Die Grenzen tragen Trauerflor

Bernd Kasparek beleuchtet die Hinter- und Abgründe der europäischen Migrationspolitik

Von Maurizio BachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maurizio Bach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die territorialen Grenzen Europas rücken immer mehr in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und der Politik. Die jährlich in die Tausenden gehenden Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, die wiederkehrenden dramatischen Vorfälle an den Grenzzäunen von Ceuta und Melilla und die menschenverachtenden Zustände in den Auffanglagern an der griechisch-türkischen Grenze sind zu Sinnbildern einer täglichen humanitären Katastrophe an den Rändern Europas geworden. Spätestens seit jenen dramatischen Tagen im Herbst 2015, als Syrerinnen und Syrer an Deutschlands Bahnhöfen strandeten, dominiert die „Flüchtlingskrise“ die öffentliche Debatte. Lange Zeit eine Institution im Wahrnehmungsschatten und bestenfalls Thema von Fachexperten, sind die Wirklichkeit und der Begriff der Grenze zu einem Politikum allerersten Ranges avanciert. An der Grenzfrage respektive Migrationsfrage entzünden sich derzeit in den meisten Länder Europas die schärfsten innenpolitischen Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten. Mittlerweile entscheidet die Migrationsfrage in all ihren Facetten sogar über die Regierungsbildung in Paris, Wien, Berlin oder Rom. Auch trägt sie wesentlich zur Beschleunigung des Zerfalls der Europäischen Union als Solidarverband bei. Die Sicherung der Außengrenze ist zur Schicksalsfrage Europas geworden.

Der vertrackten Problematik der europäischen Grenzen- bzw. Migrationspolitik ist das zu besprechende Einführungsbuch von Bernd Kasparek gewidmet. Der Autor, ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Migrationspolitik und Aktivist in einschlägigen NGOs, gibt einen fundierten Überblick über die Entwicklung der Migrations- und Grenzsicherungspolitiken auf europäischer wie auf nationaler Ebene. Er zeichnet die lange und wechselvolle Vorgeschichte der „Flüchtlingskrise“ in ihren Eckdaten und Hauptetappen akkurat nach und zeigt, wie eng diese mit der verfehlten Migrationspolitik der Europäischen Union, ja, mit der supranationalen Integrationslogik insgesamt verzahnt ist.

Faktengestützt, konzentriert und in klarer Sprache rekonstruiert der Autor die Hauptetappen der europäischen Migrations- und Asylpolitik: ausgehend vom Schengener Abkommen (1985), in dem noch der systematische Abbau von Grenzen im Vordergrund stand, was die Grenzenfrage zur „treibenden Kraft der Europäisierung“ werden und – historisch einmalig – die Herausbildung eines post-nationalen Raumes greifbar werden ließ, über die schrittweise Neudefinition der Grenze als „Steuerungsinstrument“ und „Kontrolltechnik“ zur Abwehr von irregulärer Massenzuwanderung im Rahmen der Dublin-Vereinbarungen bis hin zur aktuellen „Flüchtlingskrise“, der dramatischen Auflösung des Schengen-Systems und dem „Türkei-Deal“.

In dem unübersichtlichen Geflecht von technokratisch-polizeilichen Agenturen und Operationen, die sich hinter Akronymen wie FRONTEX, EURODAC, EUROSUR oder RABBIT verbergen (im Glossar übersichtlich aufgeschlüsselt), verdichten sich, wie Kasparek überzeugend darlegt, die Kernstrukturen des europäischen „Grenz- und Migrationsregimes“. Dabei handle es sich um eine „diffuse und sich ständig wandelnde Gemengelage“, deren Analyse von der Einsicht geleitet wird, „dass in diesem Netzwerk von Akteuren, Diskursen, rechtlichen Ordnungen und Infrastrukturen Politik ein ständiger Aushandlungsprozess ist, dessen (…) Kompetenzstreitigkeiten, hidden agendas und kurzfristige Taktiken (…) die Entwicklungsrichtung des Regimes dabei genauso wie langfristige Rationalitäten und immer wieder krisenhafte Momente (bestimmen).“ Als eine dominierende hidden agenda glaubt Kasparek die einer fortschreitenden „Versicherheitlichung“ entdeckt zu haben, mithin diejenige einer „fundamentale(n) Verschiebung der Migrationspolitik von Arbeitsmarktpolitik hin zu einer letztlich polizeilichen Frage der Zugangskontrolle zum nationalen Territorium (…). Migration wurde damit als Frage der ‚Inneren Sicherheit’ definiert“.

