Kampfkurs X und eines seiner Opfer
Akribisch hat der Journalist und Dokumentarfilmer Peter Wensierski in seinem neuen Buch „Jena-Paradies“ die drei letzten Tage im Leben des Matthias Domaschk rekonstruiert
Von Dietmar Jacobsen
Am Sonntag, dem 12. April 1981, starb der noch nicht ganz 24-jährige Matthias Domaschk in der Geraer Staatssicherheitsuntersuchungshaftanstalt. Erhängt mit dem eigenen Hemd am Heizungsrohr eines Verhörzimmers, wurde er gegen 14 Uhr aufgefunden. Domaschk hatte sich zwei Tage vorher mit einem Freund von Jena nach Berlin aufgemacht, um dort ein unbeschwertes Wochenende auf einer Geburtstagsfeier bei Bekannten zu verbringen, als die Staatssicherheit den Zug in Jüterbog anhalten ließ, um die beiden Männer an der Weiterreise zu hindern. Man unterstellte den bereits in zahlreichen anderen Fällen aktenkundig Gewordenen, den zur gleichen Zeit – 11. bis 16. April 1981 – unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in der Hauptstadt der DDR stattfindenden 10. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) mit Störaktionen torpedieren zu wollen. In einer Mischung aus Angst und Paranoia hatten die Thüringer Verantwortlichen deshalb beschlossen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden jungen Männer festsetzen und anschließend nach Jena zurückholen zu lassen.
Der seit 1979 als Journalist und Dokumentarfilmer für die ARD und den SPIEGEL aus der DDR berichtende Peter Wensierski (Jahrgang 1954) beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit den letzten Tagen im Leben eines Unangepassten. Dessen Freiheitsdrang brachte ihn von frühester Jugend an in Widerspruch zu denjenigen, die das Sagen hatten in einem Staat, der alles anders machen wollte als seine Vorgänger und dennoch letztlich untergehen musste, weil er sich in der Bereitschaft der in seinen Grenzen lebenden Bürgerinnen und Bürger, am selben Strange mitzuziehen wie die Ideologen an der Spitze, verschätzte.
Wensierski hatte sich bereits während seiner ersten Jahre als Berichterstatter aus der DDR intensiv für jene jungen Menschen interessiert, die „aus einer engen, spießigen und verlogenen Gesellschaft“ auszubrechen versuchten, wie er kürzlich in einem Interview bekannte. Zu ihnen gehörte auch jener 1981 nach einem 13-stündigen Verhör in der Geraer Untersuchungshaftanstalt umgekommene Matthias Domaschk, der verstärkt in seinen Fokus geriet, als er den 1983 in den Westen abgeschobenen Roland Jahn in die Redaktion des ARD-Magazins Kontraste holte.
Denn in den vielen Gesprächen mit Jahn, zu dessen politischer Genese der Fall Domaschk nicht unerheblich beigetragen haben dürfte, wurde Wensierski schnell bewusst, dass sich über das tragische Schicksal von Matthias Domaschk der Blick richten ließ auf die Suche der Angehörigen einer ganzen Generation nach einem freien, selbstbestimmten Leben. Einen letzten Anstoß zum vorliegenden Buch gab dann eine von Freundinnen und Freunden Domaschks – darunter dessen frühere Lebensgefährtin Renate Ellmenreich, mit der er eine gemeinsame Tochter hatte – geäußerte Bitte, sie publizistisch bei der Aufklärung der näheren Todesumstände, der sie sich seit 2015 im Rahmen einer vom Land Thüringen eingesetzten Arbeitsgruppe widmeten, zu unterstützen.
Fast wie ein Kriminalroman liest sich die Rekonstruktion der letzten drei Tage im Leben eines jungen Mannes, der von dem unbedingten Willen, ein ehrlicheres Leben zu führen als es ihm die engen Grenzen des Staates, in dem er aufwuchs, erlaubten, in die Opposition zu seinem Elternhaus und einer Gesellschaft getrieben wurde, die er als unfrei empfand. Domaschk, 1967 in Görlitz geboren, lebte ab Dezember 1970 in Jena. Eine berufliche Veränderung seines Vaters, dem als Hauptabteilungsleiter bei Carl Zeiss plötzlich die ganze Welt offenstand, hatte den Umzug bedingt. Bereits Mitte der 1970er Jahre geriet Matthias hier in den Fokus jener staatlichen Organe, die damit beauftragt waren, den autoritären Machtapparat der DDR um jeden Preis zu stützen. Als er sich deshalb zusammen mit seinem Freund Peter Rösch am Freitag, dem 10. April 1981, mit dem Schnellzug D 506 zu einer privaten Feier nach Berlin begeben will, schrillen in Jena sofort die Alarmglocken. Sollten die beiden jungen Männer etwa vorhaben, sich jenen Störenfrieden anzuschließen, die den am nächsten Tag in der Hauptstadt der DDR beginnenden 10. Parteitag der SED mit Protestaktionen zu begleiten drohen? Um das zu verhindern, unternimmt man daraufhin von Jena aus alles, um Domaschk und Rösch vom Erreichen ihres Reiseziels abzuhalten.
