Das Schweigen der Fische

Natascha Wodins fünf Erzählungen in „Der Fluss und das Meer“ sind Sprachkunstwerke von existentieller Dringlichkeit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihren autofiktionalen Romanen Sie kam aus Mariupol (2017) und Irgendwo in diesem Dunkel (2018) hat sich die große Erzählerin Natascha Wodin endlich jenen Platz in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur erschrieben, der ihr schon lange gebührte. Erzählte sie zunächst die Geschichte ihrer Mutter, einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, die als „displaced person“ im Nachkriegsdeutschland keinen Platz fand und freiwillig in den Tod ging, näherte sie sich in dem ein Jahr später veröffentlichten Kontrastband auf schonungslose Weise dem Leben ihres Vaters. Beide Texte rückten nicht nur das Leid jener Menschen ins öffentliche Bewusstsein, die, von den Nazis aus ihren Ländern verschleppt und zur Zwangsarbeit in der deutschen Rüstungsindustrie gepresst, nach dem Weltkrieg praktisch heimatlos waren. Sie offenbarten zudem das außerordentliche schriftstellerische Talent ihrer Autorin, die, nachdem sie lange Zeit als Übersetzerin ihre Brötchen verdient hatte, relativ spät, mit knapp 40 Jahren, zum Schreiben fand. Von Anfang an freilich – Wodin debütierte 1983 mit der Erzählung Die gläserne Stadt – zeichnete ihre eng mit der eigenen Biographie verbundenen Texte jene existentielle Dringlichkeit aus, jenes in der Sprache einen Ort-für-sich-Suchen, was ihr in ihrer Lebenswirklichkeit nicht gelingen wollte, und das ihre Romane und Erzählungen zu etwas ganz Besonderem werden ließen: zu Literatur als Überlebenshilfe.

Der Geburtsort ihrer Mutter – die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer – ist auch in der ersten von fünf Erzählungen wieder präsent, die Natascha Wodins aktueller Band Der Fluss und das Meer enthält. Natürlich ist sich die Autorin bewusst, dass ihre deutschen Leserinnen und Leser mit dem Namen Mariupol nach den Tragödien im Gefolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine heute mehr verbinden als noch zur Zeit des Erscheinens ihres 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrten Romans. Die „Stadt, deren Namen bis vor Kurzem niemand kannte und die jetzt Weltruhm erlangt hat als Mater dolorosa der überfallenen Ukraine“, dreifach zerstört in einem Jahrhundert – zuerst durch Revolution und Bürgerkrieg, dann durch die deutsche Wehrmacht und schließlich heute „durch die Bomben eines wahnsinnigen russischen Hegemons“ – wird in dem kurzen Text nahezu identisch mit der jungen Frau, die einstmals aus ihr kam, um nie wieder zu ihr zurückzufinden.

Mariupols Zerstörung im Jahr 2022 ist für Wodin deshalb gleichbedeutend mit dem „dritte[n] Mordversuch an meiner Mutter“. Und mit ein paar Tropfen Wasser des fränkischen Flüsschens Regnitz, die über den Rhein-Main-Donau-Kanal irgendwann ins Asowsche Meer gelangen könnten, lässt Natascha Wodin die Frau, die in der Regnitz ihren Tod fand, erzählerisch zurückkehren an die Orte ihrer verlorenen Kindheit.

Zwei kurze und drei längere Texte enthält Der Fluss und das MeerVier von ihnen sind bereits zwischen 2001 und 2023 an verschiedenen Orten erschienen und wurden für ihre erneute Veröffentlichung überarbeitet. Die den Band beschließende – zugleich auch seine längste – Erzählung, Les Sables-d’Olonne, ist neu. Mit tragischen Konstellationen konfrontieren sie alle den Leser. Da ist etwa jene verwahrloste Frau Meisinger, an die sich die Erzählerin von Nachbarinnen wendet, wohl in der Absicht, ein (zu) spätes Verzeihen für die Gleichgültigkeit zu erwirken, mit der man einst tatenlos zugesehen hat, wie ein Mensch, neben dem man wohnte, zugrunde ging.

Aber auch der fast manische Einsatz für einen nach einem Selbstmordversuch entmündigten und hinter den Mauern einer psychiatrischen Anstalt festgehaltenen Mann in der Erzählung Notturno, entbehrt nicht der Tragik. Als „Sammlerin verlorener Existenzen“ versucht die Ich-Erzählerin mit allen Mitteln, in „einem zerstörten Menschen Hoffnungen“ zu erwecken, von denen sie in klaren Momenten weiß, dass sie sie „niemals erfüllen konnte, dass ich nicht ihn liebte, sondern eine Erfindung, meine eigene Rolle als rettender Engel, der selbst gerettet werden wollte“.               

