Afrika als offene Erzählung
Sami Tchaks Roman „Der Kontinent von allem und beinahe nichts“ porträtiert die zahlreichen Diskurse über Afrika
Von Martina Kopf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAfrika ist der „Kontinent von allem und beinahe nichts“. Bereits im Titel von Sami Tchaks Roman deutet sich eine Ambiguität an, die sich aus den zahlreichen, den Kontinent erklären wollenden – häufig von außerhalb herangetragenen – Diskursen manifestiert hat. Der Kontinent scheint in seiner Heterogenität diesen Erklärungsversuchen immer wieder zu entgleiten und bleibt nicht nur für Nicht-Afrikaner*innen ein dauerhaftes Rätsel oder wie es im Roman heißt ein Ozean, „von dem jeder von uns die Komplexität eines einzigen Tropfens zu erfassen sucht.“ (165)
Um diese Afrikaentwürfe und seine zentrale Urheberin, die Ethnologie, geht es in Sami Tchaks Roman, der in Frage stellt, wer die Deutungshoheit über den Kontinent hat. Dies impliziert auch eine Kritik an der Ethnologie, der „Tochter der Kolonialisierung“ (12). Tchak porträtiert den fiktiven (weißen) Ethnologen Maurice Boyer, Schüler des berühmten Ethnologen Georges Balandier, der um 1970 nach Togo aufbricht, um in der Kommune Tèdi Feldforschungen zu der Ethnie Tem durchzuführen. Der Text gleicht zunächst einem ethnologischen Tagebuch. Maurice bewegt sich auf den Spuren Balandiers, Autor von Afrique ambiguë und Mitbegründer der 1947 ins Leben gerufenen Zeitschrift Présence Africaine. Er erlebt den Alltag in der Dorfgemeinde und tauscht sich mit dem Dorfoberhaupt und dem Imam regelmäßig aus, der seine Arbeit als Ethnologe immer wieder in Frage stellt und ihm vorwirft, das große Werk des Abendlandes fortzusetzen: „[D]ie Anderen zu denken, aus ihnen Sinn zu machen, und sie in die Lage von im Netz gefangenen Fischen zu versetzen. Sie kämpfen, um sich zu befreien, und sterben erstickt.“ (63) In einem Brief an Georges Balandier bezeichnet Maurice Afrika und die Afrikaner*innen als „einen Spiegel, in dem wir begeistert unsere eigene Überlegenheit wahrnehmen. […] Was fehlt den Afrikanern heute, damit sie aufhören, am Rand der Größe der Welt zu stehen?“ (98) Auf diese Frage antwortet ihm Balandier: „Ich weiß es nicht, selbst wenn wir für diesen Kontinent das Recht erlangt haben, irgendeinen Diskurs hervorzubringen, irgendeine Theorie auf unwiderlegbare Weise auszuarbeiten. Sie selbst würden bei deiner Frage versagen…“ (99)
Jahre später, als er bereits im Ruhestand in Paris lebt und mit einer ehemaligen malischen Doktorandin ein Verhältnis hat, beschäftigen Maurice seine Erfahrungen in Tèdi immer noch. Die Verhaltensweisen der Dorfbewohner*innen bleiben für ihn weiterhin rätselhaft. Ebenso wie seine Frau Aurélie, die sich in den früh verstorbenen Senegalesen Babacar Ndiaye verliebt hatte, scheint auch Maurice eine besondere Beziehung zum Imam in Erinnerung behalten zu haben: „Wir lebten mit dem Schatten Babacars, Aurélie wollte ihn nicht aufgeben. Und ich, ich hatte Tèdi, das ganz im Glanz des rätselhaften Blicks des Imam stand.“ (158) Einerseits ist Der Kontinent von allem und beinahe nichts ein ethnologischer Roman, andererseits aber auch ein Porträt eines alternden Mannes, der mit dem körperlichen Alterungsprozess seiner Frau nicht klarkommt und sich in ein Verhältnis mit der wesentlich jüngeren Safiatou Kouyaté („Safi“) flüchtet. Ihr überlässt er auch die Fortsetzung seiner Forschung und die Auseinandersetzungen über die Identität Afrikas.
