Und im Fernsehen watscheln die Pinguine

„Natürlich kann man hier nicht leben“, stellt Özge Inan in ihrem gleichnamigen Roman über die Türkei fest

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2023 ist nicht nur das Jahr, in dem eine Handvoll Romane die deutsch-türkische Gegenwartsliteratur neu ausrichtet und damit für Aufsehen sorgt: Der Gastarbeiter ist nicht mehr allein im Mittelpunkt der Texte. Neben der Arbeitsmigration machen Necati Öziris Roman Vatermal (2023), Fikri Anıl Altıntaş Ethnobiografie Im Morgen wächst ein Birnbaum (2023) und nun auch Özge Inans Debüt Natürlich kann man hier nicht leben die politisch motivierte Flucht aus der Türkei seit dem Militärputsch 1980 zum Thema. Die Väter der jeweiligen Hauptfiguren werden in der Türkei von einem autokratischen Regime verfolgt und suchen in Deutschland Schutz und Meinungsfreiheit.

Dass die in Deutschland geborene 16-jährige Nilay, wie der Klappentext des Romans suggeriert, „in der Hoffnung anderswo frei zu sein“ in das politisch unverbesserliche Land reisen möchte, ist gegenüber einer Elterngeneration, die vor Jahrzehnten, wenn nicht sofort inhaftiert, ins Exil gezwungen und ihrer Lebensgrundlage beraubt wurde, eigentlich ein gewaltiger Affront. Nilays Wut über die vermeintliche Gleichgültigkeit, mit der die Eltern Selim und Hülya den Protesten in zivilgesellschaftlichem Widerstand gegen die Regierenden im Istanbuler Gezi-Park begegnen, führt zu ihrer spontanen Entscheidung, zur Unterstützung der Bewegung selbst von Berlin nach Istanbul zu fliegen. Die Rahmenhandlung des Romans kommt allerdings über die skizzenhafte Entfaltung dieser plötzlichen Eingebung der Protagonistin und ihres Zwiegesprächs mit dem Bruder kaum hinaus, als die Binnenerzählung ohne Überleitung und mit einem spontanen Orts- und Zeitwechsel einsetzt. Nicht die Türkei des Jahres 2013 und Nilays Wahrnehmung der elterlichen Heimat ist dabei das Thema, sondern ganz und ausschließlich die Geschichte ihrer Eltern.

Eine lineare Rückblende berichtet etwas unmotiviert und neutral darüber, wie sich ihre Eltern während des Studiums kennen lernten, politisch aktiv wurden und schließlich der Türkei den Rücken kehren mussten. Zwar wird in der Rahmenerzählung von ihrem Bruder betont, dass Nilay doch wüsste, was aus den Hoffnungen des Vaters Selim für die Türkei im Laufe der Jahrzehnte wurde, aber als Erzählerin, Kommentatorin oder Adressatin dieser Geschichte tritt sie dennoch nicht in Erscheinung.

In und um Izmir herum wachsen Selim und Hülya in eine junge, linke Studierendenbewegung hinein und erleben nach dem Militärputsch von 1980, wie mit staatlicher Gewalt, einer Verhaftungswelle, Folterungen, Todesurteilen und dem Verbot von Gewerkschaften, Stiftungen, freier Presse und freier Meinung eine politische Neuordnung, die eigentlich einen Rückschritt darstellt, erzwungen wird. Mehrere Familienmitglieder werden in Nacht- und Nebelaktionen abgeholt und bleiben ohne Angabe von Gründen jahrelang inhaftiert. Kritischer Journalismus wird in den Untergrund gezwungen. Verrat und Denunzierung bestimmen den Alltag, (anders) denkende Menschen sind in dieser Türkei nie und nirgends sicher.

Die junge Hülya fällt Selim zum ersten Mal mit einer flammenden Kampfrede zum Weltfrauentag und ihrem bedingungslos harten, feministischen Kurs auf. Sie steht bei der Eskalation der Polizei im Reizgasnebel mutig neben ihm. Er ist der erste, der sie, die es nicht ertragen kann, „dass sämtliche Zügel dieses Landes in den Händen der dämlichsten und langweiligsten Männer liegen“, wegen ihrer Klugheit schätzt und sie nicht nur hübsch findet. Gemeinsam kämpfen sie für eine freiheitliche, lebenswerte Türkei, bis Hülya schwanger und das Aktivist*innenpaar dadurch verwundbar wird. Als Selim wegen „Beihilfe zur Terrorpropaganda“ angeklagt werden soll, seinen Job verliert und ihm fünf Jahre Gefängnis drohen, entscheidet, plant und rechtfertigt er die Flucht nach Berlin über den Kopf seiner selbstbewussten Frau hinweg. Er stellt ihr und sich die Frage, „ob wir unserem Kind dieses Land zumuten können“, wo er nicht ohne Angst arbeiten und leben kann. Sie möchte bleiben, fügt sich aber seinem Willen.

Die unausweichliche Flucht nach Berlin verändert beide. Hülya, die ihrer älteren Schwester einst vorwarf, dass diese nur Mutter und Hausfrau sein und keinen Beruf lernen will, bekommt nun selbst ein zweites Kind, die Tochter Nilay. Die einstige Medizinstudentin und Frauenrechtlerin bringt es ‚lediglich‘ zur pharmazeutisch-technischen Assistentin, während sich ihr Engagement auf den Türkischen Frauenverein in Berlin beschränkt. Und sie weint heimlich.  

Aus Nilays Sicht sind ihre Eltern gescheitert, wenngleich ihnen ihre Werte, die Freiheit und das Miteinander, wichtiger waren als alles andere. Während es die aufgebrachte Tochter wütend macht, dass der Fernsehsender CNN Türk die Unruhen in Istanbul ausblendet und eine Dokumentation über Pinguine zeigt, knabbert ihr Vater seelenruhig Pistazien:

Du weißt, wir kennen das schon […]. Die Leute gehen auf die Straße, der Staat tut so lange, als wäre nichts, bis es knallt, dann ist eine Weile Ruhe, und es geht wieder von vorne los.

Natürlich kann man hier nicht leben zieht Parallelen über die Emotionen zweier Generationen zwischen den politischen Wirrungen zweier bedeutender Jahrzehnte in der Türkei. Es geht um das Land, das man liebt, zu dem man sich hingezogen fühlt, weniger um die zu erwartende Auseinandersetzung mit historisch-politischen und kulturellen Zusammenhängen eines wichtigen Kapitels türkischer Geschichte. Özge Inan kann erzählen, Spannung erzeugen und streckenweise halten, aber bleibt in vielerlei Hinsicht eine Erklärung schuldig. Die dialogisch aufbereitete Handlung schreitet dynamisch voran, lässt hingegen eine inhaltliche Tiefe vermissen. Ein Roman mit einem derart brisanten Thema (auch für die deutsche Gesellschaft), von einer Autorin, die sich mit Recherche und Schreiben, vor allem aber mit Frauenrechten, linker Ideologie und deutsch-türkischem Befinden auskennt, hätte mehr Substanz und ja, auch mehr literarische Finesse verdient.

Titelbild

Özge İnan: Natürlich kann man hier nicht leben.
Piper Verlag, München 2023.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492071680

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