie avancierte.

Das Magazin, an dem sich jüdische Schriftsteller auffällig stark beteiligten, entwickelte Denkformen, die durch Freud im 20. Jahrhundert populär wurden. Davon zeugt schon die Emphase, mit der Moritz die prägende Kraft kindlicher Erfahrungen für den Erwachsenen hervorhob, die Spuren früher Kränkungen in Träumen und Fantasien suchte oder die Erinnerung an die eigene Kindheit zum therapeutischen Schlüssel befreiender Selbsterkenntnis erklärte. Im "Anton Reiser", den das Magazin in Auszügen vorveröffentlichte, finden sich sogar Zusammenhänge von Unbewusstheit und Verdrängung klar erkannt. "Reisers Leidensgeschichte", so liest man, solle das bewusst machen, "was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch, ihnen selbst unbewusst, und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen".

Karl Philipp Moritz, den Jean Paul treffend ein "Grenz-Genie" nannte, war mit dem Mut dessen, der sich seines eigenen Verstandes zu bedienen wagte, Pionier auf vielen Gebieten gleichzeitig. "Anton Reiser", von Arno Schmidt als die "grandioseste, nicht nur der deutschen, sondern aller Selbstbiographien" gepriesen, gilt als eines der frühsten Beispiele des "psychologischen Romans". Moritz' "Andreas Hartknopf" hat man als "ersten symbolischen Roman der deutschen Literatur" bezeichnet. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi wertete die ästhetische Theorie von Moritz, die mit dem Postulat des autonomen Kunstwerks der Weimarer Klassik vorgearbeitet hatte, als epochales Ereignis. Goethe, der in Moritz seinen "jüngeren Bruder" sah, "von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin", begrüßte dessen erstmals auf die Eigenarten der deutschen Sprache zugeschnittene Verslehre als "Leitstern" für die eigene dichterische Praxis.

Die Reihe solch Achtung gebietender Äußerungen ließe sich fortsetzen. Seit den 1970er Jahren mit ihren Vorlieben für das autobiografische Schreiben, für einen zeitkritischen Psychologismus und eine psychotherapeutisch motivierte Literatur der Selbsterfahrung ist Moritz zu einem nachgerade modischen Autor geworden.

Der "Anton Reiser", in dem er mit dem distanzierten Blick des "moralischen Arztes" die Leidensgeschichte seiner eigenen Kindheit und Jugend erzählte, das Drama eines begabten Kindes, das durch die "bürgerlichen Verhältnisse" und eine verhängnisvolle Kette sozialer Kränkungen daran gehindert wird, ein stabiles Selbstbewusstsein auszubilden - dieser Roman wurde seit 1970 vielfach neu verlegt und von Literaturwissenschaftlern zum Gegenstand unermüdlicher, zum Teil vorzüglicher Forschungen gemacht. Die editorischen Bemühungen um Moritz waren bislang nur zum Teil erfolgreich. 1981 erschien eine Werkausgabe in drei Bänden. Zwei Jahre vorher schon brachte man das zehnbändige "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" in einem Faksimiledruck heraus - gleichsam als historische Entsprechung zu den damals kursierenden "Verständigungstexten". Hatte Moritz doch mit der Gründung seines Magazins die bürgerliche Öffentlichkeit zur Beteiligung an einer großen Selbsterfahrungsgruppe eingeladen, in der jeder aufgefordert war, den anderen von seinen Träumen, Krankheiten oder Heilungserlebnissen zu erzählen. Die seit 1986 erscheinende Ausgabe der "Schriften in dreißig Bänden" blieb ein Fragment. Ende der 1990er Jahre legte der Deutsche Klassikerverlag eine von Heide Hollmer und Albert Meier herausgegeben Werkausgabe in zwei Bänden vor. Bleibt zu hoffen, dass die seit 2005 erscheinende Edition "Sämtlicher Werke", von der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften betreut und auf 13 Bände angelegt, uns in absehbarer Zeit den ganzen Moritz philologisch fundiert zugänglich macht.

