Ein Meilenstein der Hannah-Arendt-Forschung, aber kein Referenzwerk
Thomas Meyers Biografie hat Stärken und Schwächen
Von Armin König
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIhr Name steht für pointierte Statements zur politischen Theorie, zum Totalitarismus und zum Judentum, zum Zionismus, zu Autorität und Freiheit: Hannah Arendt. Ihre Bücher Vita activa oder Vom tätigen Leben, Origins of Totalitarism, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen oder Ich will verstehen sind Bestseller. Auch kleine Interview-Schriften wie Wahrheit und Politik treffen einen Nerv der Öffentlichkeit. Nach dem brutalen Hamas-Überfall im Gazastreifen und antisemitischen Protesten an europäischen und US-Universitäten und BDS-Boykottaufrufen, nach Kunstkontroversen und nach Debatten über die Zukunft des Nahen Ostens werden pointierte Thesen Arendts neu publiziert: Hat sie sich nicht schon vor vielen Jahren ebenso klar wie kritisch zu diesen heftig debattierten Themen der Zeit positioniert? Das hat sie tatsächlich. Ihre Statements klingen nach wie vor zeitgemäß. So überrascht es nicht, dass eine Hannah-Arendt-Biografie die Spitze der Bestsellerlisten und die Sachbuch-Bestenlisten erobert hat.
Der Philosoph Thomas Meyer hat eine Biografie unter dem Titel Hannah Arendt mit dem Anspruch vorgelegt, „Arendts Leben und Werk für die eigenen Gegenwart neu“ zu erschließen. So verspricht es der Klappentext des Verlags. Mehr noch: „Der hier gewählte Zugang unterscheidet sich radikal von der bisherigen Forschung.“ Gemeint sind wohl die Monografien, nicht die komplette Forschung.
Es ist ein Werk mit vielen Stärken und innovativen Ansätzen, aber auch mit deutlichen Schwächen.
Tatsächlich hat Meyer, als Herausgeber der Studienausgabe von Arendts Werken ein profunder Kenner der Publizistin, einen anderen Ansatz gewählt als andere Biografinnen und Biografen. Meyer setzte sich insbesondere von Elisabeth Young-Brühl ab. Die Biografie der Arendt-Schülerin ist nach wie vor ein Standardwerk, obwohl es schon 1985 erstmals publiziert wurde. Young-Bruehl gilt als befangen, diverse Aussagen als anekdotisch. Arendt war ihre Doktormutter. Und Young-Bruehl würdigt Arendt als Philosophin. Genau das aber wollte sie nicht sein, wie sie gleich zu Beginn des auf Youtube tausendfach angeklickten legendären Fernsehgesprächs mit Günter Gaus feststellte.
Zeit also für einen neuen großen Wurf im Lichte neuer Forschungen und neuer Quellen.
Meyers Biografie hätte also ein neues Arendt-Referenzwerk im frühen 21. Jahrhundert werden können. Dafür spricht, dass er erstmals Archivmaterial veröffentlicht, das bisher unbekannt war oder ignoriert wurde. Das gilt insbesondere für Arendts Engagement in den Pariser Exil-Jahren – ein ganz praktischer Fall ihrer Vita activa und vermutlich prägend, auch für ihre späteren Publikationen. Die junge Akademikerin wurde in Paris zur bodenständigen Berufstätigen im Büro einer Organisation, wo es menschelte, wenn es um Weisungsrechte und Handlungsfreiheit ging.
Bahnbrechend ist die Dokumentation dieser Arbeit Arendts für die Jugend-Alijah in den Jahren 1934 bis 1940, ihr Engagement zur Rettung jüdischer Kinder aus Deutschland und anderen Teilen Europas, die von Hitlers Nationalsozialisten besetzt waren. Es ging bei der Jugend-Alijah vor allem um die Ausreise von Kindern und Heranwachsenden nach Palästina. Dort sollten sie Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeit finden, um ein neues Leben zu beginnen. Auch die Arbeit bei Agriculture et Artisanat und die Bedeutung dieser Exil-Stationen für Arendts Haltung zum Zionismus werden ausführlich gewürdigt. Dass Meyer dabei unveröffentlichtes Quellenmaterial auswerten und publizieren konnte, ist spannend und aufschlussreich für das Verständnis ihrer späteren publizistischen und politischen Aktivitäten. Die Typografie der Dokumente setzt sich vom Fließtext deutlich ab – eine überzeugende Gestaltungsidee.
Während das vielfach beschriebene Universitäts-Kapitel Arendt/Heidegger und Arendt/Jaspers im ersten Teil der Biografie eher kursorisch beschrieben wird, setzt Meyer einen zentralen Schwerpunkt bei den Pariser Jahren („Zu 100 Prozent jüdisch“), die für ihre medialen und politischen Erfahrungen prägend waren. „Atemlose Zeiten“ nennt der Biograf die Jahre im französischen Exil, die für Arendt und ihren Mann Günter Stern-Anders 1933 begannen (für Stern-Anders am 17.Juni 1933, für Arendt am 7. Oktober 1933). Diese Pariser Exil-Jahre mit all den hektischen Bemühungen zur Rettung jüdischer Kinder und Erwachsener, den organisatorischen Problemen, den bürokratischen Hindernissen, aber auch mit vielen zwischenmenschlichen Hierarchie-Konflikten, werden auf mehr als 100 Seiten umfassend beschrieben und durch neue oder neu bewertete Dokumente gut belegt. Zwanzig Prozent der Biografie über die Pariser Exiljahre – das gab es noch in keiner Arendt-Biografie. Damit hat Meyer zweifellos einen wichtigen neuen Forschungsimpuls gesetzt.
