Mord an Mittsommer

Mit „Refugium“ legt der schwedische Autor John Ajvide Lindqvist den ersten Teil einer geplanten Thriller-Trilogie vor, der an die „Millennium“-Serie seines 2004 verstorbenen Landsmannes Stieg Larsson erinnert

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die postum erschienene Millenium-Trilogie des 2004 verstorbenen schwedischen Journalisten und Autors Stieg Larsson genießt nicht nur im Norden Europas einen legendären Ruf, der an den der zehn Bände (1965 – 1975) des unter dem Titel Roman über ein Verbrechen erschienenen Romanzyklus von Maj Sjöwall (1935 – 2020) und Per Wahlöö (1926 – 1975) durchaus heranreicht. Kein Wunder deshalb, dass sie auch gleich zu Beginn von John Ajvide Lindqvists Refugium eine wichtige Rolle spielt. Denn auf dessen Hauptfigur, die Expolizistin und erfolgreiche Schriftstellerin Julia Malmros, ist das begehrte Los gefallen, die Abenteuer von Larssons nicht zuletzt durch mehrfache Verfilmungen weltweit bekannt gewordenen Charakteren Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander mit einer – nach den drei Romanen von David Lagercrantz um den Investigativjournalisten und die Hackerin – dritten Trilogie fortzuschreiben. Nur leider: Was Malmros ihrem Verlag als Plot des die Serie eröffnenden Romans anbietet, ist in den Augen einer ebenso ehrgeizigen wie hinterhältigen Lektorin ungeeignet und wird rundweg abgelehnt.

Als die Bestsellerautorin sich daraufhin gekränkt in ihr kleines Sommerhäuschen auf Tärnö in Stockholms Schärengarten, dem beliebten Domizil der hauptstädtischen Prominenz, zurückzieht, muss sie am Mittsommerabend erleben, wie auf einer Nachbarinsel ein Freund aus Kindheitstagen mitsamt seiner Familie und seinen Partygästen brutal ermordet wird. Allein die vierzehnjährige Tochter der Helanders, Astrid, kommt mit Verletzungen davon. Als Julias Ex-Mann Johnny Munther mit seinem Stockholmer Team die Ermittlung in dem Mordfall übernimmt, fühlt Lindqvists Heldin sich ihrem alten Freund und dessen traumatisierter Tochter gegenüber allerdings weiterhin so verbunden, dass sie beschließt, auf eigene Faust Ermittlungen in dem Fall zu unternehmen.

Und sie hat noch ein ganz besonderes Ass im Ärmel. Denn um sie bei ihren Millennium-Recherchen zu unterstützen, hat sie den gut 20 Jahre jüngeren, unkonventionellen Hacker Kim Ribbing engagiert. Weil dem besonders das weitere Schicksal der nun elternlosen Astrid Helander am Herzen liegt, da es seinem eigenen gleicht, und sich zwischen ihm und Julia von Beginn ihrer Bekanntschaft an eine ganz besondere Beziehung entwickelt hat, hilft er der Schriftstellerin mit seinen nicht immer ganz legalen Methoden und in die internationale Hackerszene reichenden Beziehungen.            

John Ajvide Lindqvist (Jahrgang 1968) hat eine bewegte Vergangenheit. Der in Stockholm geborene schwedische Bestsellerautor arbeitete zunächst als Straßenkünstler, Zauberer, Stand-up-Comedian und Drehbuchautor, bevor er sich mit dem Schreiben von Horrorromanen einen Namen machte. Bereits sein erster Versuch in diesem literarischen Genre – So finster die Nacht (2004, deutsche Ausgabe 2007) – machte ihn über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus bekannt und wurde sowohl in Schweden wie auch kurze Zeit später in den USA verfilmt. Heute hat Lindqvist Leser und Leserinnen in mehr als 30 Ländern, darunter auch der von ihm verehrte Stephen King. Mit Refugium, dem ersten Teil einer geplanten Trilogie mit dem übergreifenden Originaltitel Blodstormen macht sich der Autor nun daran, auch auf dem Gebiet der Spannungsliteratur mit den weltweit Besten zu konkurrieren. Und es beginnt durchaus verheißungsvoll.

Dass sein Roman geschickt mit Elementen der Millennium-Trilogie spielt – Lindqvist selbst soll, bevor die Wahl auf David Lagercrantz fiel, im Gespräch gewesen sein, was einen Autor für die Fortsetzung der drei Larsson-Romane betraf – ist mehr als offensichtlich. Das Heldenduo aus Verblendung (2006), Verdammnis (2007) und Vergebung (2008) erscheint in Refugium praktisch auf den Kopf gestellt. Aus dem engagierten Reporter Mikael Blomkvist ist die erfolgreiche Thrillerautorin Julia Malmros geworden. Die Rolle der exaltiert-genialen Hackerin Salander übernimmt Kim Ribbing. Auch ihm hängt eine Vergangenheit an, die in seinem narbenübersäten Körper – bei Lisbeth Salander waren es Tattoos – und seinem Hass auf einen Psychiater, in dessen Hände er nach dem Unfalltod seiner Eltern fiel, deutlichen Ausdruck findet. Als eifriger Leser der Summa theologica des Thomas von Aquin und emsiger Hörer von Schlagerschnulzen unterscheidet er sich fundamental von gleichaltrigen Zeitgenossen. Und auch die Liebesbeziehung zwischen ihm und Julia kennt jene Aufs und Abs wie die zwischen Mikael und Lisbeth. Selbst dass es bei dem den Roman einleitenden Gemetzel an der Unternehmerfamilie Helander und ihren französischen und chinesischen Mittsommergästen letzten Endes um ein internationales Komplott geht, in dessen Mittelpunkt ein groß angelegter Betrug durch Manipulationen an Ölplattformen steht, in den sowohl chinesische Industrielle wie auch kubanische Regierungsvertreter verwickelt sind, erinnert an die Fälle mit internationaler Tragweite, an denen Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander sich abarbeiteten.

Was bei all diesen Ähnlichkeiten dennoch an Refugium überzeugt und auf die geplanten zwei Fortsetzungsbände gespannt macht, ist das handwerkliche Können, mit dem Lindqvist seine Geschichte entwickelt. Der Roman ist in neun Teile unterteilt, denen ein Prolog vor- und ein Epilog nachgeschaltet ist. Jeder dieser Abschnitte zerfällt in bis zu 25 durchnummerierte Unterkapitel. Deren Kürze – in der Regel bewegt sich ihr Umfang zwischen drei und sechs Seiten – bringt nicht nur Tempo in die Handlung, sondern erlaubt auch schnelle Perspektivwechsel von Julia zu Kim sowie – allerdings seltener – zu weiteren agierenden Personen. So gelingt es dem Autor, das, was Stieg Larsson gelegentlich vorgeworfen wurde, nämlich stilistisch unbeholfen zu Werke zu gehen, mit zahlreichen Klischees zu arbeiten und seine Romane durch unnötige Redundanzen aufzublähen, zu vermeiden. Letzteres mag freilich auch daran liegen, dass der Autor der Millennium-Trilogie vom Journalismus aus den Weg in die Literatur beschritt, während Lindqvist nur das Genre wechselte, sich mit seinen vorherigen Romanen aber bereits einen Stil erarbeitet hatte, auf den er bei seinem ersten Thriller aufbauen konnte.

Titelbild

John Ajvide Lindqvist: Refugium.
Aus dem Schwedischen von Franziska Hüther, Ricarda Essrich, Thorsten Alms und Hannes Langendörfer.
dtv Verlag, München 2023.

ISBN-13: 9783423443043

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