Kindsmordverdacht, Gerüchteküche und Menschenjagd

Die Lungenschwimmprobe von Tore Renberg ist opulent und süffig geschrieben

Von Armin KönigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin König

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fake News töten – und richten oft verheerenden Schaden an. Das ist die zentrale Botschaft von Tore Renbergs packendem historischen Roman Die Lungenschwimmprobe. Der Untertitel verrät, worum es geht: um die Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wird.

Anna wurde unter nicht ganz geklärten Umständen als Minderjährige von einem Knecht verführt, gegen ihren Willen, wie sie später sagt. Das Kind kam tot zur Welt. Doch die Obrigkeit will ihr nicht glauben. Nicht der übergriffige »Verführer« (oder mutmaßliche Vergewaltiger) wird beschuldigt, sondern das verführte und geschändete Mädchen. Eine wesentliche Schuld trägt Verblendung des Gesindes durch „christlichen Glaubenseifer“, wie ihn der zuständige Kurfürst Johann Georg 1680 beschreibt. Alte Schmonzetten? Aus vergilbten Akten? Oder doch ein zeitloses Thema? Renberg trifft einen Nerv mit seiner Mischung aus Fiktion, Fakten, Reflexionen.

Der Roman spielt 1681 in Leipzig – einer Zeit, in der viele Frauen hingerichtet wurden, die als Kindsmörderinnen verurteilt wurden. Kurfürst Johann Georg hatte im Jahr zuvor ein Dekret erlassen, in dem er darüber informierte, „dass Kindsmorde, Gott sei uns gnädig, in unserem Distrikt leider so sehr überhandgenommen haben, dass ich in christlichem Glaubenseifer entschieden habe, besagte Frauen nicht länger mit dem Schwert hinrichten, sondern sie ertränken zu lassen.“ Es bleibt aber den Amtleuten überlassen, vor Ort „aus Rücksicht auf die Frau die Strafe abzuändern“. Die wollen das eigentlich gar nicht. Doch im Fall der jungen Anna Voigt geschieht etwas Unerwartetes: Ihr Vater, ein Gutsbesitzer und damit Teil der Oberschicht, kämpft für sie, ein junger, aufstrebender Jurist namens Christian Thomasius übernimmt die Verteidigung, und der Arzt Johannes Schreyer bringt gegen heftigste Vorbehalte ein neues wissenschaftliches Verfahren in den Prozess ein – die titelgebende Lungenschwimmprobe. Es geht um die Frage, ob die Lungen schon mit Luft gefüllt waren oder nicht, als das Kind zur Welt kam. Die Anwendung dieses neuen wissenschaftlichen Verfahrens sorgt für heftige Kontroversen und stellt die bisherigen Gewissheiten infrage. Die Zeiten waren schlecht, die Menschen arm, Aberglaube, Neid und Missgunst herrschten. Und die Tochter des Gutsbesitzers gehört der Oberschicht an. Das ist brillant beschrieben.

Die Lungenschwimmprobe markiert den Beginn der modernen Rechtsmedizin und zeigt das dramatische Aufeinanderprallen zweier Welten: einerseits Ausläufer des Mittelalters, andererseits die ersten Strahlen der Aufklärung. Renberg hat akribisch recherchiert für diesen historischen Fall aus dem Jahr 1681. Das Ergebnis ist ein Justiz- und Gesellschaftsdrama, das auf erschreckende Weise zeigt, welche fatalen Folgen falsche Beschuldigungen, Scheinmoral, Neid, Vorurteile und Intrigantentum haben können.

Die barocke Kompositionsweise und die Sprache beeindrucken, die Übersetzung (Karoline Hippe und Ina Kronenberger) ist hervorragend. Der Aufbau – in sechs Bücher gegliedert, ergänzt durch Prolog, Epilog und Nachschrift – verweist auf Chroniken, Kanzleistücke und Moritaten. Kapitelüberschriften wie „Vergib mir, einen so niederträchtigen Menschen auf die Welt gebracht zu haben!“ oder „Das Arme-Sünder-Lied der bedauernswerten Kindsmörderin Marien Dorotheen Költzins“ wecken Assoziationen an Flugschriften und Gerichtsbücher. Das ist süffig geschrieben und opulent, manchmal auch sehr ausschweifend, aber es bringt die dunkle Zeit ans Licht. Renberg variiert Tonlagen und Perspektiven, wechselt zwischen den Stimmen von Arzt, Jurist, Köchin, Amtmann, Verzweifelten und Aufklärern.

Mit Anna Voigt gibt er einer widersprüchlichen Protagonistin die Chance, selbst zu Wort kommen. Aufregend ist der Charakter des Vaters, der mehr und mehr dem (Verfolgungs-)Wahn verfällt.

