Schreiben um zu leben
Band 242 der Text+Kritik-Reihe widmet sich mit sieben Beiträgen der Schriftstellerin Natascha Wodin
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls im Jahre 2017 ihr Roman Sie kam aus Mariupol mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, rückte die am 8. Dezember 1945 in Fürth geborene Natalja Nikolajewna Wdowina, die sich als Schriftstellerin Natascha Wodin nennt, endgültig ins Epizentrum der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Tochter einer ukrainischen Mutter und eines russischen Vaters, beide zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt und nach dem Krieg als sogenannte „displaced persons“ aus Angst vor der sie in der Heimat erwartenden stalinistischen Verfolgung weiterhin in der Fremde geblieben, hatte sich da bereits seit 1980 eine neue Heimat in der Literatur erobert. In die konnte sie weder ihre Mutter, die sich, als die Größere ihrer beiden Töchter elf Jahre alt war, das Leben nahm, noch ihren Vater, einen alkoholsüchtigen, zur Gewalt neigenden Mann, der seine Kinder nach dem Tod ihrer Mutter in einem katholischen Mädchenheim in Bamberg unterbrachte, mitnehmen. Für sie selbst freilich wurde das Schreiben zur Rettung, zum Lebensersatz, wie sie immer wieder in ihren Romanen und Erzählungen betonte, die allesamt deutlich aus der Vita der heute 78-Jährigen schöpfen.
Mit dem Heft 242 der von Heinz Ludwig Arnold begründeten Text+Kritik-Reihe liegt nun eine Sammlung von Beiträgen vor, die verschiedene thematische Aspekte im Schaffen von Natascha Wodin beleuchten. Sie reichen von der Identifikation von „Bewegungsräumen“ im Werk einer Vertreterin der von Ottmar Ette so genannten „Literaturen ohne festen Wohnsitz“ (Lucia Perrone Capano) über Anmerkungen zum Verhältnis Wodins zu ihrem im Osten Deutschlands geborenen Schriftstellerkollegen und späteren Ehemann Wolfgang Hilbig (Hans-Christian Trepte) bis zu den Einlassungen Helmut Böttigers auf „Natascha Wodins deutsch-slawische Grenzverschiebungen“. Allein dreimal in dem Band ist die bereits als intime Kennerin des Werks von Wodin hervorgetretene Karlsruher Germanistin und Komparatistin Natalia Blum-Barth vertreten. Sie fungiert auch als Herausgeberin des Heftes und Gesprächspartnerin von Chrystyna Nazarkewytch, die sich in dem einzigen Interview der Publikation über Probleme bei der Übersetzung von Wodins Roman Sie kam aus Mariupol ins Ukrainische äußern darf. Ergänzt werden die sieben Einzelbeiträge durch eine fünfseitige Auswahlbiographie. Sie berücksichtigt dankenswerterweise auch jene Texte, die Natascha Wodin zwischen 1978 und 2007 für deutsche Leserinnen und Leser aus dem Russischen übersetzte.
Für Blum-Barth sind die meisten Figuren Wodins „Außenseiterexistenzen, die sich an der Grenze des Zumutbaren befinden“. Und auch wenn sie inspiriert sind von der eigenen Biographie der Autorin, ist ihre literarische Existenz doch eine, in der Wodin „ihre Angst und ihre Unlebbarkeit auslebt.“ Schreiben ist unter diesen Voraussetzungen alles andere als ein „Befreiungsakt“. Da es offensichtlich keine Erleichterung bringt, darf man es wohl am besten als einen „Kampf mit sich selbst“ verstehen, als „qualvolle Herausforderung und tödliche[n] Sog“, was mehr einer Krankheit und einer Kapitulation vor den Herausforderungen des Lebens gleicht.
Dass dabei der Sprache eine ganz besondere Bedeutung zukommt, zumal es sich bei Wodin um eine „geliehene“ Sprache handelt, in der sie, dabei einer ganz bewusst getroffenen Entscheidung für die Fremdsprache statt der Muttersprache folgend, schreibt, macht den Prozess ihrer schriftstellerischen Kreativität noch komplizierter. Umso erstaunlicher ihr souveräner Umgang mit dem Deutschen, die Sprachdichte, die ihre Texte erreichen, deren Metaphernreichtum und der Hang, mit Neologismen die Grenzen der erlernten Sprache immer weiter hinauszuschieben.