Jena-Paradies vollzieht mit großer Genauigkeit nach, was zwischen jenem Freitag, dem 10. April, und dem darauffolgenden Sonntag geschah. Als Leser sitzt man mit den beiden Männern im Zug, spürt die sich steigernde Beunruhigung in der Kreisdienststelle Jena des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) – schließlich will dort niemand vor den Genossen in Gera, der Bezirkshauptstadt, und Berlin als Angehöriger einer Abteilung dastehen, die sich von der Opposition immer wieder auf der Nase herumtanzen lässt –, erlebt, wie Rösch und Domaschk am Bahnhof Jüterbog von der Transportpolizei aus dem Zug geholt und nach einigem Hin und Her, das sich bis zum Abend des darauffolgenden Tages hinzieht, mit einem Barkas B1000 der Deutschen Volkspolizei in die MfS-Untersuchungshaftanstalt Gera überführt werden. Es ist der Ort, an dem Matthias Domaschk nach einem die halbe Nacht und den Sonntagmorgen andauernden Verhör gegen 14 Uhr am 12. April 1981 tot aufgefunden werden wird.
Wensierski hat für sein Buch mit mehr als 160 Zeitzeugen – darunter 30 ehemaligen MfS-Mitarbeitern – gesprochen und ca. 60.000 Seiten Aktenmaterial in mehreren Archiven durchgesehen und ausgewertet. Entstanden ist ein romanhaft angelegter Bericht über die letzten 36 Stunden im Leben eines jungen Menschen, der auf der Suche nach sich selbst und einer lebenswerten Alternative zum streng reglementierten Dasein jedes Einzelnen in der DDR war und sich auch offen dazu bekannte. Indem Jena-Paradies seinen Lesern aber nicht nur die Person Matthias Domaschk näherbringt, sondern auch deren Umfeld im weitesten Sinne in die Recherchen mit einbezieht, öffnet das Buch den Blick auf eine ganze Generation von unangepassten Jugendlichen, die aufgrund ihrer Sehnsucht nach all den Freiheiten, die in ihrer Welt unerreichbar waren, in Konflikte gerieten, die tragisch enden konnten, im Grunde aber unvermeidbar waren.
Mit großem kompositorischen Geschick versteht es der Autor, in seine minutiös aufgearbeitete Chronologie jener drei Tage im April – präzise Orts- und Zeitangaben bilden das Gliederungsgerüst der ersten drei Teile des Buchs – mehrere Rückblenden einzubauen, in denen die Leser mehr über die Jenaer Oppositionsbewegung, ihre Vernetzung mit Kirchenkreisen, der Musikszene und linksaktivistischen Gruppierungen aus der Bundesrepublik erfahren. Wie radikal von Seiten des Staates mit Menschen umgegangen wurde, die nicht mehr den guten Glauben ihrer Vorgängergeneration an die „schöne neue Welt“ besaßen, sondern auf der Suche nach Freiheit und neuen Werten waren, machen vor allem jene Seiten deutlich, auf denen der brutale Polizeieinsatz gegen junge Frauen und Männer bei einer Verlobungsfeier in der Jenaer oppositionellen Szene am 18. Januar 1975 geschildert wird.
Nicht zuletzt gilt Wensierskis Interessse aber auch all jenen, die sich an der Aufrechterhaltung des sich „sozialistisch“ nennenden Status quo zwischen Rostock und Karl-Marx-Stadt, Frankfurt/O. und Magdeburg beteiligten, einem Personenkreis, der weit über die Angehörigen des Unterdrückungsapparates der Staatssicherheit hinausging. Denn ohne den Rückhalt bei staatlichen Institutionen, Verwaltungen, Schulen, Polizei, Armee und gesellschaftlichen Verbänden aller Art wäre die Stasi „eigentlich machtlos gewesen“, wie der Autor in dem eingangs erwähnten Interview, in dem er Auskunft über seine Recherchearbeit gibt, betont hat.
Mit dem Tod von Matthias Domaschk endet Jena-Paradies freilich nicht. Denn Die Tage danach und Die Jahre danach, wie die letzten beiden kurzen Buchteile überschrieben sind, haben es ebenfalls verdient, in Erinnerung gerufen zu werden. Weil gerade der Fall Domaschk – allen Versuchen staatlicher Stellen zum Trotz, schnell Gras über das Geschehene wachsen zu lassen – die Widerstands- und Protestbewegung in Jena eher noch stärker und radikaler werden ließ als zuvor. Und auch das Gedenken an einen, dessen Urne man hastig und unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Grab der älteren Schwester beisetzte, starb nicht so schnell und hält im Grunde bis heute an. Lieder erinnern an den jungen Mann, Traueranzeigen erscheinen in örtlichen Zeitungen am ersten Jahrestag seines Todes, eine Gedenkskulptur des Bildhauers Michael Blumhagen steht vier Tage auf dem Jenaer Johannisfriedhof, bis sie von der Stasi entfernt wird.
Wensierski hat seinem Buch ein informatives Nachwort, ein Abkürzungsverzeichnis sowie ein Verzeichnis der Vor- und Spitznamen jener Jenaer oppositionellen Männer und Frauen beigegeben, die in seinem dokumentarischen Bericht auftreten. Dem Resümee, mit dem er sein Nachwort enden lässt, können sich sicher nicht nur all jene anschließen, die Matthias Domaschk zu seinen Lebzeiten kannten: „Auch wenn er sein Hemd dazu genommen hat: Matthias beging keinen Selbstmord. Er wurde in den Tod getrieben, und viele waren beteiligt.“
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