Mit spitzer Feder und genauem Blick

Gertraud Klemm seziert den Literaturbetrieb

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Auftritt von Gertraud Klemm beim Klagenfurter Wettlesen von 2014 dürfte vielen noch in Erinnerung sein: Die Radikalität, mit der sie das Geschlechterverhältnis skizzierte, begeisterte Frauen und ließ Männer hilflos stammeln. In ihren Texten geht die Wiener Autorin, die Biologie studiert hat, mit Frauen und Männern gleichermaßen gnadenlos um. Zielgenau trifft sie Schwachstellen bei Frauen, wobei sie auf psychologisierende Erklärungen verzichtet, was ausgesprochen wohltuend ist.

Dieses Können zeigt Klemm auch in ihrem neuesten Roman Hippocampus. Im Mittelpunkt steht Helene Schulze, eine vergessene Autorin der feministischen Avantgarde. Früh hat sie mit ihrem ersten Roman brilliert, danach ist es rasch still um sie geworden. Als Anwaltsgattin und Mutter bleibt keine Zeit mehr für kreatives Arbeiten. Und nach der Scheidung ist der Zug abgefahren. Der Roman setzt mit ihrem Tod ein, Alkohol sei die Todesursache gewesen – so wird gemunkelt. Wenn Helene Schulze als Autorin zu Lebzeiten in der Bedeutungslosigkeit verschwand, wendet sich nach ihrem Tod das Blatt, denn mit ihrem neusten Roman steht sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Mit Helene Schulze ist erstmals eine tote Autorin nominiert.

Eine zweite wichtige Rolle in diesem Roman spielt der Literaturbetrieb. Hier kommt Schulzes Freundin aus WG-Zeiten in Wien in den 1970ern zum Zug. Rainer, Helenes Ex-Mann, bittet diese Freundin, Elvira Katzenschlager, den Nachlass zu ordnen. Elvira macht sich sofort an die Arbeit und ist entsetzt. Sorgfältig hat Helene zusammengetragen, was zu ihrem Verschwinden in der Literaturszene geführt hat. Elvira erfährt unter anderem, wer federführend war, wenn es darum ging, einen Preis oder ein Stipendium zu verhindern. Diese Menge an Hass, Eifersucht, Neid und Gier, die sie findet, lässt sie erstarren – und einen wahren Feldzug antreten, um der verstorbenen Freundin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Elvira, die, geschult in den 1970er Jahren, über Erfahrungen in politischen Aktionen verfügt, begibt sich mit ihrem Bus auf eine Reise an Orte, an denen Helene entwürdigt wurde, und zahlt alles heim. Heldenstatuen werden verkleidet, Bildstöcke demontiert, eine Preisverleihung aufgemischt. Hilfe holt sich Elvira beim jungen Kameramann Adrian, dem sie bei einem Interview über Helene begegnet ist – das Interview hat sie übrigens bald abgebrochen, weil die Fragen, die die Redakteurin stellte, so unsäglich waren.

Während Elvira und Adrian unterwegs sind in Österreich und später auch in Italien, wächst die Spannung im Hinblick auf dei Entscheidung, wer den Deutschen Buchpreis bekommt. Helene Schulze erfährt eine Aufmerksamkeit, wie sie sie im Leben nie bekommen hat. Auf diesem Hintergrund muten Sätze wie „Ruhm muss man sich manchmal erst mit dem Tod verdienen“, die die Autorin formuliert hat, umso beklemmender an. Elviras harsche Reaktion gegenüber der Fernsehredakteurin wird immer verständlicher, wehrt sie sich doch dagegen, dass Helene noch einmal entwürdigt wird. Die Fragen seien bloß sensationslüstern gewesen, nicht um das Werk der verstorbenen Autorin sei es gegangen, sondern um private Geschichten. Elvira will keinesfalls in diese Falle treten, erst recht nicht, nachdem nun erstmals der Roman einer toten Autorin auf die Shortlist gekommen und Helene Schulze „tatsächlich posthum eine kleine Ehrenbürgerin des österreichischen Feuilletons geworden“ sei. Dass in solchen Formulierungen bittere Ironie mitschwingt, ist kaum zu übersehen.

Gertraud Klemm entlarvt den Literaturbetrieb und deckt auf, dass dieser noch weit davon entfernt ist, Frauen genauso wahrzunehmen und zu würdigen wie Männer. Sie weist auf die berühmten Seilschaften hin und macht deutlich, dass oft keine Mittel gescheut werden, um den Männern zu deren vermeintlichen Rechten zu verhelfen. Wer jemals an objektive Literaturkritik oder unvoreingenommene Preiswürdigungen geglaubt hat, wird hier eines Besseren belehrt. Klemm erzählt diese Geschichten über weite Strecken überzeugend. Die Konsequenz ihrer Darstellung lässt keine Zweifel an Missständen offen. Dass sie nicht davor zurückschreckt, auch Frauen zur Verantwortung zu ziehen, macht auch diesen Roman besonders herausfordernd, denn reines Opfer-Täter-Denken führt keine Veränderungen herbei. Besonders gelungen sind die Szenen, in denen Elvira und Adrian unterwegs sind und nach einer Art des Umgangs miteinander suchen. Denn dass es da eine Anziehung gibt zwischen ihnen, dass sie sich manchmal mögen, um dann gleich wieder ins Gegenteil zu verfallen, dass die gemeinsamen Aktionen eine Verbindung schaffen – dies alles ist für beide zutiefst verwirrend und passt weder in Elviras Bild vom Mann noch in Adrians Vorstellungen über eine „alte“ Frau. Am meisten Kopfzerbrechen, so Klemm in einem Interview, hätten ihr die aus dramaturgischen Gründen notwendigen Sexszenen im Buch bereitet: „Ich habe gemerkt, wie konservativ ich eigentlich bin. Es wird alles so schnell anatomisch-steril. Oder zotenhaft. Das zu schreiben, war eine Gratwanderung.“ Geglückt sind ihr diese Szenen eindeutig. Etwas zu langfädig gestaltet sich jedoch die Reise an die vielen Orte der Aktionen, die jeweils nach immer demselben Muster ablaufen, ohne direkt neuen Erkenntnisgewinn zu bringen. Da hätte eine gewisse Straffung nicht geschadet.

Doch was hat es mit dem Hippocampus auf sich, dem Seestern, der dem Roman den Titel gegeben hat und darüber hinaus als Unterschrift und Hinweis auf die Urheberinschaft jede der Aktionen zeichnet? Er ist das einzige Tier, bei dem die Männchen die Jungen austragen und gebären. Die Frage, ob es darum gehen soll, die Geschlechterverhältnisse einfach umzukehren, beantwortet der Roman zum Glück nicht.

Titelbild

Gertraud Klemm: Hippocampus. Roman.
Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2019.
384 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783218011778

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