Kasachstan als Kausalität, von der Steppe in die Heide
In „Sibir“ inszeniert Sabrina Janesch das transgenerationale Wirken der Erinnerung
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeitdem die deutsch-polnische Autorin Sabrina Janesch 2010 ihren ersten Roman Katzenberge veröffentlichte, ist sie vielfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet worden. So wie Katzenberge, dessen Inhalt nach Schlesien führt, und Ambra, ihr Roman über eine Danziger Familie, beleuchtet auch der nunmehr fünfte Roman, Sibir, die Wirkmacht transgenerationaler Verstrickungen.
In einem offen autofiktional geprägten Rahmen konturiert Janesch die Genese ihres Textes: die erwachsene Tochter besucht ihre Eltern, nachdem die Mutter ihr erklärt hat, dass der Vater an einer schnell verlaufenden Demenz leide und dabei Stimmen höre. Als die Tochter bemerkt, dass ihr Vater sich nicht mehr erinnern kann, beschließt sie, all jene Geschichten zu notieren, die ihr Vater früher erzählte. Abgleichen wolle sie diese mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen. Durch ein „Guckloch“ inspiziere sie nun die Vergangenheit des Vaters, in der eine Macht alles determiniere: „Sibir“ bzw. Sibirien.
Für ihre Binnennarration kreiert Janesch die Familie Ambacher – allen voran den Vater Josef als Protagonisten einer Kindheit in den 1940er Jahren und Leila, Tochter sowie Ich-Erzählerin, zwölfjährige Protagonistin zu Beginn der 1990er Jahre. Seit dem 18. Jahrhundert lebte die Familie des Vaters in Galizien, eine Landschaft mit wechselvoller Geschichte in der Nähe von Krakau, die ab 1920 zu Polen und ab 1939 zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik gehörte. In diesem Jahr mussten die dort ansässigen deutschen Familien ins Wartheland übersiedeln, aus dem die Polen gerade vertrieben worden waren. Dort, so Josef, habe die „Unheimlichkeit gewohnt“, denn man sei zu Komplizen eines „haarsträubenden Unrechts“ geworden.
1945 erfolgt die Zwangsumsiedlung vieler galiziendeutscher Familien. Josef und sein jüngerer Bruder Jakob werden mit Mutter, Großeltern und Tante in überfüllte, nur mit Stroh ausgelegte Eisenbahnwaggons gepfercht. Auf der Fahrt nach Sibirien, in die Republik Kasachstan, ernähren sie sich vorwiegend von Kartoffelschalen, die sie bei Stopps unterwegs auflesen. Josefs kleiner Bruder stirbt daran. Beim letzten Halt vor der Ankunft in einer sibirischen Bahnstation beteuert die trauernde Mutter, dass eine geheimnisvolle Musik von Debussy aus der Steppe zu ihr klinge. Sie müsse ihr unbedingt folgen. Trotz intensiver Suche bleibt Emma Ambacher verschwunden.
Vom Bahnhof aus müssen die Verbannten in ein kleines Dorf, ein „Aul“, laufen, wo sie, so wie die dort Ansässigen, manche von ihnen sogenannte „Sibiriendeutsche“, in Erdhäusern leben werden. Tante Antonia, eine Krankenschwester, assistiert dem Arzt im „Medpunkt“ des Auls, der Großvater arbeitet als Tischler, die Großmutter kümmert sich um den Haushalt. Alle stehen sie unter besonderer Beobachtung und müssen sich regelmäßig bei einem Aufseher melden.
Josef freundet sich mit dem gleichaltrigen Tachawi an, der ihm beisteht, wenn er in der Schule mit vielerlei Anfeindungen zu kämpfen hat. Er bringt Rettung, als Josef eines Tages von Tante und Großmutter weggeschickt wird und blindlings in die Steppe hineinläuft.
