Liebe in Zeiten des Bürgerkrieges

Louise Kennedys überzeugendes Romandebüt „Übertretung“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zusammenhang mit einem in Grenznähe entdeckten Waffenlager sind im Süden der Grafschaft Down zwei Männer verhaftet worden. Ein Löwe ist aus dem Zoo ausgebrochen. Ist durch Gärten und Hinterhöfe bis zur Shore Road gesprungen ,…

Im Belfast des Jahres 1975 werden an der Schule, an der die junge Cushla Lavery unterrichtet, auf Anweisung des Schulleiters vor dem Unterricht die Nachrichten vorgelesen, kommentiert, ansatzweise diskutiert. Cushla macht sich angesichts des darin so oft vorkommenden Vokabulars Sorgen um den Wortschatz Siebenjähriger: „Sprengfalle. Brandsatz. Plastiksprengstoff…“ Mit diesen schonungslosen Beschreibungen katapultiert Louise Kennedy ihre Leserinnen und Leser in ihrem Erstling in die Realität jener Zeit in Nordirland, die Zeit der sogenannten „Troubles“. Cushla Lavery, die mit ihrer alkoholkranken Mutter Gina zusammenlebt und neben ihrer Arbeit an der Schule noch in der Bar ihres Bruders Eamonn aushilft, kennt all diese Härten des Lebens aus eigener Anschauung und Erfahrung. Ihre Familie ist katholisch, der Pub liegt in einer protestantisch geprägten Vorstadt. An einer Stelle denkt sie: „Die Kinder hier wussten einfach zu viel.“

Der Komplex Schule, Kinder, Gewalt und Erziehung ist eines der wichtigen Themen dieses sehr konsequent und sicher erzählten Buches, das deutlich macht, wie eine ganze Gesellschaft verrohen kann und traumatisiert wird. Cushla Lavery wird im Verlauf des Buches zwei bemerkenswerte Entwicklungen durchmachen: sie wird sich äußerst couragiert für ihren Schüler Davy McGeown einsetzen und sie wird sich in den viel älteren Prozessanwalt Michael Agnew verlieben. Die anderen Hauptthemen des Buches: Familie ist eines davon, Liebe und Leidenschaft ein weiteres. Cushlas Familie ist selbst eine Art Ort der Zerstörung und Gewalt, der Trauer und des Durchhaltens. Die von Eamonn betriebene Bar ist häufig Schauplatz von Auseinandersetzungen, sowohl bezogen auf Familienmitglieder, als auch auf den Umgang mit Gästen. So muss sich Cushla die Widerwärtigkeiten angetrunkener britischer Soldaten gefallen lassen, da der Fortbestand der Bar auch von deren Wohlwollen abhängt, sie und ihr Bruder streiten häufig, zumal Eamonn weniger klar und radikal in seiner politischen Haltung ist. Und dann ist da Gina, die in schlimmen Phasen nicht aus dem Bett kommt und die Kraft und den Willen ihrer Tochter ein ums andere Mal auf die Probe stellt. Doch trotz allem halten die Laverys zusammen.

Diesen Zusammenhalt gibt es zumindest teilweise auch in der Familie McGeown, die im falschen Viertel lebt, weswegen es zu ihrem Alltag gehört, von Nachbarn schikaniert, gedemütigt und beschimpft zu werden. Als Cushla gemeinsam mit ihrer Mutter bei den McGeowns ein wenig hilft, weil Davys Vater beinahe totgeprügelt wurde, kommt es zu diesem Dialog: „‚Ideales Wetter zum Wäschetrocknen‘, sagte Gina. ‚Ihr könntet die Sachen draußen aufhängen.‘ ‚Die Nachbarn schneiden dauernd unsere Wäscheleine durch.‘ ‚Sie schmeißen Hundescheiße über den Zaun‘, sagte Davy. ‚Reizend‘, sagte Gina.“ Davys Mutter versucht alles, um ihre Familie zusammenzuhalten, doch der 18jährige Tommy, der die Schule verlassen hat, anfangs noch für Argumente und auch für Bücher, die Cushla ihm leiht, erreichbar ist, gibt den Kontakt mehr und mehr auf, radikalisiert sich ob seiner unbändigen Wut und Ohnmacht. Er ist eines der politisch-gesellschaftlichen Opfer, von denen es in diesem unbarmherzigen Bürgerkrieg wahrscheinlich unzählige gab.

In all diesem Schrecken gibt es allerdings auch einige positive Dinge, z. B. die schon erwähnte Unterstützung anderer, die sonst kaum noch wüssten, wie sie aus ihrem Elend herauskommen können. Oder manche lustige Szenen und Dialoge in Eamonns Bar. Vor allem aber die Liebe, auch wenn diese sofort Gefahr mit sich bringt. Denn Michael Agnew ist ein verheirateter Anwalt, der sich mit seiner klaren Haltung vor Gericht nicht nur Freunde macht. Die enorme Leidenschaft, die ihn und Cushla in einen heftigen Strudel zieht, birgt immer auch das Risiko, entdeckt zu werden und dadurch unfassbaren Ärger und schlimme Konsequenzen auszulösen. Auch hier ist Louise Kennedy ganz nah an ihren Figuren, beschreibt die Körperlichkeit, die Lust, den Leichtsinn, die fast nicht aushaltbaren Gefühle mit Klarheit und Intensität. Überhaupt ist das die Stärke des Buches: die Intensität, mit welcher die hoch talentierte Autorin ihren Stoff und ihre Themen fasst. Und so wird Übertretung durch weitere Aspekte, wie beispielsweise die Kirche, die hier durch den alten Father Slattery und seine widerliche Art der Machtausübung verkörpert wird, immer komplexer. Das tut dem Roman gut, die Atmosphäre ist permanent aufgeladen, das Buch liest sich sehr spannend, die jeweiligen Szenen und Nebenfiguren und Seitenstränge machen das Buch zu einem starken, pochenden, brodelnden Kraftwerk, in dem auch die (irische) Sprache, die Literatur und die irische Kultur einen festen Platz haben. Louise Kennedy ist eine große Entdeckung, Übertretung ein international gefeiertes Buch, das die deutsche Leserschaft ebenso begeistern wird, was unter anderem auch an der bemerkenswerten Übersetzung von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser liegt.

Titelbild

Louise Kennedy: Übertretung.
Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser.
Steidl Verlag, Göttingen 2023.
320 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783969992593

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