Über die Lust am Lesen

Ein Sammelband, herausgegeben von Irina Hron, Jadwiga Kita-Huber und Sanna Schulte, untersucht literarische und andere „Leseszenen“

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2005 erschien der inzwischen zum internationalen Bestseller gekürte großformatige Bildband Frauen, die lesen, sind gefährlich. Diese Publikation hatte auch deshalb – einen bis heute andauernden – Erfolg, weil sie den Blick auf die Interieurs intimer Leseszenen gestattete, auf collagierte Posen von Leserinnen aus mehreren Jahrhunderten, gesehen und gestaltet zumeist von malenden Männern. Der Herausgeber Stefan Bollmann rückte so das Medium Buch in ein neues Licht.

Einen anderen Weg sind die Wiener Literaturwissenschaftlerinnen Irina Hron, Jadwiga Kita-Huber und Sanna Schulte gegangen. Der von ihnen gemeinsam herausgegebene Sammelband Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialiät bietet ebenfalls Einblicke in die Kulturgeschichte des Lesens und seiner Ikonografie, allerdings wenden sich die Herausgeberinnen und die anderen Beiträger*innen dieses Bandes nicht nur – wie Bollmann – den weiblichen Allegorien des Lesens zu, sondern erweitern genderunabhängig den Blick auf die Sozial- und Kulturgeschichte des Lesens und auf das mit der „Lust am Text“ (Roland Barthes) verbundene Begehren. Sie bewegen sich damit auf den Spuren des Anglisten und Literaturwissenschaftlers Wolfgang Iser (1926–2007), der in den 70er Jahren die universitär verortete Erforschung einer Wirkungsästhetik wesentlich mitbegründet hat. Die Darstellung der Wirklichkeit sei – so Iser – immer auch Teil ihrer Wirkung auf den Leser, die „Sinnkonstitution“ eines Textes sei das Ergebnis der „unverkennbaren Aktivität“ des „impliziten“ Lesers. Iser ging es dabei nicht um eine Lesertypologie, sondern um den schon im Text angelegten „Aktcharakter“ des Lesens.

In den Beiträgen des anzuzeigenden Sammelbandes geht es im Wesentlichen um die Darstellung und Reflexion des Lesens als Kulturtechnik in literarischen Texten. Analog zu Isers Definition des Leseaktes werden Leseszenen herauspräpariert, zumeist korreliert mit den entsprechenden Schreibszenen in den Werken der vorgestellten Autorinnen und Autoren. Wie bei Iser auch geht es zumeist um Romanwelten und die agierenden „Figuren“ in sogenannten Leseszenen, die in Analogie zu den Ergebnissen einer mittlerweile im Wissenschaftsbetrieb bereits fest etablierten Schreibszenenforschung untersucht worden sind. Die Erforschung von Leseszenen müsse sich – zunächst recht allgemein definiert – auf die „Komplexität des Lesevorgangs“ (Christian Benne) fokussieren, je nach „ihrer historisch spezifischen Einbettung in Situationen, in denen gelesen wird, nach Begleitumständen, Mobiliar, Bezug zu anderen Lesern“.

Die einzelnen Beiträge widmen sich schwerpunktmäßig dem am Akt des Lesens beteiligten Personal und der „Vielzahl an unterschiedlichen Praktiken, Gegenständen sowie Haltungen und szenenspezifischen Gesten des Lesens“. In ihrer Einführung machen die Herausgeberinnen deutlich, dass es ihnen im Kern darum gegangen sei, den von Jacques Derrida geprägten Begriff des „Schauplatz des Lesens“ mit neuem Leben zu füllen, um das oft Theatrale bzw. Bühnenstückhafte des Leseaktes herauszustellen.

Viele der Beiträger*innen haben ursprünglich an dem von der Literaturwissenschaftlerin Konstanze Fliedl betreuten „Franz-Werfel-Studienprogramm“ an der Universität Wien teilgenommen, und der Sammelband ist das Ergebnis der jährlichen Treffen dieser Gruppe, die schließlich in einer internationalen Konferenz mit dem Titel „Wie (nicht) lesen? Leseszenen von der Moderne bis in die Gegenwart“ mündeten, die vom 3. bis zum 5. Mai 2018 im Literaturhaus Wien stattgefunden hat. Der vorliegende Band enthält die überarbeiteten Fassungen der Konferenzvorträge sowie ergänzend weitere Texte, die das aufgezeigte Spektrum des Begriffs der „Leseszene“ erweitern helfen.

