Ein anderes Partisanen-Denkmal
Drago Jančars Roman „Als die Welt entstand“ präsentiert eine Rückschau für die Stadt Maribor
Von Johann Holzner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür das Denkmal, das am 9. Mai 1986 auf dem Wiener Zentralfriedhof feierlich eingeweiht und bald darauf vollkommen vergessen wurde, für das so genannte „Partisanen-Denkmal“ finden sich in den Akten und Presseberichten dieser Zeit verschiedene Bezeichnungen. Im Programm zur Eröffnung, an der Ferdinand Lacina, der österreichische Wirtschaftsminister, und zahlreiche prominente Repräsentanten der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien teilnahmen, hieß es noch „Denkmal für die auf dem Gebiet der Republik Österreich gefallenen, verstorbenen und vermißten Kämpfer des Volksbefreiungskrieges Jugoslawiens 1941–1945“, aber sowohl in österreichischen wie auch in jugoslawischen Medien wurden andere, zumeist kürzere, keineswegs immer dasselbe treffende Bezeichnungen gewählt, und eine offizielle Kurzbezeichnung konnte sich nie durchsetzen.
Das war allerdings auch nicht nötig. Denn die Grabstätte, die an „1.022 Kämpfer“ erinnert – tatsächlich sind an dieser Stelle 73 (nach anderen Listen: 75 bzw. 76) Kriegsgefangene bestattet worden – wurde nicht gepflegt, war demnach bald schon in einem desolaten Zustand, zum Teil hinter einem Busch versteckt und über Jahre nicht mehr zugänglich; und erst im Frühjahr 2023 wurde das Denkmal renoviert. Mittlerweile sind wir über die Geschichte dieses Denkmals sehr gut unterrichtet: nämlich durch eine Studie von Mathias Lichtenwagner, die in dem Band Bruchstücke, dem von Christine Schindler herausgegebenen Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes 2023 erschienen ist.
Eine „dunkle Seite“ der österreichischen, aber auch der slowenischen Geschichte; was letztere betrifft: Darauf hat Drago Jančar wiederholt schon aufmerksam gemacht. Denn allzu lange wurden aus seiner Sicht die Aktivitäten der Partisanen in Slowenien in den höchsten Tönen und rundweg unkritisch gewürdigt, wurde somit glatt unterschlagen, wie viele Menschen von eben diesen „Partisanen“ in der Nachkriegszeit zur Zwangsarbeit verpflichtet, in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesperrt, auch liquidiert wurden. Jančar hat wie kein anderer aufgedeckt und ausgeführt, dass die „totale Angst“ (Mira Miladinović Zalaznik) auch in Slowenien das augenfälligste Markenzeichen der Nachkriegsjahre war.
Wie Ivo Andrić, dessen Bosnische Trilogie (Originalausgabe: 1945!) gewiss nicht zufällig auch in seinem jüngsten Roman zitiert wird, betrachtet Jančar Literatur nach wie vor als mächtigsten Gegenpart zu jeder nationalistisch oder religiös aufgeladenen Historiographie.
Als die Welt entstand. Damals, in der Nachkriegszeit, wie Danijel sich besinnt, der Held dieses Romans, hat er immer wieder gehört, „dass eine neue Welt am Entstehen sei“. Er erinnert sich an Transparente, an Fahnen, an „Hoch!“-Rufe, an „das Getrampel beschlagener Schuhe und das Stampfen der Werkshämmer“. Aber in seiner Rückschau, in seinen ganz privaten Gedächtnis-Splittern, die ein auktorialer Erzähler, was Danijel selber so nie zustande brächte, besonnen in Worte fasst, ummünzt aus einer wohl eher leichtgläubig-infantilen in eine akkurat-poetische Sprache, erscheint dieser Anfang, dieser „Frühling“ nie und nimmer lediglich als eine Ära der Angst.
Er ist auch der Fluss, der Wald, der hohe Hügel. Und die Stille, in der nur das Schwappen des Wassers am Ufer, das ruhige Plätschern eines Strudellochs zu hören ist. Eine Stille aus der gewaltigen, uralten Schönheit aller Dinge, die von jeher sind.
Von jeher. Danijel kennt das schon aus der Bibel, später vor allem aus dem Schulunterricht, auch aus Bruchstücken der russischen Literatur, die ihm hin und wieder unterkommen, er weiß schon, welche Bewandtnis es hat, wenn das Stichwort „Frühling“ fällt. Das bedeutet: Kundgebungen, Paraden, das meint die „Nashornherde“, das heißt, die „Heerschar“ der Arbeiterinnen und Arbeiter, die das Land ernährt, und doch auch wieder anderes, es schließt sogar ganz gegensätzliche Blickpunkte auf die Welt ein, Wahrnehmungen und Betrachtungen zu Dingen, die schön und schrecklich zugleich sind. Was alles im Kopf, in der Vorstellung, in der Phantasie des Kindes eben sich abspielt.