Bis 1955 bleiben die Verbannten in Sibirien. Nachdem Konrad Adenauer erreicht hat, dass sie nach Deutschland ausreisen dürfen, lassen sich die Ambachers und einige weitere Familien im niedersächsischen Ort Mühlheide nieder.
Mehr als vier Jahrzehnte nach der Verschleppung ihres Vaters und seiner Familie – so Leila Ambacher – sei die Heide ihre Steppe. Wenn man am Ortsrand von Mühlheide lebe, in einer Community der Zugezogenen, sei man stigmatisiert, weil man nicht in das wohlgeordnete bürgerliche Leben der anderen, das einer Zuckerkuchen- und Spitzendeckchen-Idylle gleichkomme, hineinpasse. Der Vater, inzwischen ein studierter Ingenieur, genieße in der Gemeinschaft der Zugezogenen einen Sonderstatus. Er, der oft auf Reisen sei, werde immer sehnlichst erwartet und bei seiner Rückkehr gefeiert. Seine Ängste, so betont Leila, habe er im Allgemeinen gut im Griff. Nur in Ausnahmesituationen offenbart sich seine Klaustrophobie, zum Beispiel in einer prägnanten Szene, die einen Elternabend während Leilas Grundschulzeit fokussiert: der Vater springt aus dem Fenster, nachdem es an der Tür geklopft hat.
Schon im Kindergarten lernt Leila den gleichaltrigen Arnold kennen, dessen Sozialisation ähnlich verläuft wie ihre. Nur mit ihm ist es ihr vergönnt, sich in das „Kindsein zurückzuziehen“ und sich in „Spielwelten zu verbarrikadieren“, womit Pawel alias Pascha, der das Duo später zum Trio erweitert, etwas fremdelt. Mit Eltern und Geschwistern kommt er 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Mühlheide.
Gegenüber diesen und anderen Neuankömmlingen ist Josef Ambacher sehr gastfreundlich, lässt sie sogar in seinem Haus übernachten, obwohl sie ihn massiv mit seiner Vergangenheit in Sibirien konfrontieren. Einige Monate später unterbreitet er seiner Frau und seiner Tochter den Entschluss, ein neues Domizil am Schrevensee zu bauen. Für seine und andere umzugswillige Familien steht bald ein Container zur Verfügung, um all das aufzunehmen, was nicht mitgenommen werden soll oder kann. Leila, Arnold und Pawel gelingt es, ausgewählte Objekte daraus zu entfernen und in einem Versteck aufzubewahren, bevor der restliche Inhalt verbrannt wird.
Janeschs Roman lebt aus seinem Reichtum an Episoden, mit denen sich das Hineinwirken der 1940er Jahre in die 1990er Jahre konkretisiert. Verschleppung und Verbannung bilden die stets wirksame Thematik im Hintergrund – eine unauslöschliche Vergangenheit, die in die Gegenwart der Ambachers invadiert: so etwa als die Lehrerin bei Pawel einen menschlichen Schienbeinknochen (mit dem er an die Getöteten des Zweiten Weltkriegs erinnern möchte) findet und diese Situation im Zuge einer abrupten Rückwendung mit dem ersten Tag des Vaters in der sibirischen Schule gleichgesetzt wird. Der Vater, so die Erzählerin, spüre eine besondere Verbundenheit zu Pawel, weil er selbst genauso aktiv ausgegrenzt worden sei und sich daher als Paria gefühlt habe. Vergleiche wie diese illustrieren, dass sich Erinnerungskultur, so wie sie sich in Sibir äußert, nicht auf die Vulnerabilität und Traumata der unmittelbar Betroffenen reduziert, sondern mit all ihren tragischen und durchaus komischen Elementen in die Kindheiten der Nachgeborenen hineinwirkt und diese nachhaltig formt.