Um die Diskursvielfalt über den afrikanischen Kontinent abzubilden, lässt Tchak seine Protagonist*innen verschiedene provokante Positionen einnehmen. Maurice vertritt in seiner Dissertation die Ansicht, dass
die Schwarzen im Laufe der Jahrhunderte zu Schwachen geworden waren, bei denen die anderen starken Völker das Wesentliche ihrer Spiritualität töten konnten. […] In Wahrheit sind sie die größten Schwächlinge der Geschichte…(162)
Diese Ideen werden von seinem Freund und Kollegen, dem Tem Safiou, als paternalistisch bezeichnet, worauf ihre Freundschaft zerbricht. Auch Safiatou Kouyaté wird während eines Vortrags die Abhängigkeit von abendländischen Modellen vorgeworfen. Eine weitere im Roman aufgegriffene Idee ist die eines fermentierten Afrikas, die von dem ivorischen Linguisten Zakari Tchagbalè geäußert wird. Ausgehend von dem Tem Wort „gniing“, „das je nach grammatikalischem Subjekt ‚sich fermentieren‘ bedeutet und ‚an Nostalgie leiden‘“ (249), entwickelt er die Idee, Nostalgie als eine Fermentierung von Erinnerungen an einen uns teuren Ort zu betrachten. Er plädiert dafür, Kolonialisierung als umfassendes historisches Ereignis zu betrachten, für das Afrika als kollektives Wesen für immer Nostalgie fühlen würde, also zahllose fermentierte Erinnerungen. Im Rahmen dieser Analyse der Psyche der Kolonisierten adaptiert Zakari den aus der Biologie stammenden Prozess der Phagozytose, also den Transportprozess, der die Aufnahme extrazellulärer Partikel, Mikroorganismen oder Flüssigkeiten durch spezialisierte Zellen beschreibt. Phagozytose definiert er als „Krankheit, die dazu führt, dass der Mensch, der sich kulturell minderwertig fühlt, seine Kultur freiwillig oder unbewusst für die als überlegen betrachtete Kultur aufgibt.“ (251) Tchak lässt in seinem Roman also sehr unterschiedliche Ansätze aufeinanderprallen. Es kommt zu Szenen der Auseinandersetzung, aber zu keinem Dialog. Afrika bleibt, wie Zakari erklärt, eine „offene Erzählung, es fließt überall über die Ränder. Wer gäbe dem allen eine Kohärenz? Maurice, das ist metaphysische Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen.“ (209)
Der Roman bietet auf die Frage nach der afrikanischen Identität also keine Antwort und das scheint er bezwecken zu wollen. Sami Tchak, der in Togo geboren wurde und 1986 nach Frankreich kam, um eine Promotion an der Sorbonne in Soziologie abzuschließen, hat selbst einmal erklärt, dass der Kontinent bis zum Ende seines Lebens eine Realität bleibe, die er nur in Bruchstücken kennen werde. Selbst sein kleines Dorf sei von einer so großen Komplexität, dass er ein ganzes Leben bräuchte, um zu versuchen, es zu verstehen.
Der Kontinent von allem und beinahe nichts verharrt allerdings nicht bei dieser afrikanischen Frage, sondern nimmt eine internationale Dimension ein, wenn es um Probleme wie Rassismus, Kolonialismus oder die Auseinandersetzung mit rechten Positionen geht. So spannt Safi in einem Vortrag beispielsweise den Bogen vom Kolonialismus zur Migration und den Problemen der banlieue im heutigen Frankreich: „Was bleibt, ist die klare Trennung zwischen dem echten Frankreich und dem schlammigen Grund des zu exotischen Frankreichs der N***r und der Araber.“ (223-224, im Original „des Nègres et des Arabes“) Sie ergänzt ihren Vortrag durch ein paar Zeilen aus Mein Kampf, in dem es um die „Vern***rung Frankreichs“ geht (225, im Original „l’envahissement de la France par les nègres“).
Wie diese Beispiele zeigen, hat die Übersetzerin Annette Bühler-Dietrich, die vor allem Theaterstücke und Prosa französischsprachiger afrikanischer Autor*innen wie Hakim Bah, Raharimanana oder Aristide Tranagda übersetzt, in ihrer äußerst sorgfältigen und durchdachten Übersetzung Strategien entwickelt, um in einem deutschsprachigen Kontext problematische Begriffe angemessen zu übersetzen. In einem Vorwort erklärt sie diese Strategien, wie zum Beispiel die Verwendung eines Sternchens für bestimmte Buchstaben („*“), die Entscheidung, „Schwarz“ nur in Ausnahmefällen mit einem großen „S“ zu schreiben oder im Sinne des Originals auf eine geschlechtergerechte Sprache zu verzichten. Diese Überlegungen sind im Rahmen der seit einigen Jahren angestoßenen Debatte um die Verwendung (und Übersetzung) bestimmter rassistischer Begriffe besonders relevant und regen dazu an, sich weitere Gedanken über den Zusammenhang von Übersetzung, Rassismus und Reparation zu machen. Bühler-Dietrichs Übersetzung versucht dem Original so nah wie möglich zu kommen. So wählt sie die sogenannte verfremdende Übersetzung, wenn es um spezifische Begriffe wie féticheur, den Priester der animistischen Religionen und den marabout, den westafrikanischen islamischen Führer und Ratgeber, geht. Manche Begriffe mögen erstaunen, so zum Beispiel ein „elektronischer Brief“ (248), aber wirft man auch hier einen Blick in die französische Version („lettre électronique“), so macht diese Entscheidung, um die bewusste Wortwahl eines alternden Protagonisten zu betonen, durchaus Sinn. Die Übersetzung schließt mit einer Liste der erwähnten Werke mit Originaltiteln in Englisch und Französisch und veröffentlichter Übersetzung ab. Dies ist im Hinblick auf den mit verschiedenen Referenzen gespickten, theoretisch dichten Roman äußert hilfreich.
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