Wie der Wal seinen engen Schlund und die Welt das Alphabet bekam

Rudyard Kiplings Kindergeschichten in der Neuübersetzung von Andreas Nohl

Von Anja BeisiegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Beisiegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum haben Leoparden Flecken, wie kommt das Kamel zu seinem Höcker und weshalb hat der Elefant einen Rüssel? Rudyard Kipling (1865–1936) wurden diese Warum-Fragen immer wieder von seinen Kindern gestellt. Er fand darauf Antworten, die so einfallsreich wie plausibel sind, und auch den erwachsenen Leser verblüffen und unterhalten.

Die Erzählungen wurden 1902 erstmals unter dem Titel Just So Stories for Little Children veröffentlicht. Kipling verfasste das Buch eigentlich für seine älteste Tochter Effie als privates Vorlesebuch. Bereits 1894/95 hatte er mit dem Dschungelbuch (The Jungle Books) ein Buch für Jugendliche und Kinder vorgelegt.

In den Just So Stories sind 13 kurze Erzählungen vereint, die Kipling genauso („Just so“) seinen Kindern erzählt und vorgelesen hat. Der Charakter des mündlichen Erzählens schlägt sich in den Texten nieder. So wird die kleine Adressatin der Texte stets mit „mein Herzensschatz“ angesprochen und erhält auch zwischendrin immer wieder kurze Erläuterungen und Regieanweisungen. All dies gibt dem Buch eine hohe erzählerische Authentizität und schafft einen intimen Raum zwischen Erzähler und Leser (und natürlich zwischen Vorleser und Zuhörer).

Die Formelhaftigkeit der Dialoge und das häufige Wiederholen von Details erhöhen für den Leser (respektive die kleinen Zuhörer) das Verständnis und den Wiedererkennungswert. Kipling selbst verwendete die Geschichten als sichere Einschlafhilfen für seine Kinder. Die ersten drei Geschichten (die vom Wal, die vom Kamel und die vom Rhinozeros) waren im Kiplingʼschen Kinderzimmer „schließlich so etwas wie Zaubersprüche“. Wichtig war jedoch, dass alles im Wortlaut „genauso“ erzählt wurde wie immer.

Neben Antworten auf die drängenden zoologischen Warum-Fragen geben die Geschichten auch Einblick in das Leben unserer steinzeitlichen Vorfahren. Kiplings Paläolithikum-Familie bestehend aus Mutter („Frau-die-sehr viele-Fragen stellt“) Vater („Mann-der-seinen-Fuß-nicht in Hetze-vorwärtsbewegt“) und Töchterchen („Kleine-Person-ohne-Manieren-die-verhauen-gehört“). Das aufgeweckte Mädchen schreibt den ersten Brief der Menschheit und erfindet (nachdem sich ihre Hieroglyphen als äußerst missverständlich erweisen) kurzerhand das Alphabet. Rudyard Kipling zeigt an seiner Steinzeit-Kleinfamilie – im Schnelldurchgang – wie der Mensch zu seinen Haustieren Hund, Pferd und Kuh kam. Außerdem liefert er eine originelle Erklärung dafür, warum die Katze unter allen domestizierten Tieren eine extravagante Sonderstellung einnimmt.

Für Kinder ab dem Kindergartenalter eignen sich die Geschichten um Gürteltier, Känguru und Schmetterling gut als Vorlesegeschichten. Für erwachsene Leser sind die Geschichten ein sprachlicher Genuss und stecken voller unerwarteter Antworten auf Fragen, die man sich so vielleicht noch nie gestellt hat. Kiplings explizite Leser- (beziehungsweise Zuhörer-)Ansprache schafft Nähe zwischen Erzähler und Leser. Der Erzähler (sowie Autor und Vater) wird zum humorvollen Geschichtenerzähler, der Leser zum staunenden Zuhörer.

Eigentlich hatte Kipling die Originalfassung mit eigenen Illustrationen ausgestattet, die in die vorliegende Ausgabe jedoch nicht übernommen wurden. Anstelle der ursprünglichen Illustrationen hat Kathrin Schäfer hat das Buch mit zahlreichen neuen Zeichnungen gestaltet, die Kiplings zoologisch-anthropologisches Panoptikum auf lustige Weise lebendig werden lassen. Die Zeichnungen sind in einer Melange aus realistischer Detailfreude und liebevoller Komik gut auf Kiplings Erzählstil abgetönt. Schäfers Illustrationen bilden (auch durch das gelungene Layout) eine so innige Einheit mit dem Text, dass man den Verlust der Originalzeichnungen gut verkraften kann.

Die Übersetzung und Herausgabe des Buches hat Andreas Nohl übernommen, der 2015 auch Kiplings Roman Kim übersetzte. Nohls Ziel war es, mit seiner Neuausgabe ein reines Kinderbuch für „heutige Kinder“ zu gestalten. Dieser Plan ist mit dem vorliegenden Buch aufgegangen. Und ganz nebenbei ist eine unterhaltende Lektüre für „heutige Erwachsene“ entstanden.

Titelbild

Rudyard Kipling: Der Schmetterling, der mit dem Fuß aufstampfte.
Durchgehend farbig illustriert von Kathrin Schäfer.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Nohl.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
224 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446252998

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