Da ein simples Alternieren der Zeitstufen dieser transgenerationalen Energie nicht gerecht werden würde, ist es nur konsequent, dass Janesch die dargestellten Kindheiten eng miteinander verzahnt. Daraus erhellt, dass es sich keineswegs um eine simple Repetition ähnlicher Erlebnisse handelt, was aufgrund der disparaten politischen Situationen ohnehin obsolet wirken würde, dass also nur bedingt Analogien herzustellen sind, sondern es vielmehr um Homologien, Strukturparallelen, geht, jeweils unterfüttert von inhaltlicher Affinität.
Die Wucht der Erinnerung, ihren wirkmächtigen Furor, erläutert Josef Ambacher, indem er sagt, dass er sich nicht nur Menschen, mit denen er in der Steppe gelebt habe, ins Gedächtnis rufen könne, sondern unter anderem auch Tachawis Bruder, den er nie kennengelernt habe. Wenn er wolle, könne
er sich sogar daran erinnern, wie die Vorfahren aus dem Egerland nach Galizien gewandert waren, und daran, wie noch Jahrzehnte zuvor die kasachischen Stämme frei über die Steppe gezogen waren. Die Erinnerung spiele Streiche, erfinde dazu, stelle Zusammenhänge her, die es gar nicht gebe. Nur sie brachte alles zusammen, vereinigte die Fragmente und Splitter zu einem Ganzen. Die wichtigsten Splitter trugen die Namen von geliebten Menschen.
Josef birgt nicht allein die Namen geliebter Menschen in sich, sondern er sammelt Wörter aus verschiedenen Sprachen und verwandelt sie in Schätze für seine persönliche Rekonstruktion des Vergangenen. Er liebt es ebenso, selbst angebautes Obst zu verarbeiten und zu konservieren, zum Beispiel die Gläser mit Marmelade und Kompott „einzuteilen, zu sortieren, zu systematisieren“. Auf ähnliche Weise sammelt und koordiniert das erzählende Ich die Vielfalt schwirrender Erinnerungen, um dieses Chaos als textgebundene Ordnung zu bändigen.
Die generationenumspannende, das Leben der einzelnen Menschen überdauernde extensive Fülle lässt sich geografisch in Steppe und Heide verorten. Beide erwecken den Eindruck, unendlich zu sein, wenn man sich in ihnen befindet, beide korrespondieren mit einer intensiven Symbolik, denn auf den landschaftlichen Weiten sprudeln die Details des Vergangenen. In der Heide aktivieren sich die Geschichten des Vaters aus der Steppe und Leila kann ihnen dort ihre eigenen Erlebnisse entgegensetzen.
Mit ihren extremen klimatischen Schwankungen, mit unerträglicher Kälte und manchmal einer ebensolchen Hitze, bedroht die Steppe ihre menschlichen Bewohner:innen. Ihnen seien die Steppenwölfe, so Josef, an Intelligenz überlegen. Im Winter fallen sie in die Dörfer ein, dann, wenn Schneestürme wüten und die Bäume bersten, dann, wenn die Menschen ums Überleben kämpfen müssen. Mit heftigen Naturereignissen, dessen ist sich Leila gewiss, gehen Veränderungen einher: kurz vor der Ankunft der „Neuen“ wütet in Mühlheide ein heftiger Schneesturm, der Leila an den Sturm in Sibirien erinnert, in den hinein ihre Großmutter dereinst verschwunden ist. Alle Bewohner:innen vom Stadtrand sind davon überzeugt, dass ein zentralasiatischer Schneesturm sie heimgesucht hat, mit dem sich die Dinge verschoben haben. Manche von ihnen hören diesen Sturm noch lange im Kamin.
Besondere Expressivität erlangt die anthropomorphisierte Natur, wenn sie zum Beispiel als „das lange Ohr der Steppe“, das zu den Menschen spricht, personifiziert wird. Sie transformiert alle, die in ihr wohnen, so auch den „aufrechten Tischlermeister Abraham Ambacher“, Leilas Großvater, indem sie aus ihm einen Fuchs macht, der sich nur auf diese Weise „in der Schattenwirtschaft, die neben der Kolchose florierte“, behaupten kann. Außerdem – so Josef – verschlucke die Steppe Dinge und spucke sie später wieder aus.