Wie faszinierend die Auseinandersetzung mit Moritz sein kann und was Literaturwissenschaft zu leisten vermag, zeigte schon vor zwei Jahrzehnten etwa die erhellende Arbeit des Literaturwissenschaftlers Lothar Müller ("Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis"), der 2006 als Herausgeber eines "Karl Philipp Moritz-ABC" an seine früheren Forschungen anknüpft. Im Zentrum seiner 1987 erschienenen Monografie stand ein weiteres Mal der "Anton Reiser", doch weitete sich das Buch aus zu einem kulturgeschichtlichen Panorama des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Was die Erfahrungsseelenkunde mit der naturwissenschaftlichen Mikroskopie, mit der Anatomie oder der populären Physiognomik zu tun hat; was die medizinische Psychologie des Romans von der Seelenschau mystischer Theologie unterscheidet; was es in medizingeschichtlicher Perspektive zu besagen hat, wenn sich Anton Reiser im Roman zum Melancholiker stilisiert, der Erzähler ihn aber zum Hypochondristen verkleinert; wie sich die romantische Medizin zur Erfahrungsseelenkunde der Aufklärung verhält; worin Reiser seinen zahlreichen Verwandten gleicht, deren kranke Seelen die damalige Literatur bevölkern: dem Major von Tellheim in Lessings Komödie, dem Werther, der "schönen Seele" im sechsten Buch des "Wilhelm Meister" oder den pathologischen Figuren Tiecks, Jean Pauls, E.T.A. Hoffmanns und Bonaventuras - solches und vieles mehr erörterte Lothar Müller auf bestechendem Niveau, mit klarer Sprache und in ständiger Bereitschaft zum Dialog mit der bisherigen Forschung.

Moritz ist von manchen Interpreten zum Vorläufer romantischer Seelenvorstellungen erklärt oder säkularisierten Traditionen pietistischer Selbstbeobachtung zugeordnet worden. Er war indes ein Schriftsteller, der sich zwar von moralistischen Tugendwächtern und den Dogmatikern rigoroser Rationalitätsgläubigkeit deutlich distanzierte, aber der Aufklärung stets eng verbunden blieb.

Die in den 1980er Jahren gerne "postmodern" genannte "Vernunftkritik" stellt ihren "modernen" Gegner als einen Aufklärer dar, der mit destruktiven Herrschaftsansprüchen die innere und äußere Natur des Menschen rationaler Kontrolle unterwirft und alle "krankhaften" Abweichungen von der Norm aus dem Territorium "gesunder" Vernunft ausgrenzt. Moritz repräsentierte einen anderen Typus: Einen, der nicht an strikten Grenzziehungen, sondern an den fließenden Übergängen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit interessiert ist; der den Begriff der Gesundheit nicht in den Dienst allgemeiner Moralprinzipien stellt, sondern betont, "daß ein jeder Mensch nach dem ihm eigenen Maß seiner Seelenfähigkeiten, auch seinen eigenen Seelengesundheitszustand habe"; der sich, bereit zu andauernder Selbstkorrektur, dem "Hinarbeiten auf ein festes System" sowie der "Sucht" widersetzt, für alles Unverständliche gleich Erklärungen zu liefern.

Die Aufklärung des Menschen über sich selbst, wie sie Moritz zum Programm machte, war nicht von dem Willen zur Macht diktiert, sondern hatte defensiven Charakter. Geboren aus der Not einer beschädigten Existenz, suchte sie Heilung, betrieb die gemeinschaftliche Befreiung vom Druck des Leidens unter kranken Verhältnissen. So wie viele seiner Werke blieb auch sein Leben ein Fragment. Moritz starb im Alter von 36 Jahren. Die Form von psychologischer Aufklärung, die er repräsentierte, blieb ein unvollendetes Projekt.