Entmystifizierung des Traumgeschehens bei andauernder Magie
In „Warum wir träumen“ erläutert Rahul Jandial, aus welchen neuronalen Aktivitäten Träume entstehen
Von Anne Amend-Söchting
Für das gesamte 20. Jahrhundert bahnbrechend war nicht nur Sigmund Freuds Psychoanalyse im Allgemeinen, sondern seine exakt im Jahre 1900 erstmals erschienene Traumdeutung. Mit ihr lässt sich die jahrtausendealte Annahme, dass Träume im Zuge ihrer Deutung einen Sinn ergeben, differenzieren und auf psycho(patho)logische Mechanismen beziehen. Man könne den Traum, so Freud, „durch etwas ersetzen, was sich als vollwichtiges, gleichwertiges Glied in die Verkettung unserer seelischen Aktionen einfügt“.
Im Jahre 2024 ist in puncto Traumdeutung insofern eine epistemologische Wende vollzogen, als Neurowissenschaftler:innen den Aspekt der Interpretation vorwiegend als eine Art „Add-on“ in ihre Arbeit inkludieren. Vielmehr fokussieren sie den Ursprungsort des Traumgeschehens. Nicht die nächtens imaginierten Geschichten und ihre Bedeutungen sind primär von Interesse, sondern am Anfang stehen die Fragen nach den neuronalen Quellen und Hintergründen des Phänomens Traum.
Rahul Jandial, Autor von Warum wir träumen. Was uns das Gehirn im Schlaf über unser Leben offenbart, ist ein amerikanischer Gehirnchirurg und Neurowissenschaftler. Seine Seriosität durch die Dreingabe des Doktortitels auf dem Buchumschlag zu bezeugen, wäre gar nicht nötig gewesen.
Die zwischen Einführung und Schlusswort insgesamt neun Kapitel des populärwissenschaftlichen Sachbuchs beginnen mit der Erläuterung der These, dass Träume „unser entwicklungsgeschichtliches Erbe“ seien. Während des Träumens sei unser Gehirn mindestens genauso aktiv wie im wachen Zustand. So wie beim Nachdenken, bei reizunabhängiger Kognition, durchquerten Wellen elektrischer Aktivität das Gehirn. Um einen Traum zu erzeugen, müsse der Körper erstens mit den Neurotransmittern Glycin und Gamma-Aminobuttersäure gelähmt werden. Zweitens müsse sich das Exekutivnetzwerk im Gehirn ausschalten und drittens müsse das sogenannte Imaginationsnetzwerk aktiviert werden.
Manche Traummotive seien über alle Kulturen hinweg konstant – zum Beispiel Träume über Schule und Prüfungen, das Zuspätkommen oder darüber, verfolgt zu werden. Der mediale präfrontale Kortex, im Wachzustand verantwortlich für Empathie und Perspektivübernahme, werde beim Träumen „von der Leine gelassen“. Seine Aktivität erlaube es, im Traum „komplexe soziale Szenarien durchzuspielen, imaginäre Gedankenexperimente, die unser waches Leben beeinflussen“.
Träume seien einem Menschen nicht per se gegeben, sondern sie entwickelten sich im Laufe der Kindheit. Die im jungen Lebensalter häufigeren Albträume dienten der Behauptung des eigenen Selbst, etwa beim Kampf gegen Ungeheuer. Allein aus entwicklungspsychologischen Gründen bedürfe man des Träumens. In allen Phasen des Schlafs träume man, nicht nur in der REM-Phase, in ihr jedoch intensiver.
Im Weiteren spezifiziert Jandial die in Albträumen verarbeiteten „fünf häufigsten Themen aller Zeiten und Welten“, als da sind: „Versagen und Ohnmacht, physische Aggression, Unfälle, Gejagtwerden, gesundheitliche Probleme und Tod“. Die Amygdala, der Teil des Gehirns, in dem emotionale Erfahrungen verarbeitet werden, sei hochgradig aktiv. Im Zuge eines Albtraums könne eine Schlaflähmung entstehen, was bedeute, dass man aufwache und vorübergehend nicht fähig sei, sich zu bewegen.
