Ein literarisches Festmahl

Régis Jauffrets fulminanter Briefroman „Cannibales“

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Liebe ist viel verrückter, als ich es jemals sein werde.“ Dies schreibt Noémie ihrem Verflossenen Geoffrey, dem Mann, den sie nicht nur verlassen hat, sondern den sie auch gemeinsam mit Jeanne, der Mutter Geoffreys, umbringen und als Festmahl verspeisen möchte. Es ist also im Roman Régis Jauffrets kein Privileg der Liebe, verrückt zu sein, aber doch ist es die Auffassung von Liebe als einer prinzipiell irrationalen Angelegenheit, die dem Text seinen Grundton verleiht. Und dieser Ton ist der durchaus unnachahmliche Ton der Empörung, wenn sich überzeugte Egoisten mit der Zumutung der Liebe konfrontiert sehen.

Noémie kann es Geoffrey einfach nicht verzeihen, sie zu lieben, hatte dies doch unter anderem zur Folge, dass Noémie die Trennung zu den weniger erfreulichen Momenten in ihrem Leben zählen muss. Auch jetzt, wo die junge, gutaussehende Möchtegernmalerin, einen fügsamen Mann gefunden hat, der in ihrem Bett die praktische Funktion einer lebenden Bettflasche einnimmt, ihr morgens Frühstück bereitet und ihr stundenlang verliebt bei ihren Malkünsten zusieht, fürchtet sie die Liebe Geoffreys wie der Teufel das Weihwasser. Ein Vergleich, der sich in diesem Fall durchaus anbietet, sind doch sowohl Noémie als auch ihre Komplizin Jeanne zweifelsohne teuflische Figuren. Zwar können sie ihren Plan, Geoffrey zu töten und dann nach allen Regeln der kulinarischen Kunst zuzubereiten und zu verspeisen, am Ende nicht durchführen, da ihnen Kleinkriminelle zuvorkommen, aber alleine ihre Pläne qualifizieren sie natürlich als das bewusste Böse, als das man den Teufel definieren mag.

Doch ist es Jauffrets Glück, dass das bewusste Böse in der französischen Literatur keineswegs nur dem Teufel vorbehalten ist, sondern auch Figuren wie der Marquise de Merteuil aus Laclos Les liaisons dangereuses, einem Briefroman, an den man sich bei Lektüre von Jauffrets Cannibales unwillkürlich erinnert fühlt. Denn nicht nur ist Cannibales ebenfalls ein Briefroman (mit exquisit bösen Figuren), auch sein stilistisches Niveau orientiert sich an seinen illustren Vorgängern aus dem 18. Jahrhundert und ist weit von heute in der Gattung denkbaren e-mail-Stil-Imitationen entfernt. Dazu passt, dass Jeanne in Cabourg wohnt, dem Seebad, das Proust in seiner Recherche unter dem Namen Balbec verewigt hat.

Von Nostalgie ist in diesen Referenzen bei Jauffret jedoch keine Spur, was schlicht daran liegt, dass jeder Anflug von Nostalgie im Roman durch das Groteske vieler Passagen wieder kassiert wird. So etwa, wenn Geoffrey seiner Mutter vorwirft, ihn nie geliebt zu haben, und diesen Vorwurf unter anderem mit der Anekdote untermauert, dass diese seine Plüschhasen zerschnitten, im Mixer mit Milch püriert habe und ihm diese „Milch“ dann zum Trinken verabreicht habe. An solchen Stellen droht der Roman mitunter sich selbst zu überfordern, da das Oszillieren zwischen psychologischer Plausibilität, ins Absurde geführtem Horror und einer stets latenten Parodie psychoanalytischer Diskurse manchmal doch etwas viel auf einmal ist. Wunderbar gelungen sind jedoch die vielen Passagen, in denen die programmatische Selbstverliebtheit Noémies köstlich zugespitzt wird, etwa wenn sie in einem Briefschluss formuliert. „Ich liebe Sie mit all meiner Liebe, deren Grenzen Sie kennen“.

Dass diese Grenzen enge sind, daran lässt der Roman keinen Zweifel. In Noémies Wesen fehlt schlicht der Platz für andere. Trotzdem erwägt sie es einen Moment lang, Kinder in die Welt zu setzen, da ihr das Bild der Sterilität, das kinderlose Frauen ab einem gewissen Alter ausstrahlen, doch sehr unattraktiv scheint. Sie erwägt es also, die Mühen der Schwangerschaft auf sich zu nehmen und das Risiko des Schmerzes über den Verlust, falls das Kind beim Versuch, ein abenteuerliches Selfie von sich zu schießen, vom Dach stürzt. Solcherlei spielerisch-absurde Fortführungen von Gedankengängen finden sich im Roman zu Hauf und Jauffret lässt es sich nicht nehmen, diesen Ton auch angesichts durchaus trauriger Themen nicht völlig aufzugeben. So wenn auf einmal von den Frauen der Moudjahidin die Rede ist, die ihre Männer empfangen, ehe diese dann losziehen, um „unsere Karikaturisten“ zu töten, die von „unseren sprunghaften Sicherheitskräften im Stich gelassen wurden“.

Die Debatte, warum die polizeiliche Bewachung der häufig von Morddrohungen heimgesuchten Redaktion von Charlie Hebdo vor den Attentaten im Januar 2015 zurückgefahren wurde, ist in Frankreich wieder sehr aktuell, nicht zuletzt weil Maryse Wolinksi, die Witwe des bei dem Attentat getöteten Karikaturisten Wolinski, in einem kürzlich erschienenen Buch (Chérie, je vais à Charlie) diese Fragen wieder aufwirft. Doch Jauffret geht es gewiss nicht um einen Beitrag zu dieser Debatte. Cannibales ist kein engagiertes Buch. Es erlaubt sich lediglich, alle Freiheiten, die die Literatur ihm bietet, zu nutzen – zum Genuss des Lesers.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Régis Jauffret: Cannibales.
Französisch.
Éditions du Seuil, Paris 2016.
192 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9782021309959

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