Man kann gut nachvollziehen, wie Arendts journalistisch-publizistische Karriere sich entwickelte. Formulieren und Zusammenhänge herstellen konnte die philosophisch und philologisch geschulte Akademikerin immer schon. Begonnen hat sie aber mit unspektakulären Zeitungsartikeln, etwa für die Jüdische Rundschau oder das Journal Juif. Frankreich hieß für sie angeblich, so Meyer, „Freiheit“ – bis zum Mai 1940. Nach dem Angriff Hitler-Deutschlands auf Frankreich am 10. Mai 1940 wurde Arendt, die kurz zuvor Heinrich Blücher geheiratet hatte, ins brutal-repressive geführte Lager Gurs deportiert. Im Juli konnte sie entkommen. Über Marseille und Lissabon schafften sie und ihr Mann es schließlich, in die USA auszureisen.
Das war tatsächlich das Land der Freiheit, wo Hannah Arendt 1951 mit Origins of Totalitarism den internationalen Durchbruch schaffte. Die deutsche Fassung Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erschien 1955, ergänzt um neue Quellen.
Nach dem „Erfahrungsraum“ der Kindheit, der Jugend und des Studiums und dem durch die Shoah zerstörten „Erwartungshorizont“ arbeitete Arendt in den USA an einem neuen Erwartungs- oder Erscheinungsraum. Karl Mannheims und Reinhard Kosellecks Begriffe Erfahrungsraum und Erwartungshorizont macht Meyer für die Biografie Arendts anwendbar. Gleichzeitig verknüpft er sie mit Arendts späteren Begriff Erscheinungsraum aus Vita activa.
Selbstverständlich spielen auch die wichtigsten Werke Arendts und insbesondere die Kontroversen um ihr umstrittenes Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen eine wesentliche Rolle in der Biografie. Sie werden im umfangreichen Kapitel „Denken in Worten“ zusammengefasst. Arendt wurde nach der Veröffentlichung des komplexen Buches über den Eichmann-Prozess in einer Art und Weise publizistisch und persönlich attackiert, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte – bis hin zu Morddrohungen. Heute würde man shitstorm dazu sagen. Meyer hat dies sehr gut beschrieben.
Leider hat er die Chance zum ganz großen Wurf nicht genutzt. Wie schon im Familien- und Kindheitskapitel sind auch viele Paris-Passagen langatmig, überladen mit Namen und ermüdenden und irritierenden Darstellungen verzwickter Streitereien unter Kolleginnen und Verwandten, die ohne weiteres in Fußnoten gepasst hätten.
Zwiespältig und nicht auf der Höhe der Heidegger-Forschung erscheint das Kapitel „Der Sturm-Erprobte & der Leviten-Leser“ über den Briefwechsel Arendts mit dem Antisemiten Heidegger, dem bewunderten Karl Jaspers sowie deren Frau Gertrud. Schon der Titel hat etwas Bemühtes-Modernistisches. Ähnlich innovativ-knackig klingt „das Nachkriegstrio“ für das Ehepaar Jaspers und Arendt. Heideggers Rolle, der auch nach dem Krieg „keine Reue, kein Bedauern, keine Selbstkritik“ (Élisabeth Rodineco) zeigte und dessen Schwarze Hefte als „Dokumente der Niedertracht“ (Jürgen Kaube) gelten, hätte deutlicher problematisiert werden können.
Was irritiert, sind die wissenschaftlichen Defizite im Umgang mit Quellen, Dokumenten und Sekundärliteratur. Die Quellen und Archivalien sind nicht systematisch dokumentiert, ein alphabetisches Literaturverzeichnis wird schmerzlich vermisst, Literaturangaben muss man in einem Endnotenverzeichnis mühsam suchen, das mit 337 Einträgen auf 521 Seiten ohnehin äußerst knapp geraten ist. Der Apparat überzeugt nicht. Dagegen ist das umfassende Register sehr hilfreich.
Stilistisch hätte sich der Philosoph Meyer den Satz des Kollegen Ludwig Wittgenstein aus dem Tractatus logico-philosophicus zum Vorbild nehmen sollen: „Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen.“ Da hätte ein aufmerksames Lektorat Straffungen und den Wegfall von Flapsigkeiten empfehlen können.
Meyers Biografie ist zweifellos ein Meilenstein der Hannah-Arendt-Forschung, weil sie starke neue Impulse setzt, aber kein neues Referenzwerk. Von einem radikal neuen Ansatz kann keine Rede sein. Das neue Referenzwerk muss noch geschrieben werden.
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