Zur zentralen Figur der Verteidigung macht der Autor den Juristen und Philosophen Christian Thomasius. Er ist hin und hergerissen zwischen zwei Welten: der scheinheilig-starren, von Sitte und Dogma bestimmten Ordnung des 17. Jahrhunderts und dem neuen Denken der Aufklärung, der Empirie und der Rechtssicherheit. Der oft aufbrausende, aber humorvolle Jurist und Philosoph, riskiert für seinen Kampf um Gerechtigkeit berufliche Nachteile und persönlichen Schmerz. Zu Beginn ist er keineswegs überzeugt von seinem Mandat und seinen Mandanten. Er wächst an seiner schier unlösbaren Aufgabe und bleibt Mensch mit Zweifeln und Ecken – darin liegt seine Größe. Dass jeder das Recht auf eine ordentliche Verteidigung und eine ehrenwerte Behandlung gegenüber der Obrigkeit hat, daran besteht für ihn kein Zweifel.

Einer der dramatischen Wendepunkte ist das Gespräch zwischen Voigt und Thomasius. Der Vater schildert, wie seine Familie plötzlich durch Fake News und Hinterhältigkeiten unter Druck geriet und wie die Lage eskalierte – getrieben von Intrigen, religiösem Eifer und Standesrivalitäten. Alle wandten sich gegen ihn:

Das Gesinde, angeführt von unserer umnachteten Köchin, … Annas hinterlistiger Hauslehrer, ein Knecht, eine Zofe“ – und schließlich auch die Nachbarn und die subalternen Amtmänner. Plötzlich rotten sie sich zusammen. Amtmann Walther. Mein persönlicher Feind. Meine Nachbarn von altem Adelsgeschlecht mit Freunden und Verwandten auf dem Amt, das Anklage erhoben hat. Jetzt haben sie einen Weg gefunden, um mich dranzukriegen. Uber meine arme – ganz und gar unschuldige – Tochter.

Es brodelt. Eindrucksvoll wird die fanatische, einfältige Köchin Elisabeth Weber geschildert, die eine Wut auf ihre gnädige Herrin hat, mit ihrem Gotteswahn zur Brandstifterin wird und die Jagd auf die vermeintliche Kindsmörderin und deren Mutter eröffnet. Diese wird als Helfershelferin beschuldigt. Die hinterhältige und rachelüstige Köchin wirft dem Vater und der gnädigen Frau Vertuschung vor; dass man die Schande vor Gott und den Menschen geheim halten wollte. Und überdies beschuldigt sie die pockennarbige Anna, dass sie „für den buckligen Toffel die Beine breit gemacht und ihm seinen Willen gelassen hat.“ Und warum ist sie so auf Rache und Bestrafung aus? Weil “die gnädige Frau“ sich immer über die Köchin und ihr Wissen und ihr Verhalten beschwert hat. „Das war gemein von dem fetten Entenarsch“, ruft sie. Und fügt als Entschuldigung an: „ … Ich habe immer getan, was die Pfarrer, der Lehrer, das Gericht und Du, mein Schöpfer, von mir verlangt haben…“. Sie leidet zwar unter dem Gedanken, „dass Annas Kopf vielleicht unter das Schwert kommt, nur weil ich nicht weggeschaut habe“. Aber da gibt es ja noch eine größere Genugtuung: „wenn der Kopf der gnädigen Frau ebenfalls rollt, werde ich nicht um sie weinen“.

Diese Passage ist ein Lehrstück in Selbstgerechtigkeit, moralischer Verblendung und Denunziantentum einer dummen Frömmlerin. Sie zeigt, wie eine verrohte Gesellschaft in blutrünstiger Zeit Gewalt gegen Schwache religiös legitimiert. Dafür, dass Köpfe rollen, will vor allem der von Minderwertigkeitskomplexen geplagte Amtmann Abraham Walther sorgen, der „Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um diesen armen Menschen einen Mord anzuhängen“ – voreingenommen, parteiisch, fanatisch. Dem Gutsherren und seiner Familie neidet er seine Besitz. Der Mob macht aus einer Lügengeschichte einen Skandal. Schließlich fordert er „Aufs Schafott mit Ihnen!“. Doch dagegen kämpfen Thomasius und Johannes Schreyer, der kluge Arzt aus der Stadt, der das titelgebende Verfahren erstmals anwendet – und damit das Denken verändert.

Schreyer steht für einen revolutionären Umbruch. Er bringt das Wissen ins Spiel, das Glaube, Vorurteil und Willkür herausfordert. Voigt wird zum Racheengel, eine Art Kohlhaas. Und Anna? Die Hauptprotagonistin muss Unmenschliches erdulden. Sie wird gefoltert und im Gefängnis vergewaltigt und noch einmal schwanger. Und doch versucht sie, ihre menschliche Würde wiederzugewinnen. Was aus ihr am Ende wird, wissen wir nicht. Ihr Kind landet bei einer Stiefmutter. Über Anna wird dort nicht gesprochen, weil sie zu den Unglückseligen gehörte. Aber am Ende folgt doch noch ein versöhnlicher letzter Satz, und der Kreis schließt sich.

Titelbild

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde – Roman.
aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Luchterhand Literaturverlag, München 2024.
704 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783630877778

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