Erotische Träume seien „nur eine andere Ausdrucksform unserer Vorstellungskraft“, gar einzustufen als „Verkörperung des Begehrens selbst“. Während das Exekutivnetzwerk tagsüber Gedanken mit erotischen Inhalten zügle, entfalteten sie sich, wenn dasselbe dominiere.
Ohne auf Freuds berühmten Aufsatz über den „Dichter und das Fantasieren“ hinzuweisen, ist Jandial dem Psychoanalytiker sehr nah, lobt er doch das divergente, frei schweifende Denken als Kreativpotenzial, das gegenüber dem alltagsbestimmenden konvergenten Denken im Traum die Oberhand gewinne. Mit divergentem Denken, „Herzstück kreativen Schreibens“, verarbeite „man „Emotionen und zwischenmenschliche Dramen“. Grundsätzlich sei es der wichtigste kreative Aspekt des Träumens, soziale Beziehungen durchzuspielen und zu überprüfen. Man habe die Möglichkeit, in die Vergangenheit abzutauchen oder in die Zukunft aufzubrechen. Mit virtuellen Rollenspielen, in denen sich oft eine Myriade an Metaphern herauskristallisiere, werde das figurative Denken angeregt. Durch Antizipation von Bewegungen im Traum werde auch kinästhetische Kreativität gefördert. „Wenn wir träumen, feuern unsere Neuronen so, als würden wir die geträumten Handlungen wirklich ausführen“.
Einschlafen könne man als „Pforte zur Kreativität“ definieren. Dieser „Schwellenraum“ ist identisch mit der Sphäre, in die sich Surrealist:innen mit der von ihnen praktizierten „écriture automatique“ hineinwagten. Nur schade, dass diese, abgesehen von Salvador Dalí für die Malerei, nicht erwähnt werden.
Eine wichtige Position nehmen Bemerkungen zu „Traum und Gesundheit“ ein. Träume besäßen das Potenzial, vor zukünftigen Krankheiten zu warnen, z.B. gehe sogenannten „Synucleinopathien“ nicht selten das Ausagieren von Träumen, das „Dream-Enactment-Verhalten“, voraus. Bei Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung sei die Verbindung von Traum und Selbstbild sehr eng und ausgeprägt. Bevor sie im wachen Leben erschienen, offenbarten sich die zusätzlichen Identitäten als Traumcharaktere. Demnach erschaffen sie die Patient:innen selbst.
Luzide Träume liegen Jandial sehr am Herzen – er reserviert für sie gleich zwei Kapitel. Mit luzidem Träumen gelange man in „eine neue Dimension“ des Bewusstseins, in einen „Zwischenzustand, in dem wir träumen, aber trotzdem wach sind beziehungsweise wach sind, aber uns trotzdem unseren Träumen überlassen“.
Im Gegensatz zum normalen Träumen, bei dem sich das Exekutivnetzwerk verabschiede, sei es beim luziden Träumen wieder partiell aktiv, denn es gelinge Forscher:innen währenddessen, in einem EEG mehr hochfrequente Gehirnwellen in Teilen des präfrontalen Cortex aufzuzeichnen. Noch unzureichend seien die beiden Theorien, die Forscher:innen diskutierten: Luzides Träumen als hybrider Zustand, in dem das Bewusstsein des wachen Gehirns in den REM-Schlaf übertragen werde, oder als Teil eines Bewusstseinskontinuums. Dieses umschließe den Traum- genauso wie den Wachzustand. In den Neurowissenschaften werde luzides Träumen aktuell als neue Art der Bewusstheit gewürdigt.
Diese Form des Träumens könne man therapeutisch einsetzen, besonders bei Menschen, die unter wiederkehrenden Albträumen litten. Im Zuge der Imagery Rehearsal Therapie (IRT) schrieben Proband:innen ihre Träume tagsüber neu, um die rekurrenten Narrative und die eigene Rolle darin ins Positive zu verkehren. Auch zur Leistungssteigerung könnten luzide Träume eingesetzt werden.