Kasparek will also nicht nur beschreiben und informieren, schon gar nicht sich der migrationspolitischen Programmatik der Europäischen Union anschmiegen. Sein Anliegen ist, wie der Untertitel bereits deutlich macht, eine Kritik des Migrationssystems. Indem die Untersuchung von einer emphatischen Menschenrechtsperspektive getragen ist, wird sie dem Anspruch einer „kritischen“ Einführung auch weitgehend gerecht. So erfährt der Begriff der Grenze dadurch eine aufschlussreiche Entdinglichung: Die Grenze wird als ein genuin gesellschaftliches Gebilde gedeutet, mithin als sozial erzeugte Institution. Damit wird sie ihres scheinbaren Objektcharakters entkleidet. Es wird deutlich, dass sich in den Grenzen Europas komplexe bürokratische Disziplinierungsstrategien mit funktionaler Wissensgenerierung und mit Diskursen, etwa im Rahmen der „Risikoanalyseeinheit“ von FRONTEX, verbinden.

Sichtbar wird auch, dass das System technologisch-militärischer Grenzsicherung in Verbindung mit der Externalisierung bzw. dem Outsourcing von Grenzkontrollen, am offenkundigsten beim EU-Türkei-Deal, die (geo-)politischen Machtbeziehungen zwischen der Europäischen Union, den Mitgliedstaaten an der Peripherie und den Anrainerstaaten grundlegend verändert. Dabei werden Vertriebene und Flüchtlinge oftmals zu Geiseln oder zu Tauschobjekten von Regierungen und Despoten degradiert. So wird sinnfällig, dass die europäischen Grenzen nicht nur ein technokratisches Managementproblem darstellen, sondern einen in der Praxis inhumanen Komplex von Herrschaftsdiskursen und -praktiken verkörpern.

Ob politisch intendiert oder als verselbständigte unbeabsichtigte Nebenfolgen, in der Konsequenz wohnt nach Kasparek dem europäischen „Grenzregime“ eine starke Tendenz zur „Entrechtung“, sozialen Exklusion von Zuwanderern sowie eine zunehmende „Brutalisierung“ inne. Diese steht im eklatanten Widerspruch zum normativen Selbstverständnis der Europäischen Union als demokratische und rechtstaatliche Wertegemeinschaft. Der humanistische Blick rückt die menschlichen Opfer und das Leiden in den Mittelpunkt, was dem Band den Charakter einer Anklageschrift verleiht. Appelliert wird an die Verantwortungsbewussten, die Migranten nicht ihrem Schicksal zu überlassen, denn dann blieben sie weiter die wohlfeile, weil schutzlose Manövriermasse für politische Tauschgeschäfte von Regierungen und nationalistischen Kräften.

Kaspareks Einsicht, dass Europas Außengrenze keine Naturtatsache ist, sondern ein durch die europäische Vergesellschaftung im Institutionengefüge der Europäischen Union erst geschaffenes, mithin ein künstliches Gebilde darstellt, ist bedeutsam. Sie veranschaulicht, dass die Außengrenze nichts anderes ist als ein paradoxes Konstrukt des Jahrhundertprojekts eines „Europa ohne Grenzen“, wie es zunächst im Binnenmarkt und später dann im Schengenraum institutionalisiert wurde. An der sukzessiven Errichtung der Außengrenze, als ein unbeabsichtigter Effekt der Abschaffung der Personenkontrollen im Schengen-Raum, wird deutlich, dass auch die Europäische Union der territorialen Dialektik staatlicher Verbände unterliegt: kein politischer Raum ohne Grenzen; keine Grenzöffnung ohne entsprechende Schließung am äußeren Ring des konzentrischen Gefüges.