Den größten Umfang nehmen die Beiträge ein, in denen die oft selbstreflexiven und metapoetischen Lektüreszenen analysiert werden, die zusammengenommen so etwas wie einen Aufriss einer (Literatur-) Geschichte des Lesens darstellen könnten. So hat Reinhard Müller u.a. am Beispiel Georg Christoph Lichtenbergs das „Crossreading als literarische Form“ untersucht. Jadwiga Kita-Huber beschäftigt sich mit den Inszenierungen von Lektüreakten in Jean Pauls zumeist autobiografisch gefärbten Erzählungen und Romanen, Sebastian Brass erarbeitet ein Konzept der romantischen Leseszene bei E.T.A. Hoffmann, erweitert von Marina Schönbächler in einem Beitrag über die Selbstlektüre als literarische Denkfigur bei Hoffmann und Thomas Mann. Niklas Schlottmann kontrastiert dies mit ausgewählten „Ver-leseszenen“, aufgefunden in den Seldwyler Novellen des Schweizers Gottfried Keller, während sich Hanna Maria Hofmann den „verstörten Lektüren“ im Kontext der Subjekt- und Sprachkrise der Moderne bei Rainer Maria Rilke zuwendet. Der Beitrag von Nils Plath führt in die Stellenanalyse zweier Romane Franz Kafkas, Anja Gerigk sieht Hans Henny Jahnns Perrudja als Schwellenwerk der Moderne, und Jennifer Bode lotet die Figurenzeichnung in Joseph Conrads Heart of Darkness aus. Den Frauenfiguren bei Marlen Haushofer kommt Marlen Mairhofer näher, Beate Sommerfeld hingegen sieht mögliche Rückkopplungen zum lesenden Subjekt in der Prosa Friederike Mayröckers. Abschließend widmet sich Sanna Schulte den in Leseszenen gespiegelten Erinnerungsprozessen in Katja Petrowskajas neuem Roman Vielleicht Esther.

Alle hier aufgezählten Beiträge illustrieren das Lesen als Handeln von Menschen in verschiedenen Dimensionen des Lesens und geben neue, manchmal eigenwillige Einblicke in die Geschichte des Lesens als besondere Form einer Sozialgeschichte. Sie ergänzen so bereits vorliegende Grundwerke wie das Handbuch Lesen, herausgegeben im Auftrag der Stiftung Lesen und der Deutschen Literaturkonferenz (München 1999) oder das jüngst erschienene Werk Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen (Berlin 2018). Hervorzuheben ist die erfrischende Herangehensweise der Wissenschaftler*innen; denn in den beiden genannten, den aktuellen Wissensstand der einschlägigen Forschung aspektreich widerspiegelnden Publikationen werden historische Perspektiven und Praktiken des Lesens einschließlich der interdisziplinären Implikationen und Konzepte doch eher summarisch verhandelt, um einen umfassenden und systematischen Überblick zu geben.

Anders das hier vorliegende Buch: es will Denkanstöße  – so auch die Überschrift des Poetologie-Abschnitts – und kreative Ansätze vermitteln; dies gelingt u.a. mit dem Abdruck des passagenweise recht idiosynkratischen Manual des Lesens, einer Poetikvorlesung der österreichischen Schriftstellerin Marlene Streeruwitz, mit der die Veranstaltung im Wiener Literaturhaus eröffnet wurde. Hilfreich ist auch das Gespräch von Irina Hron und Christian Benne über eine exemplarische Leseszene aus Graham Greenes (bereits 1940 entstandenen) Roman The Power and the Glory: ein lesenswerter, anregender Dialog, nachempfunden dem in der Zeitschrift Athenaeum abgedrucktem Gespräch über Poesie Friedrich Schlegels aus dem Jahr 1800. Der Beitrag bietet eine lebendige Reflexion über emphatisches bzw. empathisches Lesen und ist damit selbst ein gelungenes Beispiel einer Leseszene zweier Wissenschaftler heutzutage.

Im wahrsten Sinne des Wortes „veranschaulicht“ wird die Absicht des Buches auch in einer inzwischen legendär gewordenen Leseszene: Der Autor Rainald Goetz wurde nicht nur durch seinen Romanerstling bekannt, sondern durch sein Aufsehen erregendes Selbstmarketing. Seine Zur-Schau-Stellung des Vorlesens am dritten Tag der Deutschsprachigen Literatur am 25. Juni 1983 in Klagenfurt hat die bis dahin vorherrschende Literaturkritik düpiert. 

Die folgende Passage aus seinem Roman Subito, „… es muß doch BLUTEN, ein lebendiges echtes rotes Blut muß fließen, sonst hat es keinen Sinn, wenn kein gescheites Blut nicht fließt“ wurde zum Entsetzen der Zuschauer körperlich „szenisch“ präsentiert, und der Beitrag von Harun Maye über diese spektakuläre Leseszene schlägt gekonnt einen Bogen zu dem, was „Sinnkonstitution“ im heutigen Medienzeitalter auch bedeuten kann.

Andere, ebenso kreative, wenn auch weit unblutigere Möglichkeiten, gewissermaßen haptische Leseszenen selbst zu gestalten, präsentiert die kanadische Autorin Keri Smith in ihren, mittlerweile auch in Deutschland populär gewordenen Büchern. Sie gibt methodische Anleitungen und variantenreiche Anregungen zum „bearbeitenden Lesen“, dem „Zerlesen“ von Büchern. „This object does not exist without you. You will determine the content and the final product. All will be shaped by your imagination.“ Eins von Smiths Büchern trägt folgerichtig den (eingedeutschten) Titel: Mach dieses Buch fertig. Was damit gemeint ist, lese man im anregenden Bericht von Monika Schmitz-Emans im letzten Teil des Sammelbandes nach.

Titelbild

Jadwiga Kita-Huber / Sanna Schulte / Irina Hron (Hg.): Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
654 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783825347154

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