Auf Kollisionskurs in Küsnacht

Der zweite Band von Tilo Eckardts Roman-Reihe um das Ermittlerteam Mann & Müller nimmt seine Leserinnen und Leser mit ins Schweizer Exil des berühmten Schriftstellers

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unheimliche Gesellschaft beginnt da, wo Gefährliche Betrachtungen (2024), der erste Band um das wunderbar erfundene Ermittlerpärchen Thomas Mann und Žydrūnas Miuleris, von Mann der Einfachheit halber Müller genannt, aufhörte: rund um das Niddener Sommerhaus der Familie Mann auf der Kurischen Nehrung. Da waren sich der Autor und sein litauischer Fan und Übersetzer zum ersten Mal begegnet und hatten als Detektivgespann Mann & Müller ganz im Stile ihrer Vorbilder Holmes & Watson den Fall um ein verschwundenes Redemanuskript des Schriftstellers gelöst.

Inzwischen sind fast drei Jahre ins Land gegangen und aus dem, was Thomas Mann in seiner am 17. Oktober 1930 im Berliner Beethoven-Saal gehaltenen Deutschen Rede lediglich befürchtet hatte, ist vor Kurzem traurige Realität geworden. Die Nazis sind an die Macht gelangt und haben viele ihrer erklärten Gegner mundtot gemacht oder ins Exil gezwungen. Doch auch in der neutralen Schweiz ist man keineswegs sicher. Und deshalb kommt es schon bald zur Wiedervereinigung des erfolgreichen Detektivpärchens – diesmal in Küsnacht am Zürichsee, wo sich Thomas Mann und die Seinen in der Schiedhaldenstraße im Herbst 1933 in eine herrschaftliche Villa eingemietet haben.

Hier trifft der per Telegramm um eilige Hilfe gebetene Miuleris auf einen väterlichen Freund, der sich sehr verändert hat. Geradezu abgemagert kommt Thomas Mann ihm vor, genervt von einem Exil, in dem das Fehlen seiner peniblen heimischen Ordnung seinen Arbeitsalltag erheblich beeinträchtigt. Und weil seine Frau Katia direkt vor ihrem Wohnsitz ihren zahlreichen Verkehrsdelikten noch einen Crash mit Personenschaden hinzugefügt hat, indem sie einem unvermittelt aus einem Gebüsch herausspringenden Mann mit ihrem Peugeot-Automobil nicht mehr auszuweichen vermochte, muss der Schriftsteller sogar befürchten, dass der Weg der ohne gültige Papiere aber voller fahrerischem Selbstbewusstsein die Straßen rund um Küsnacht unsicher Machenden sie über kurz oder lang für einige Zeit ins Gefängnis führen wird. Was soll dann wohl aus einem Schriftsteller werden, der sich um die Dinge des Alltags noch nie gekümmert hat, weil seine Frau das von jeher auf sich nahm? Also: Müller, hilf!

Doch der kann sich zunächst einmal nur wundern: Hat er tatsächlich sein letztes Gespartes geopfert, seine geliebte Dalia in Königsberg zurückgelassen und ist durch halb Europa in die Schweiz gereist, nur um einer außer Rand und Band geratenen Autofahrerin aus der Klemme zu helfen? Und ist es tatsächlich in Katia Manns und den ihren Fahrkünsten ausgelieferten Mannʼschen Familienmitgliedern Interesse – „Sie fuhr zu meinem blanken Entsetzen nicht nur deutlich zu schnell, sie schien auch allerhöchstens zehn Meter vorausschauen und dabei ausschließlich geradeaus fahren zu können.“ –, wenn man sich dafür einsetzt, eine durchaus verdiente Strafe von ihr abzuwenden?

Was mit dieser Gewissensfrage für Müller ganz harmlos beginnt, nimmt freilich nur allzu bald eine gefährliche Wendung. Denn obwohl sich der aus Hitlerdeutschland geflohene Nobelpreisträger in seinem Schweizer Exil in Sicherheit zu befinden scheint, wird bald nur zu deutlich, dass Agenten der Gestapo ihre Gegner auch über die deutschen Grenzen hinaus verfolgen. Dabei hat man es nicht nur auf den weltberühmten Schriftsteller abgesehen, sondern auch auf andere Gegner Nazideutschlands, die sich – wie der heute kaum noch bekannte Hitlerbiograph Konrad Heiden, der in Eckardts Buch eine wichtige Rolle spielt – um den von dem Züricher Buchhändler Emil Oprecht als Anlaufstelle für alle verfolgten Autoren 1933 ins Leben gerufenen Europa Verlag scharen.