Jandial scheint von ihnen so fasziniert zu sein, dass er einige Methoden erklärt, mit denen man luzides Träumen erlernen könne. Vom „Reality Testing“ über die „Technik des Einleitens im Wachzustand (WILD)“ gelangt er zum „Einleiten mit Suggestion (MILD)“ und zum „Einleiten über die Sinne (SSILD)“. Diese Techniken seien kombinierbar, nur hüten solle man sich vor dem Einleiten luzider Träume mit Drogen.
Welche Gefahren im großen Feld Technik und Traum lauern, präsentiert Jandial in einem sehr aufschlussreichen Kapitel – „Die Zukunft des Träumens“ –, das man sich ein bisschen ausführlicher und profunder gewünscht hätte.
Während man früher beobachtete, wie Bilder, die man Proband:innen zeigte, in Gehirnaktivität übersetzt wurden, beschreitet man heute den umgekehrten Weg: das Umsetzen von Gehirnaktivität in Bilder. Allerdings werde es noch lange dauern, bis ein Traum exakt in ein Video transferiert werden könne.
Weiter entwickelt im Vergleich dazu sei das „Dream Engineering“, oft als Experiment mit dem Geruchssinn, weil das sogenannte „thalamische Gating“ (nur wenn eine Gefahr erkannt wird, gibt der Thalamus das Signal an den präfrontalen Cortex zum Erwachen) bei olfaktorischen Reizen nicht so gut funktioniere. Da Hippocampus und Amygdala, zuständig für Gedächtnis und Emotionen, eng mit dem Geruchssinn verknüpft seien, könnten olfaktorische Erlebnisse im Schlaf bei der Überwindung von Süchten oder beim Lernen helfen. Ein „Geruchsmix aus Zigarettenrauch und faulen Eiern“ führte laut einer Studie dazu, dass Raucher:innen ihren Nikotinkonsum um 30% reduzierten.
Bedenklich sei, dass Unternehmen dieses olfaktorische Influencing sicherlich in absehbarer Zukunft im Rahmen einer passgenauen Trauminkubation nutzen würden – als Dreamengineering zur Umsatzsteigerung.
Die Verfeinerung neurotechnologischer Verfahren mache gezielte Konsumsuggestion im Schlaf, über Smartwatches oder ähnliche Geräte, von Jahr zu Jahr wahrscheinlicher. Um die Gefahren bewusst zu machen und einzudämmen, gewinne die Sparte des Neurorechts an Bedeutung. Ein wichtiger Schritt sei 2017 die Gründung der Neurorights Foundation gewesen.
Gegen Ende seiner Publikation widmet Jandial immerhin 15 Seiten der Interpretation von Träumen und den Einsichten, die sie für Träumende bereithalten können. Nachdem er Traumnarrative in fünf große Gruppen kategorisiert hat – „Offenkundige Träume“, „Genreträume“, „Universelle Träume“, „Träume ohne Emotionen“ und „Emotionale Träume“ – schlussfolgert er, dass ihn die Neurobiologie davon überzeugt habe, dass Träume einen Sinn ergäben und einen wesentlichen Beitrag zur Selbsterkenntnis leisteten. Allen Traumlexika oder Websites, die ein Traummotiv auf eine vorgefertigte, formale Art und Weise deuteten, müsse man eine Absage erteilen. Träume seien immer individualisiert zu betrachten.
Dass der Neurowissenschaftler Jandial bei aller exakter Wissenschaftlichkeit in seinem Schlusswort die „transzendente Macht der Träume“ lobt, ist vollumfänglich zu begrüßen. Trotz aller Bemühungen müsse man damit rechnen, dass sich Träume auch in Zukunft nur bedingt aufklären ließen. Ihre Magie werde trotz neurowissenschaftlicher Fundierung fortbestehen.
Diese inhaltlich gute und materialistischen Skeptiker:innen wohltuende Dynamik des Paradoxen bleibt bei einigen eher formalen Aspekten, den Gesamtduktus der Ausführungen betreffend, zu vermissen.
Obwohl Jandials Buch keineswegs dickleibig ist, geht es in mancherlei Hinsicht eher in die Breite als in die Tiefe. Es ist lobenswert, dass alle Kapitel einer durchaus logischen Struktur gehorchen. Auf einen lockeren, meist narrativen Einstieg folgen Berichte über neurowissenschaftliche Experimente oder Theorien. Dabei wäre etwas weniger sicherlich mehr gewesen. Manchen Teilen hätten eine Reduktion auf einige wenige Aspekte, die dafür aber intensiviert und verfeinert worden wären, gutgetan.