Nicht vergessen werden dürfen die literarischen Intertexte im Umkreis dieser Landschaftsform, als deren Eckpunkte zumindest Hermann Hesses Steppenwolf und Dino Buzzatis Tatarenwüste zu nennen sind, obwohl die Protagonisten der beiden Werke, Harry Haller und Giovanni Drogo, unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Harry Haller als einsames Alter Ego seines Autors konzipiert ist und Giovanni Drogo auf den Feind wartet, der aus der Steppe kommen soll, droht bei Janesch aus ihr heraus die ominöse „schwarze Stunde“, auf die sich Vater und Mutter vorbereiten. Trotz seiner klaustrophobischen Ängste und obschon er oftmals nur fortlaufen möchte, verbarrikadiert sich der Vater im Winter in seinem Haus, damit die Dunkelheit es nicht vereinnahmen kann. Sein widersprüchliches Verhalten spiegelt sich in den Elementen Feuer und Wasser: Ruhe findet er selbst dann nicht, nachdem die Dinge aus dem Container im Feuer aufgegangen sind und er mit seiner Familie an den See gezogen ist.
Mit all ihren Kanten, Ecken und allem Rätselhaften fügen sich die Figuren des Vaters und der Tochter zu plastischen Charakteren. Das gilt auch für Leilas Mutter, mehr im Hintergrund agierend, und für die Nebenfiguren, von denen zwei einen besonderen Stellenwert einnehmen: Tante Antonia einerseits und der „Tartter“ andererseits. Die Schwester von Josefs Mutter, die in Mühlheide zu „Tante Ömir-Ölim“ geworden ist, „Leben-Tod“ auf Kasachisch, sei als „Naturkundlerin, Veterinärin, Ärztin, Krankenschwester, Hebamme und Hexe“ tätig. Sie biete Schutz, so Leila, vor der schwarzen Stunde und dem „Tartter“. In ihm wabert nazistisches Gedankengut und beweist insofern gefährliche Kontinuität, als er in seinem Keller eine alte SS-Uniform und einen Beutel Zahngold versteckt, den Leila und Arnold entwenden. An dem Nazi-Schergen entzündet sich Jahre später noch die Empörung des erzählenden Ichs: „Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich noch immer wütend über die lethargische Gleichgültigkeit der vergangenen Jahrzehnte.“ Arnold und sie seien die Einzigen gewesen, „die sich für den Tartter interessierten, die an ihm litten, an ihm kratzten. Zwei Kinder gegen das Erbe dieses Landes.“
Passagen wie diese demonstrieren, dass Sabrina Janesch packend erzählen kann. Sie lässt Szenen mit atmosphärischer Dichte in poetisch intensivierter Syntax erstehen, in denen sich nicht selten, vor allem auf den ca. ersten 50 Seiten, Akkumulationen und Vergleiche drängen. Trotz der symbolischen Aufladung, die über die gesamte Lektüre hinweg greifbar ist, bleibt der Text mitunter dennoch ein bisschen zäh und unnahbar. Diese ansatzweise Kühle und verhaltene Emotionalität tut dem kraftvollen Gesamtimpetus aber keinen Abbruch.
Insgesamt hat die Autorin einen großartigen Roman vorgelegt, der die katalysierende Macht der Erinnerung vor Augen führt und aufzeigt, dass Vergangenes keinen statischen Parallelblock formiert. Darüber hinaus ist der Blick auf Nachkriegsereignisse, die im Bewusstsein vieler nicht allzu präsent sein dürften, zu würdigen und nicht zuletzt die brand- und daueraktuelle Frage, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft und/oder Ethnien in einem neuen gesellschaftlichen Kontext aufeinandertreffen und wie eine klug konzipierte Willkommenskultur Marginalisierung und Ghettoisierung verhindern könnte.
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