Da können schon einmal auch die Bilder von König David, Hitler und Tito in- und miteinander verschwimmen. Denn Danijel müsste trennen, kann aber kaum jemals auseinanderhalten, was ihm der Vater und was ihm die Mutter beizubringen versucht. Der Vater feiert permanent mit seinen Kumpanen vom kommunistischen Kämpferbund die großartige Rolle der Partisanen in der NS-Zeit (aber auch noch lange danach). Die Mutter, streng katholisch, schickt ihren Sohn hingegen zum Religionsunterricht. So sieht Danijel jahraus jahrein unvereinbare Standpunkte; und welchen Standpunkt auch immer er wenigstens probeweise einmal einnimmt, das Gewissen meldet sich verlässlich: Sünde, Verrat!
Die Geschichte spielt in der Stadt M., am Fuße des Pohorje-Gebirges. Mehr will der Erzähler nicht verraten; aber es ist kaum zu übersehen, dass damit Maribor gemeint ist. Zeit: 1950er Jahre. In den Blick kommt ein gesellschaftliches Leben, das nicht nur für den jungen Danijel schwer durchschaubar ist. Vieles, allzu vieles nämlich bleibt im Dunkeln, weil es von allen Seiten mit aller Macht dort gebannt wird: beispielsweise die Entwicklung der Beziehungen zwischen der deutschösterreichischen und der slowenischen Bevölkerung in den Grenzregionen; die Rolle der slowenischen Soldaten, die in den Reihen des Großdeutschen Reiches in Russland gekämpft haben; die Einschätzung des Massakers von Bleiburg; die Husarenstücke und Manöver der Partisanen. Aber die Geheimnistuerei allerorten betrifft keineswegs nur politische Operationen. Wenn Danijel in der Waschküche Gerüchte aufschnappt über die Herkunft unehelicher Kinder oder auch über das von ihm anfangs heimlich verehrte „Fräulein Lena“, das eines Tages aus einem Kärntner Dorf in die Stadt gekommen ist, um hier ein neues Leben anzufangen, später jedoch alle Hoffnungen begraben muss … dann wird nicht nur für ihn ein Milieu anschaulich sichtbar, in dem Gewalt nach wie vor eine Hauptrolle spielt und Kälte den familiären wie den öffentlichen Raum prägt; der Tod ist noch immer nahe, reißt immer wieder Danijel aus seinen Träumen.
Er steht im Garten und schaut auf den Fluss, er würde sich gern in das leere Boot setzen, das mit einer Kette am Ufer festgemacht ist, würde es losmachen, in den Strom hinein und über den Fluss ans andere Ufer rudern, jetzt legt er sich in die Riemen, rudert noch stärker, das Boot erhebt sich, schwebt über den Kronen der Akazien, über dem weißen Wald. Auf den Bäumen sind keine weißen Blüten, und sie sind trotzdem weiß, die Kronen sind mit Schnee bedeckt. Jetzt fliegt er und steigt langsam auf, zu etwas, das hoch oben ist, dort, wo sich das Leben dem Punkt nähert, wo er einst schon war, wo alles schon war, jenem Punkt, von dem am Anfang der Welt etwas ausging.
„Wer sagt“, der Erzähler zieht schließlich Bilanz, „dass die großen Dramen aus Irrtümern, Eifersucht, Verrat, Täuschung und Rache nur in Theben oder im englischen Königshaus spielen?“ Ein großes Drama spielt sich auch an der Drau ab. Allerorten totale Angst.
Drago Jančar hat dieser Ära einen Gedenkstein gesetzt, der weit mehr und radikal anders Erinnerungsarbeit leisten sollte als das „Partisanen-Denkmal“ am Wiener Zentralfriedhof. Dass für letzteres keine Bezeichnung zu finden war, die diesseits wie jenseits der Grenze sich als konsensfähig hätte erweisen können, darf nicht länger verwundern: Jančars Roman legt das Gebäude des guten alten Schwarz-Weiß, in das neuerdings manche Parteien gerne wieder einziehen möchten, in Schutt und Asche, um endlich schrankenlos darstellen zu können, wie komplex die historische Entwicklung bei genauerer Betrachtung zutage tritt; sie hat Danijel „total überrollt“, sie wäre auch allen anderen Figuren dieses Romans wie ein Buch mit sieben Siegeln unzugänglich geblieben. – Der Roman, weltoffen, erläutert diese Entwicklung beispielgebend.
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