Von Menschen und Pflanzen

Die Südkoreanerin Han Kang lässt in ihrer Erzählung „Die Vegetarierin“ das Timbre ovidscher Metamorphosen in einer entmythisierten Gegenwart anklingen

Von Isabel KriegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabel Kriegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Korea war 2005 Gastland der Frankfurter Buchmesse. Das ist mittlerweile über zehn Jahre her und noch immer ist koreanische Literatur in deutscher Übersetzung Mangelware. Mit der Schriftstellerin Han Kang hat es nun aber eine Südkoreanerin geschafft, weltweit große Anerkennung zu finden. Ihr Erfolg ist zum Teil der London Book Fair zu verdanken, die im Jahr 2014 mit dem Gastland Südkorea warb, woraufhin viele koreanische Romane ins Englische übersetzt wurden. „Die Vegetarierin“ gewann schließlich, nach einigen nationalen Preisen und Ehren bei Erstveröffentlichung 2007, den International Man Booker Prize (2016) und ist seit diesem Jahr auch in deutscher Übersetzung erhältlich.

Wir befinden uns im modernen Seoul. Der kleine Kosmos einer südkoreanischen Familie gerät aus dem Gleichgewicht, als die jüngste Tochter von einem Tag auf den anderen beschließt, sämtliche tierischen Produkte aus Küche, Haushalt und Leben zu entfernen. Weder der Ehemann, noch Eltern und Geschwister können ihre Entscheidung nachvollziehen. Sie beobachten mit Schrecken die mit dem Verzicht auf Fleisch einhergehende Wesensveränderung der jungen Frau. Yong-Hye wird immer weniger. Weniger Körper, weniger Stimme, weniger Anteil am Leben und, was für die Familie am schlimmsten ist, weniger gesellschaftsfähig. Wenn die Sonne scheint, zieht sie sich aus und hält ihre nackten Brüste in die Sonne. “Hände, Füße, Zähne, Zunge und sogar der Blick können Waffen sein, die verletzen oder gar töten. Nicht so die Brüste.“ Yong-Hye erkennt bald, warum alles Fleischliche sie dermaßen abstößt. Sie ist dabei sich zu verwandeln, vom blutrünstigen Raubtier Mensch, das sie war, in eine absolut reine Lebensform: Sie verwandelt sich in eine Pflanze.

Han Kang lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei Yong-Hyes Verfassung im medizinischen Sinne um eine Psychose handelt. Sie beschönigt weder den körperlichen Verfall eines Menschen, der irgendwann jede Nahrungsaufnahme verweigert, noch die Prozesse eines mitleidlosen gesellschaftlichen Apparates. Ein omnipräsentes Klima normalisierter Gewalt, besonders von männlicher Seite des Vaters und des Ehemanns, gibt Aufschlüsse über die Entstehung von Yong-Hyes Krankheit, aber Han Kang vermeidet simplifizierte und finite Diagnosen. Sie bleibt Geschichtenerzählerin: Düstere Träume aus Blut, Angst und wildem Morden plagen Yong-Hye und wer sie fragt, warum sie kein Fleisch mehr esse, dem erklärt sie, es sei wegen dieser Träume, von denen sie aufwacht und nicht mehr weiß, ob sie das Opfer von Gewalt oder selbst die Gewalttätige ist.

Das Thema Gewalt findet sich in vielen von Han Kangs Werken wieder. Wenn man die Geschichte des Landes betrachtet, in dem die Folgen einer langen Militärdiktatur noch zu spüren sind und das seit den frühen Neunzigern mit einer viel zu schnell herangetragenen Modernisierung kämpft, erklärt sich die literarische Aufräumarbeit des Themas. Han Kang hat sich in Korea bereits vor dem Erfolg von „Die Vegetarierin“ als Autorin etabliert, einige ihrer Geschichten wurden bereits verfilmt und seit 2013 lehrt sie am Seoul Institute of the Arts Kreatives Schreiben. In ihren Gedichten und Erzählungen lotet sie die unbehaglichen Tiefen von Zwischenmenschlichkeit aus und stellt Fragen über das Menschsein. Greek Lessons handelt vom Verweigern der Sprache als Instrument der Gewalt, während es in ihrem neuesten Roman Human Acts, der bislang nur in englischer Übersetzung vorliegt, um das Gwangju-Massaker 1980 in Korea geht, einem Studentenaufstand gegen das Regime, der auf brutale Weise niedergeschlagen wurde.

