Abstraktion und Bildhaftigkeit in den letzten Dingen
Franz Kafkas Aphorismen im Band „Du bist die Aufgabe“
Von Clemens Hermann Wagner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Franz Kafka am frühen Morgen des 11. August 1917 erwachte, ereilte ihn jenes Schicksal, das sein Leben und Schreiben grundlegend verändern sollte. Kafka erlitt einen lebensbedrohlichen Blutsturz, ein untrügliches Symptom einer Tuberkuloseerkrankung, die seinem Leben sieben Jahre später ein Ende setzten sollte und die er als erklärter Anhänger der Naturheilkunde in das eigene Selbstbild zu integrieren versuchte. Er war seiner Ansicht nach nicht zufällig krank geworden, vielmehr drückte sich in der Erkrankung eine falsche und schwächende Lebensweise aus, die es umgehend zu korrigieren galt.
Aufgerieben zwischen seiner Identität als Angestellter der Prager Arbeiter-Unfallversicherung und seinem nächtlichen Schreiben von Erzählungen und Romanen, ausgezehrt von seinem ständigen und unbestimmbaren Zögern im Umgang mit der Geliebten Felice Bauer und verunsichert von einer Moderne, die in den Schützengräben des Weltkriegs ihr finsterstes Gesicht zeigte, suchte Kafka nach einer Möglichkeit zur Flucht aus den gewohnten Lebensbahnen und drohenden Verantwortungen. Er fand diese in seiner Rolle als Patient, der sich zur Genesung und eigenen Pflege zurückziehen musste. Seine Schwester Ottla war kurze Zeit zuvor in das kleine, böhmische Dorf Zürau gezogen, um dort einen Hof zu bewirtschaften. Für Kafka kam die Idylle und Abgeschiedenheit des Ortes gerade recht, hier konnte die Aufgabe endlich gelingen, die eigene Existenz neu und klar auszurichten. In Zürau sollte er 1917/18 überwintern und schließlich rund acht Monate erneut ein Doppelleben führen.
Während Kafka für die Dorfbewohner der Herr Doktor aus Prag war, um dessen Gesundheitszustand es nicht gut bestellt war und der zugleich trotzdem gerne bei der Gemüseernte half, verbrachte er viel Zeit mit zwei unscheinbaren Oktavheften, die gerade einmal wenige Zentimeter groß waren und die er in flüchtiger Schrift mit blassem Bleistift beschrieb. In ihnen finden sich häufig nur wenige Zeilen, die von Querstrichen und zahlreichen Korrekturen durchzogen sind. Entstanden sind in diesem Modus Aufzeichnungen, die durchaus mit dem unzureichenden Gattungsbegriff „Aphorismen“ kategorisiert werden können und zugleich weit mehr als die knappe und geistreiche Formulierung eines Gedankens sind.
Kafka versammelt in diesen Oktavheften Denkbilder, Notate zu Religion, Philosophie und der Wahrnehmung des Subjekts im Sturz der Realität. Die Aufzeichnungen oszillieren dabei zwischen surrealer Abstraktion und entschiedener Bildhaftigkeit. Thematisch eng verwoben arbeitet er sich mit seinen Aphorismen an Termini ab, die Rainer Stach als „Gipfelbegriffe der abendländischen Metaphysik“ bezeichnet. In der Auseinandersetzung mit den Fragen von Wahrheit, Gut, Böse, Glück und Tod sprechen Kafkas Zürauer Aufzeichnungen beunruhigend von den „letzten Dingen“ menschlicher Existenz und lassen die kurzen Notate damit zu moderner Reflexionsprosa werden, die in ihrer Transzendierung des Kontingenten in den Kern von Kafkas Werk vordringt.
Rainer Stach hat diese Perlen der Weltliteratur nun kundig und editorisch höchst präzise in einem sorgsam redigierten Band herausgegeben. Dabei ist es insbesondere der Kommentar Stachs, dem die dicht beschriebene Kafka-Biographie in drei Bänden (Die frühen Jahre, Die Jahre der Entscheidung, Die Jahre der Erkenntnis) bleibend zu verdanken ist, der die kryptischen Aphorismen in ihren Entstehungen, Variationen und intertextuelle Bezüge zu weiteren Werken Kafkas für den Leser nahbar werden lässt. Während Kafkas Aphorismen auf der linken Buchseite abgedruckt sind, erläutert Stach sie entsprechend ausführlich auf der gegenüberliegenden Seite. Da ist etwa der 16. Aphorismus mit dem eindringlichen Satz: „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ Hier führt Rainer Stach exemplarisch aus, wie Kafka zunächst das Verb „fangen“ verwendete, welche relevante Bedeutungsöffnung die Formulierung „suchen“ nach sich zieht und wie diese kurze Sentenz schließlich Kafkas Freiheitsverständnis berührt. Ergänzt wird der Band sodann durch den Abdruck einzelner handschriftlichen Aufzeichnungen aus den Oktavheften, Bildern aus Zürau und einem biographisch wie literaturwissenschaftlich gewinnbringenden Nachwort des Herausgebers.
Nicht einmal Max Brod, der alle Texte seines Freundes kannte, wusste zu Kafkas Lebzeiten um die Existenz der 109 Zürauer Aufzeichnungen. Welch literarisch und kultureller Glücksfall, dass Rainer Stach diese Aphorismen nun erstmals vollständig und umfangreich kommentierend herausgegeben hat und damit eine weitere Facette des Autors Franz Kafka erschließt.
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