Immer wieder ist es ihre eigene Vergangenheit, mit der sich Wodins Erzählerinnen, hinter denen deutlich die Autorin selbst zu erkennen ist, auseinanderzusetzen suchen, ihre Fremdheit in einer Welt, in der sich auch die eigenen Eltern nicht zurechtfanden, deren Sprache ihnen zeitlebens nicht zur Muttersprache wurde. Auch die Flucht ins Bürgerliche, wie sie in Nachbarinnen thematisiert wird, misslingt. „Bis vor Kurzem noch war ich die Russenlusch, jetzt hatte ich die deutsche Staatsbürgerschaft und trug Haralds deutschen Namen“, heißt es an einer Stelle. Das könnte als ein Ausdruck von Stolz, gar neuem Standesbewusstsein verstanden werden. Aber Opernbesuche, „bayerische Dirndl, Faltenröcke aus Trevira und ein Abendkleid“ vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass diejenige, die so spricht, eher in die Welt jener Frau Meisinger gehört, die schließlich, unbeachtet von all ihren Nachbarn, einsam stirbt und erst nach Wochen gefunden wird.

Les Sables-d’Olonne, die den Band beschließende Erzählung, bringt schließlich alle das literarische Werk Natascha Wodins durchziehenden Themen und Motive noch einmal zusammen. Es ist die Geschichte einer Frau auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz in der Welt. In einem heruntergekommenen pfälzischen Winzergehöft aus dem 17. Jahrhundert findet die namenlose Ich-Erzählerin für einen Sommer und den darauffolgenden Herbst einen Unterschlupf. Bezeichnenderweise ist es die „Friedhofsgasse“, an deren kühlem und schattigem Ende das von dem Besitzerehepaar nach seiner Scheidung sich selbst überlassene, halb sanierte Gebäudeensemble steht. Von Panikattacken geplagt und kaum in der Lage, das Haus zu verlassen, ihre Ängste mit Tabletten niederkämpfend, die „wie Dämmstoff, der sich zwischen mir und der Außenwelt ausbreitet“, wirken, erinnert sie sich hier, fern von anderen Menschen, an eine Reise mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten Simon, einem Mikrobiologen, an die französische Atlantikküste.

Les Sables-d’Olonne heißt der einsame Ort, in dem das Paar ein abgelegenes Ferienhäuschen gemietet hat. Auf der Autofahrt dorthin verspürt die Erzählerin zum ersten Mal in einem als Zwischenstation gewählten Bergdorf jenes allumfassende Fremdheits- und Angstgefühl, das sie fortan gefangen hält und ihr alles und jeden um sie herum – „mein Schreibtisch, meine Wörterbücher, das Geschirr in der Küche, mein Bett“ – als fremd und feindselig erscheinen lässt. Es ist nicht nur der Anfang des Endes der Beziehung zu ihrem Lebensgefährten, sondern das abrupte Ende aller ihrer Beziehungen, ihr völliges Herausfallen aus sämtlichen sozialen Bindungen und Verpflichtungen, die Inbesitznahme ihres Selbst durch ein Gefühl des Verlorenseins auf der Welt, gegen das anzukämpfen ihr selbst mit der Unterstützung eines Psychotherapeuten nicht gelingen will.

Als „Notwehr, die einzige Waffe, die ich gegen die Angst einsetzen konnte“ erweist sich in dieser scheinbar ausweglosen Situation allein das Schreiben: „Ich schrieb wie in einem ständigen Löscheinsatz gegen das, was mich verbrennen wollte, meine Worte waren wie das letzte, hauchdünne Fädchen, das mich noch mit der Außenwelt und den anderen verband.“ Doch selbst als es ihr gelingt, mit ihrem Schreiben in den Fokus der Öffentlichkeit zu geraten, ihren „Randplatz in der Welt der Literatur“ als Übersetzerin zu vertauschen mit einer Position näher bei den von ihr bewunderten Göttinnen und Göttern – Ingeborg Bachmann zählt dazu, wie ein in den Text eingestreutes längeres Zitat aus deren Werk nahelegt –, ist das alles andere als die erhoffte Befreiung aus dem Dilemma ihrer Angst. Denn mit dem zunehmenden Erfolg, den Einladungen zu Lesungen, den Literaturpreisen, den Aufforderungen zu Interviews und Fernsehauftritten nimmt auch das Gefühl zu, dem allen nicht gewachsen zu sein. Denn „alles, was ich schrieb und inzwischen auch veröffentlichte, war nur das Resultat meines tagtäglichen Scheiterns an meinem eigentlichen Stoff.“

Der „eigentliche Stoff“, das, was sich Natascha Wodins Erzählerin auch beim Schreiben immer wieder entzieht, ist ihre Zugehörigkeit als „Nachkommin“ zu jenen Millionen von Menschen, die von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts in eine fatale Anonymität gedrängt worden waren und als „Menschenabfall“, der sich seiner eigenen „Opferschaft“ schämte und dieses Gefühl der Heimatlosigkeit auch an seine Kinder weitergab, behandelt wurden. Ihm nähern sich nach den Romanen auch ihre aktuellen Erzählungen auf ebenso nachhaltige wie literarisch beeindruckende Weise. Eine Lösung für das Dilemma der Erzählerin aber finden auch sie nicht. 

Titelbild

Natascha Wodin: Der Fluss und das Meer.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
160 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003760

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