Setzt Helmut Böttiger sich auf eher essayistische Art und Weise – er hat seinem Text den schönen Titel Ukrainisches Regentropfenprélude gegeben und verzichtet anders als die Mehrzahl der Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes gänzlich auf Fußnoten – mit den „deutsch-slawischen Grenzverschiebungen“ im Werk der Autorin auseinander, indem er ihre Werke chronologisch unter dem Aspekt von deren „Auseinandersetzung mit Herkunft und Mentalität“ betrachtet, legt es die an der Universität Foggia Neuere deutsche Literatur lehrende Lucia Perrone Capano auf die Untersuchung der „transnationalen und transkulturellen Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa“ als den Kontext von Wodins Werken an. Dabei identifiziert sie Wodins Mutter-Buch Sie kam aus Mariupol als Versuch der Autorin, Geschichte „durch mikrohistorische Beschreibungen von Einzelfällen (anders) lesbar zu machen“. Interessant ist in diesem Zusammengang für die Autorin auch, dass Natascha Wodin ihr Buch, in dem es um das tragische Schicksal einer aus ihren ursprünglichen Lebenszusammenhängen gerissenen Ukrainerin in der Fremde geht, selbst an einem früheren Ort der Zerrissenheit geschrieben hat, einem See an der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland.
Auf die Tatsache, dass Wodins Werk durchzogen ist von intertextuellen Bezügen, macht in ihrem dritten Beitrag für diesen Band Natalia Blum-Barth aufmerksam. Da Wodin zunächst als Übersetzerin von russischer Literatur in Erscheinung getreten ist – neben Werken von Wenedikt Jerofejew, Jewgenia Ginzburg, Andrei Bitow und Natascha Medwedjewa übertrug sie übrigens auch acht Kriminalromane der russischen Spannungsautorin Aleksandra Marinina ins Deutsche –, ehe sie selbst zur Schriftstellerin wurde, sind es natürlich die Werke vieler Autoren aus diesem Kulturkreis, die mehr oder weniger deutlich in ihren eigenen Texten aufgerufen werden. Dazu zählen Jewgenij Samjatin, Vitalij Sjomin und Michail Bulgakow, also Autoren, die sich kritisch mit der sowjetischen Wirklichkeit auseinandersetzten, genauso wie die „Klassiker“ Puschkin, Gorki oder Anna Achmatowa. Dass auch intermedialen Bezügen, also Verweisen auf Werke der Musik oder Bildenden Kunst in Wodins Gedichten, Erzählungen und Romanen, große Bedeutung zuzumessen ist, lohnte ein noch genaueres Hinschauen auf diesen Aspekt ihres Werks.
Über das Verhältnis zwischen Natascha Wodin und Wolfgang Hilbig (1941 – 2007) schließlich schreibt Hans-Christian Trepte unter dem Fokus des in der Wodin-Forschung bis dato etwas vernachlässigten Themas der „ostdeutschen Befindlichkeiten“. Der Schriftsteller und die Schriftstellerin hatten sich 1986, als Hilbig mit einem Jahresvisum die DDR verlassen durfte, kennengelernt und waren von 1994 bis 2002 verheiratet. Sowohl der aus dem thüringischen Meuselwitz stammende Hilbig als auch Natascha Wodin fiktionalisierten ihre schwierige Paargeschichte in literarisch herausragenden Werken. Dabei sind Hilbigs Jahrhundertwende-Buch Das Provisorium (2000) wie auch Wodins zwei Jahre nach Hilbigs Tod erschienener Roman Nachtgeschwister (2009) weit mehr als nur autobiographisch inspirierte Erzählwerke, auch wenn sie intimste und zuweilen in ihrer unbedingten Offenheit und Ehrlichkeit nur schwer erträgliche Einblicke in das gemeinsame Leben der beiden geben.
Wer genauere Auskunft über das tragische Leben der Natascha Wodin wünscht, bevor er sich auf die Beiträge zu verschiedenen Aspekten ihres literarischen Werkes einlässt, sollte vielleicht mit der den Band beschließenden Laudatio zur Verleihung des Gisela-Elsner-Preises 2021 von Jörg Magenau beginnen. Dass Wodin „keine Erfinderin von Ereignissen, sondern eher eine Aufzeichnerin auch der eigenen Lebensgeschichte“ ist, wird darin festgestellt. Dies impliziert für Magenau auch, dass man sich der Erzählwelt der heute 79-Jährigen besser mit dem Begriff der ‚Autofiktion‘ als mit dem der ‚Autobiographie‘ annähern kann. Denn „erst wenn es erzählt wird, wird das Erlebte zu einem Leben und, indem es erzählbar geworden ist, von seiner bloßen Ereignishaftigkeit erlöst.“
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