Es ist somit folgerichtig, wenn Kasparek auf diesem Hintergrund argumentiert, die Europäische Union trage eine „Mitschuld“ an den sich wiederholenden humanitären Katastrophen an ihren Grenzen. Denn „diese Politik führte auch dazu, dass Menschen auf dem Weg nach Europa beispielsweise in libyschen Gefängnissen festgehalten wurden, im Mittelmeer ertranken oder am Rande Europas interniert wurden – oder trotz Anerkennung als Flüchtlinge aus den Gesellschaften ausgeschlossen bleiben“. Die Europäische Union ist jedoch kein moralisches Subjekt, sondern eine komplexe politische Institutionenordnung mit einer Vielzahl von Akteuren. Aufschlussreicher wäre eine genauere Analyse der in der institutionellen Struktur und Logik angelegten Fallstricke und Dilemmata gewesen, um die tieferen Ursachen der Misere der europäischen Migrationspolitik aufzudecken.

Das Pathos der Menschenrechte, unverzichtbare Ressource im politischen Kampf um eine humanere Gesellschaft, neigt unbeabsichtigt dazu, gewisse innere Paradoxien der Demokratie auszublenden. Wenn der Autor die Demokratie als ideale Politikform für eine Humanisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Zuwanderung ins Feld führt, erweist sich seine Argumentation als kurzatmig. Plädiert er für eine „Demokratisierung der Grenze“ im Sinne einer universalen Migrationsfreiheit mit eigenständiger Ortswahl und Bürgerrechten für alle, gleich welcher Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit, so bleibt unbeachtet, dass insbesondere demokratisch verfasste Gesellschaften in dieser Frage besonders irritierbar sind.

Eine naive Menschenrechtsperspektive macht blind gegenüber einer grundlegenden Zwickmühle der Demokratie: Als nationalstaatliche Verfassungsordnung unterliegt sie ebenfalls der territorialen Logik. Sie hat zwar die Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben, der Demos, die Wählerschaft bleibt jedoch an ein durch territoriale Grenzen definiertes Staatsgebiet gebunden. Die Demokratie verkörpert zwar einen Universalitätsanspruch, als nationale Ordnung verkörpert sie aber zugleich stets nur partikulare Kulturen und Gesellschaften, die deutsche, die italienische usw. Räumliche Grenzen sind für die Lebensfähigkeit von modernen Massendemokratien ein nicht nur äußerliches oder zufälliges Element, sondern grundlegend. So ist auch das Legitimationsprinzip der Volkssouveränität an einen nationalen Demos gebunden, also an ein topographisch abgegrenztes „Volk“. Dieses kann prinzipiell sowohl eine formal staatsbürgerliche als auch eine ethnisch-nationalistische Konkretisierung erfahren. In Krisensituationen wie der gegenwärtigen gewinnt der Nationalismus eher Deutungskraft als die Bürgerrechte. Hier liegt die Achillesferse der Demokratie: Sie bietet legitime institutionelle Kanäle für die Artikulation, Emotionalisierung und Mobilisierung nationalistisch gesinnter Opposition und fremdenfeindlicher Ressentiments. Dadurch können unter bestimmten Bedingungen Grenzen- und Migrationsfragen eine hochbrisante, krisenverstärkende und destabilisierende Politisierung erfahren, wie der europaweite Aufstieg der rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien und Bewegungen der vergangenen Jahre exemplarisch zeigt.

Gegenüber solchen demokratietheoretischen Implikationen des europäischen Grenzen- und Migrationsregimes zeigt sich das Bändchen von Kasparek allerdings erstaunlich unkritisch. Das vermag freilich nicht dessen Meriten zu schmälern: Bündig, anschaulich und sachlich gehaltvoll arbeitet es das erschreckende Janusgesicht der EU-Außengrenzen – zugleich postnationales Ideal und militarisierter cordon sanitaire –  heraus, ohne dabei die zahllosen menschlichen Opfer aus den Blick zu verlieren. „Schengen“, „Dublin“ und die „Flüchtlingskrise“ finden sich in diesem kleinformatigen, aber gehaltvollen Büchlein kompetent und überzeugend als Kumulationspunkte einer lange Zeit schon im verborgenen schwelenden Strukturmisere der europäischen Gesellschaft dechiffriert.

Titelbild

Bernd Kasparek: Europas Grenzen: Flucht, Asyl und Migration. Eine kritische Einführung.
Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2017.
153 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-13: 9783865057389

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