Dass andererseits die Nazi-Ideologie auch in dem Alpenland mehr und mehr Anhänger findet, wird Müller spätestens in dem Moment klar, als er gemeinsam mit Thomas Mann und dessen Tochter Erika vor dem Züricher Hotel Zum Hirschen einer aufgehetzten Menschenmeute gegenübersteht. Die will eine Aufführung des von den zwei ältesten Mann-Kindern gegründeten und von München nach Zürich emigrierten Kabarett-Ensembles der Pfeffermühle verhindern, muss aber schnell erkennen, dass „Geschrei, Aufmärsche, hochgerissene Arme und Parolengebrüll“ bei den Schweizerinnen und Schweizern noch lange nicht im selben erschreckenden Maße funktionieren wie sie das auf den Straßen und Plätzen Deutschlands tun.

Auch für Müller verlaufen die Küsnachter Abenteuer, in deren Verlauf er ganz nebenbei nicht nur in das komplizierte Ordnungssystem von Thomas Manns Bibliothek Einblick erhält, sondern auch der unweit des Mann-Wohnsitzes ihre Landwirtschaft betreibenden Familie Schmid bei der Kartoffelernte zur Hand geht, nicht ohne Gefahr für Leib und Leben. Doch wenn es wirklich darauf ankommt, ist Mann für Müller natürlich genauso da wie Müller für Mann. Und wenn es doch einmal nach einer völlig verfahrenen Situation aussehen sollte, dann ist ja immer noch Ludwik da, der „südrussische Owtscharka von der Größe eines kleinen Eisbären“. Miuleris hat den Hund von seiner Niddener Pensionswirtin anvertraut bekommen, nachdem deren Haus einem Brandanschlag deutscher Agenten zum Opfer gefallen war. Und nachdem Ludwik seine Nützlichkeit bereits in Gefährliche Betrachtungen unter Beweis stellen konnte, ist er auch diesmal im richtigen Moment am richtigen Ort.

Tilo Eckardt hat die Geschichten seines über hundertjährigen Mann-Verehrers und -übersetzers geschickt in eine Rahmenhandlung eingebettet, in der Müllers Urenkel Jonas die entscheidende Rolle spielt. Der schafft für den Alten nicht nur die technischen Voraussetzungen, um seine Abenteuer mit dem weltberühmten Schriftsteller für die Nachwelt festzuhalten, sondern animiert den Urgroßvater mit seinen Fragen und Anmerkungen auch dazu, dem ersten Abenteuer ein zweites folgen zu lassen. Für ihn, Miuleris‘ „Erstleser“, ist Thomas Mann einerseits „so berühmt wie die Frau, die Harry Potter geschrieben hat“, andererseits aber auch ein „ziemlich eingebildeter Typ“. Doch weil der Urgroßvater Geschichten kennt, „von denen keiner der Abertausenden Gelehrten und Studenten, die sich seit Jahrzehnten mit Leben und Werk des großen Mannes beschäftigen“, je gehört hat, sollen sie der Welt auch nicht vorenthalten bleiben.

Noch ein bisschen mehr als im ersten Band rund um das Detektivgespann Mann & Müller hat Tilo Eckardt deren zweites gemeinsames Abenteuer in der Zeit verankert. Und der deutsch-schweizerische Lektor, Verleger, Autor und Literaturagent versteht es erneut ganz vortrefflich, die Atmosphäre jener Zeit in seinem Roman heraufzubeschwören. So dass man als Leserin oder Leser gelegentlich ganz vergisst, dass die Geschichte, der man so amüsiert wie gespannt folgt, sich aus Historischem und Erdachtem zusammensetzt und einen erfundenen litauischen Literaturliebhaber und Übersetzer gemeinsam mit einem bis in seine Diktion hinein ganz und gar echt wirkenden Thomas Mann auftreten lässt. Dass dessen menschliche Qualitäten den schriftstellerischen nicht vollständig entsprachen, weiß man natürlich, bekommt es von Eckardt aber noch einmal in einigen mit viel Humor garnierten Episoden so charmant erzählt, dass es schade wäre, wenn die gemeinsame Geschichte von Mann & Müller bereits nach deren zweitem Abenteuer enden würde.

Titelbild

Tilo Eckhardt: Unheimliche Gesellschaft. Die Affäre Thomas Mann. Kriminalroman.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2025.
304 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783426560211

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