In Die Vegetarierin wird Gewalt auf subtilere, aber nicht minder beklemmende Weise dargestellt, als Hindernis auf dem Weg zu Identitätsfindung und Selbstbestimmtheit, in der Form von Fleisch und Fleischlichkeit. Trotz der fremden Umgebung einer eigentlich eher fremden Kultur, der der Roman entspringt, transportiert sich die Thematik unproblematisch über die Ländergrenzen hinweg. Dies liegt großenteils an Han Kangs klarer und unverblümter Sprache, die auf dunkle Art lyrisch, vor allem aber eindringlich sein kann. „My writing is a way of asking questions about human beings.“, wird Han Kang in einem Interview mit dem British Council im Rahmen der London Book Fair 2014 zitiert. So skizziert der Roman die Beschaffenheit des menschlichen Wesens anhand dreier Erzählstimmen, des Ehemanns, des Schwagers und der Schwester, die die Verwandlung der selbst stimmlosen Hauptfigur, Yong-Hye, miterleben. Gleichzeitig bilden die drei Erzählstimmen auch die drei Segmente des Romans, die ursprünglich separat veröffentlicht wurden. Noch heute wird „Die Vegetarierin“ im Verlag Changbi Publishers unter „Collected Short Stories“ geführt und nicht als „Novel“.

Analog zur Wahl des Romantitels, der nur an der Oberfläche des Plots kratzt, zeigt Han Kang auch in der Darstellung der familiären Beziehungen die Unfähigkeit der Handelnden auf, weiter als bis zu den Konturen ihrer Gegenüber vorzudringen. Jeder Erzählteil hat seine eigene Dynamik der Gewalt: vom selbstgefälligen, herrischen Ehemann bis zur hilfsbereiten, aber so hilflosen Schwester steigern alle Beteiligten Yong-Hyes Leiden. Es ist der zweite, der zentrale Teil des Romans, der besonders heraussticht und als Kurzgeschichte auch die meisten Auszeichnungen erhalten hat. „Der Mongolenfleck“ ist ein intensives Poetikum erotischer Drastik. Der Schwager, ein eher erfolgloser Künstler, meint in Yong-Hye die Fleisch gewordene Fantasie für ein neues Videokunstwerk zu sehen, das die reine und primitiv-ursprüngliche Vereinigung eines bis auf üppige Blumenbemalung nackten Paares zeigen soll. Er steigert sich in die Vorstellung hinein, sie sei aufgrund eines fahlgrünen Pigmentflecks (dem „Mongolenfleck“) für den weiblichen Part bestimmt. Jener sei eine „Reminiszenz an die graue Vorzeit, als die Evolution der Arten gerade erst begonnen hatte, gewissermaßen ein Überbleibsel der Photosynthese“. In diesem intimen Moment des gegenseitigen Erkennens – oder Verkennens, wird ihr die Idee der vegetativen Wahrheit ihres Wesens quasi aufgezwungen, ihre Psychose endgültig bestärkt.

Gewalt, Gesellschaft, Identität sind universelle Themen, die die Tendenz haben abgeschmackt und fade zu wirken. Wie oft hat man schon über das Untier Mensch oder die Befreiung einer jungen Frau aus familiären und gesellschaftlichen Machtstrukturen gelesen? Doch selten wird das Motiv des „Nicht-mehr-Mensch-sein-wollen“ so weit ausgereizt, wie Han Kang es hier auf unsentimentale Art mit unangestrengter fernöstlicher Bildsprache gelingt: Der Regress der Protagonistin nicht zurück zum Kindlichen, sondern zur Natur als ein mit ihr verschmelzender Teil.

In Ovids Metamorphosen gibt es einige Dichtungen über Frauen, die in Pflanzen oder Bäume verwandelt werden. Daphne, zum Beispiel, die sich in einen Lorbeer verwandelt, oder die Mutter des Adonis, die zu einem Myrrhebaum wird. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie sich auf der Flucht vor Männern, Göttern, Königen und Vätern befinden, von denen – man ahnt es – Gewalt droht. Zur Pflanze zu werden ist hier die Rettung. Wenn die Metamorphose aber zum Auswuchs einer Schizophrenie wird, dann wurden ovidsche Motive in eine desillusionierte, entmythisierte Gegenwart transferiert. Wer so viel Hoffnungslosigkeit nicht verträgt, dem sei die Lektüre von „Fruits of my Woman“ (2000) empfohlen. In dieser Erzählung, Han Kangs erster Variante des literarischen Stoffs von Menschen, die zu Pflanzen werden, setzt sich das Phantastische durch, die Verwandlung glückt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Han Kang: Die Vegetarierin. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee.
Aufbau Verlag, Berlin 2016.
189 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783351036539

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