Eine genial einfache Konstruktion

Bernhard Kegels „Käfer“ ist süffig, witzig und informativ zugleich

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gregor Samsa ist vielleicht überhaupt kein Käfer. Seine Beschreibung ist schließlich nicht nur ungenau, sondern auch widersprüchlich. Zwar ist, als er „eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte“ und „sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ sah, von einem „panzerartig harten Rücken“ die Rede, der ihm das Rollen vom Rücken auf die Beine erschwert (womit Kafka eigentlich nur die Flügeldecken eines Käfers gemeint haben kann). Später jedoch wirft sein Vater einen Apfel nach ihm, der in ebenjenem Rücken einfach steckenbleibt – was nun wirklich nicht möglich ist. Auch die „vielen Beinchen“, die Kafka wiederholt in Die Verwandlung erwähnt, und die ständig in Bewegung sind und eine Art Klebstoff absondern, mit deren Hilfe sich Gregor Samsa an der Decke festhalten kann, sind eher untypisch. Zudem haben Käfer sechs Beine, nicht „viele“: „Und wenn es denn genau sechs und nicht acht oder zehn oder zweihundert sein sollten, hätte Kafka das dann nicht wenigstens an einer Stelle auch erwähnen können, anstatt immer nur von ‚vielen“ zu sprechen? So muss man sogar an der Insektennatur des verwandelten Gregor Samsa zweifeln“, schreibt Bernhard Kegel.

Kegel muss es wissen, denn er ist Insektenforscher. In einem kleinen, wie immer schön aufgemachten Buch aus der Reihe Naturkunden schwärmt er von diesen Tieren: Mit süffisanter Zustimmung zitiert er den Biologen J.H. Haldane und dessen Auffassung, Gott habe offenbar „eine außerordentliche Zuneigung (inordinate fondness) zu Käfern“, weil er so viele verschiedene erschaffen habe – jede vierte Tierart ist ein Käfer. Und Haldanes Freund Kenneth Kermack sagte einmal: „Wenn wir dereinst den Allmächtigen von Angesicht zu Angesicht treffen, wird er einem Käfer ähnlich sehen und nicht Dr. Carey“, dem damaligen Erzbischof von Canterbury.

In einem gleichzeitig sachlichen und amüsanten Plauderton voll trockenem Witz und vielen Informationen gibt Kegel eine schöne Einführung in die Käferkunde. Angefangen bei der „genial einfachen Konstruktion: eine kompakte Kopfkapsel mit allerlei beweglichen Anhängen, mit leistungsfähigen Sinnesorganen und kräftigen Kiefern, ein mehr oder weniger röhrenförmiges stabiles Verbindungsteil und ein Hinterleib mit den lebenswichtigen inneren Organen, bauch- und rückenseitig jeweils von einem halben Dutzend schalenförmigen Skelettelementen geschützt. Diese sind durch elastische Häute verbunden und daher so flexibel, dass das Ganze gefahrlos auch auf das doppelte Volumen anschwellen kann, zum Beispiel wenn Weibchen darin vorübergehend eine große Anzahl Eier unterbringen müssen. Kurz: Eine Chitinrüstung aus drei beweglich miteinander verbundenen Körperteilen, dazu drei Beinpaare und die raffiniert verpackten Flügel – fertig ist der Käferkörper.“

Millionen von Arten soll es geben, schätzt man. Es können 1,5 Millionen sein oder auch 2 Millionen, man weiß es nicht. Erst 380 000 wurden bisher beschrieben und mit Namen versehen. Dabei gibt es riesige Unterschiede im Aussehen, vom handgroßen südamerikanischen Riesenbockkäfer Titanus giganteus („Seine Kieferzangen, die Mandibeln, sind so stark und scharf, dass man sie als Gartenschere benutzen könnte.“) bis zum Mistkäfer oder dem eher putzigen Maikäfer. Ein Formenreichtum, der im gesamten Tierreich einmalig ist.

Natürlich kann Kegel sie in seiner kleinen Einführung nicht alle aufzählen. Doch sind es noch immer genug, um den unbedarften Leser ins Staunen zu versetzen. Nicht nur über die Käfer selbst, die so widerstandsfähig sind, sondern auch (anekdotisch und faktenreich) über die Sammler und Forscher, von Charles Darwin bis Ernst Jünger, darunter auch der Münchner Trachtenfabrikant Georg Frey, der sich eine gigantische Privatsammlung aufbaute, die seine Witwe nach seinem Tod in die Schweiz verkaufen wollte. Damals ging ein Aufschrei durch die deutsche Sammlerlandschaft; der bayerische Innenminister musste entscheiden, ob die Sammlung nicht ein Staatsschatz war und das Land überhaupt verlassen durfte.

Mit viel Liebe erzählt Kegel auch von seinen ersten Sammeleien und der Insektenbörse, auf der er jedes Jahr neue Käfer kaufte. Seinen Eltern waren diese egal, solange sie tot waren, doch bei Kegel sorgen Käfer bis heute für eine besondere Art der Begeisterung, an der er uns teilhalben lässt: „Man betrachte nur einmal zwanzig Zweipunktmarienkäfer nebeneinander, und man wird feststellen, dass keiner wie der andere ist. Und man sieht und staunt, was über lange Zeiträume daraus werden kann, hier und andernorts, die schier unfassbare Zahl an Spezies, die alle den gleichen einfachen Grundbauplan in einer Weise variieren, die immer wieder überrascht.“ Inzwischen hat er das Sammeln aufgegeben, da man die Käfer dafür töten muss, und das will Kegel nicht mehr. Denn wie viele andere Tierarten sind auch die Käfer bedroht. Man merkt das u.a. an den sauberen Windschutzscheiben – noch vor dreißig Jahren war das anders.

Sehr beliebt sind die Käfer nicht, stehen auf der Unbeliebtheitsskala der Tiere, speziell der Insekten, jedoch auch nicht ganz unten. Da gibt es ja noch die Kakerlaken und die Stechmücken. Ganz im Gegenteil wurde ein Käfer sogar verehrt: Der Skarabäus war für die Ägypter, Etrusker, Griechen und Römer ein heiliges Tier, verewigt in ihrer Kunst. In den Mythen der Cochiti-Pueblo, der Cherokee, der Bushongo im Kongo und der Toba auf Sumatra spielt er eine Rolle in der Erschaffung der Welt; möglicherweise stand er sogar Pate bei der Erfindung des Rads. Auf jeden Fall sind die Pillendreher und Dungkäfer, die die Tierexkremente in die Erde einarbeiten und damit mit Nährstoffen versorgen, sehr wichtig: Der Direktor des Nürnberger Zoos, Dag Encke, sagte einmal: „Ohne sie wäre die Serengeti in wenigen Wochen meterhoch zugeschissen.“

 

Titelbild

Bernhard Kegel: Käfer.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577924

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