Ohne jeden Zweifel kann der Autor mit Fallgeschichten punkten – so etwa gleich zu Beginn mit dem Resümee einer Wachoperation am offenliegenden Gehirn, das der Chirurg mit einem Stift elektrisch stimuliert, um herauszufinden, wo er schmerzlos schneiden kann. Für Laien ähnlich spektakulär wirkt die mit intrakraniellen Elektroden erfolgende Suche nach der Anfallsbeginnzone bei einer Person mit Epilepsie. Um diese Anekdoten herum erweckt der Text jedoch manchmal den Eindruck einer kuriosen Mischung aus populärwissenschaftlicher Abhandlung und Ratgeber. Ratschläge drängen sich unverhältnismäßig oft am Ende eines Kapitels – zum Beispiel „Wie Sie mit Albräumen fertigwerden“.
Ein solcherart organisiertes „Edutainment“ ist sicherlich auf kommerzielle Erwägungen zurückzuführen. Wie dem auch sein mag – etwas mehr „education“ und weniger „entertainment“ hätte der Nachhaltigkeit des rezipierten Wissens gutgetan. Allzu kursorisch geht der Autor über Anatomie und Physiologie des Gehirns hinweg. Er unternimmt einen Rundumschlag zu den neuronalen Aktivitäten, die Träumen zugrunde liegen. Skizzen zur kartografischen Verortung cerebraler Regionen oder zumindest Verweise auf einschlägige Publikationen oder Websites wären genauso hilfreich gewesen wie ein Glossar mit Begriffsdefinitionen. Zwar sind alle Texte gut nachzuvollziehen und sogar informativ, aber es bleibt das vage Gefühl der Lückenhaftigkeit.
Ein Graben tut sich zudem auf zwischen dem launigen Plauderton im Text und dem hohen wissenschaftlichen Anspruch, der sich im Literaturverzeichnis erkennen lässt. Die dort und in den Fußnoten aufgeführten Quellen sind meist auf einzelne Studien bezogen und somit hochspezialisiert. Sie kontrastieren mit dem mittelmäßigen stilistischen Niveau des Textes, das sich unmittelbar in direkter Leser:innenansprache, immerhin mit „Sie“ und nicht mit „Du“, niederschlägt.
Nur zweimal kommt der Name Sigmund Freud vor. Auf ihn zu rekurrieren hätte sich zum Beispiel bei der „Kontinuitätshypothese“ angeboten, der mit Freuds These der Verarbeitung von Tagesresten im Traum vergleichbaren Annahme, dass der Traum das Leben im Wachzustand bearbeitend fortschreibe. Sich nicht gegenüber dem ersten Psychoanalytiker zu positionieren, stellt sich gerade im letzten Kapitel, „Wie Sie Träume interpretieren können“, als Manko heraus. Im Zuge einer Distanzierung von mitunter eindimensionaler psychoanalytischer Deutung eines Traums wäre es nichtsdestoweniger gewinnbringend gewesen, die Traumarbeit beziehungsweise die diese wiederum dekonstruierende Trauminterpretation zu würdigen. Chiffrierverfahren, die, so wie es Freud postuliert, Prozesse der Verdichtung, Verschiebung und Symbolisierung integrieren und auflösen, hätten mit Jandials „Zwei-Stufen-Modell“ der Deutung in Einklang gebracht werden und somit eine konziliante Perspektive auf unterschiedliche epistemologische Muster eröffnen können.
Dessen und aller vorausgehender Kritik ungeachtet, bietet Rahul Jandial wohlfundierte Einblicke in die neuronalen Ursprünge des Träumens. Obschon der Autor bei einzelnen Aspekten mitunter recht salopp voranschreitet, manifestiert sich seine bewundernswerte Fachkompetenz.
Zu bedauern ist allein, dass er, der als brillanter Wissenschaftler und ebensolcher medizinischer Praktiker gilt, sich etwas zu sehr bemüht, einem breiten Lesepublikum Zugeständnisse zu machen.
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