Reisefantasien und der Weg des Lebens

Zu „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber

Von Rebecca SiegertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebecca Siegert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jasmin Schreibers Roman ist eine Geschichte vom Reisen und Trauern, vom Reisen beim Trauern, vom Trauern beim Reisen. Diese Kombination erschien mir zunächst unpassend. Reisen assoziiert man doch mit positiven Erfahrungen, Erholung und dergleichen. Doch schnell erkannte ich die Bedeutung dieser kurzen Reise zweier Menschen oder besser gesagt zwischen zwei Menschen als Allegorie für den Weg des Lebens: das Menschsein. 

Marianengraben handelt von Paula, einer jungen Frau, die gerade das Biologie-Studium abgeschlossen und ihr Leben noch vor sich hat. Plötzlich verliert sie ihren jüngeren Bruder durch einen Unfall. Danach erscheint alles wie eingefroren. Sie ist von ständigen Schuldgefühlen geplagt, will eigentlich ihre Doktorarbeit schreiben, aber es geht nicht. Bei einem nächtlichen Besuch auf dem Friedhof lernt sie Helmut kennen, der gerade dabei ist, die Urne seiner Ex-Frau auszugraben. Eins kommt zum anderen und die beiden befinden sich auf einem Kurztrip in die Berge, Richtung Helmuts Vergangenheit und gemeinsamer Trauerbewältigung.

In Marianengraben geht es weniger um die Exotik der Orte, die besucht werden, und noch weniger handelt das Buch von einem Urlaub der Erholung. Es geht auch nicht darum besonders lange von zu Hause fort zu bleiben, weil Zeit alles ändern würde. Nein, für mich handelt dieses Buch viel mehr von einer zutiefst emotionalen Bindung zwischen zwei äußert unterschiedlichen Figuren, die durch ihre eine Gemeinsamkeit – einen geliebten Menschen verloren zu haben – eine Verbundenheit erleben, die anrührender nicht sein könnte. 

Der Roman thematisiert nicht die Trauer direkt nach dem Tod, sondern die Zeit nach der ersten Trauer. Die Zeit, wenn der Alltag wieder einkehrt, wenn man sich wieder fangen und sein eigenes Leben auf die Reihe bekommen muss und vor dem großen Problem steht, dass das einfach nicht geht. 

Ich bin mit Paula und Helmut samt Hund, Huhn und Gepäck im Wohnwagen durch die Berge gefahren, vorbei an nackten Senioren, die im Wald tanzen, über traurige Täler der Vergangenheit. Ich bin über die Friedhofsmauer bei Nacht geklettert, habe jeden Streit über Pinkelpausen gehört, und bin zeitweise im tiefen Meer versunken, immer weiter hinunter bis zum Marianengraben. 

Mit den beiden auf diese untypische Reise zu gehen, war ein Erlebnis, das die gesamte Gefühlswelt in sich trug: Traurigkeit, Verzweiflung, Wut, Freude, Langeweile… Als wäre ich dort gewesen, mitten im Wald; ich atmete die kühle, frische Luft und jegliche Beklemmung war fort. Die Ruhe, die der Roman trotz seiner Vielfalt an Themen und Ereignissen ausstrahlt, erstaunte mich. 

Egal, wo wir sind, wo wir waren, wo wir hinwollen – auf irgendeiner Art von Reise befinden wir uns immer. Auch in unseren Köpfen können wir reisen, uns auf eine Welt mit allen ihren Elementen einlassen – was mir, je älter ich werde, immer schwieriger erscheint. Doch gerade diese Fähigkeit ist in Anbetracht der Umstände seit Beginn des letzten Jahres und dem immer wiederkehrenden Gefühl, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, umso wichtiger. Die Reise beginnt nicht mit der Fahrt irgendwohin, sie beginnt im Kopf – mit einer kleinen Prise Fantasie.

Diese besondere, kleine Reise, die Schreiber kreiert hat, versucht nicht zu brillieren oder anzugeben. Sie ist süß, traurig und komisch. Und am wichtigsten: Sie gibt Hoffnung. Und wer braucht die auf seiner eigenen Reise nicht?

Titelbild

Jasmin Schreiber: Marianengraben. Roman.
Eichborn Verlag, Köln 2020.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900429

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch