Das eigentliche Leben eines Menschen findet in seinem Inneren statt
Gerhard Köpfs Roman „Kramer oder Das Ziel aller Wünsche“ hat überraschende Wendungen
Von Friedrich Voit
Köpfs neuer Roman, der im österreichischen Braumüller Verlag erschienen ist, variiert und führt Themen weiter, die er in seinem erzählerischen Werk der vergangenen Jahre mehrfach angesprochen hat. Freilich gibt es wohl nicht viele Literaturkritiker oder Leser, die mit dem reichen und diversen Schaffen Gerhard Köpfs so vertraut sind oder es überblicken, um solche Bezüge auszumachen. Das hat seine Gründe. Köpfs literarisches Werk umfasst Romane, Erzählungen, und zahlreiche Essays zu Literatur und Autoren. In den 1980er und -90er Jahren, er lehrte damals als Germanist an der Universität-Gesamthochschule Duisburg, galt er als einer der herausragenden Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur und fand mit seinen Romanen Innerfern (1983), Die Strecke (1985), Die Erbengemeinschaft (1987) und Eulensehen (1989) eine breite Anerkennung. Ort und Hintergrund in diesen Romanen ist das fiktive Thulsern im bayerisch-schwäbischen Ostallgäu, die Gegend von Köpfs Herkunft, die er anschaulich charakterisiert, auch in ihrer provinziellen Enge und die in seinem Werk bis in die Gegenwart immer wieder erscheint. Einige seiner Bücher wurden in dieser Zeit auch ins Englische und Französische übersetzt.
Um die Jahrtausendwende kam es zu einem Einschnitt und Wandel in Köpfs Schaffen, als er sich verstärkt dem Themenkreis Literatur und Psychiatrie zuwandte. 2003 hatte er seine literaturwissenshaftliche Professur aufgegeben und nahm in den nachfolgenden Jahren Lehraufträge an der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität und am Lehrstuhl für Psychiatrie an der Technischen Universität in München wahr. Über viele Jahre schrieb Köpf in der psychiatrischen Fachzeitschrift NeuroTransmitter Essays, in denen er psychopathologische Themen in Büchern und bei Autoren der deutschen und Welt-Literatur betrachtete und dabei auch seine enorme Belesenheit erkennen ließ, die in all sein Schreiben einging. Daneben entstanden weitere Romane und Erzählungen, die freilich nicht mehr die Resonanz seiner früheren Arbeiten fanden. Während diese in führenden literarischen Verlagen wie S.Fischer, Hanser und Luchterhand erschienen waren, kamen neue Arbeiten nun meist nur noch in kleineren Verlagen oder wie eine Reihe kürzerer Erzählungen und Essays als Privatdruck und im Selbstverlag heraus. Dies brachte es mit sich, dass Köpfs Schaffen in ein Abseits und in den Hintergrund geriet. Wer seine neuen Arbeiten lesen wollte, musste sich umtun, stieß dann aber auf solche Texte wie die Novelle Ein alter Herr (2006), die Erzählungen Als Gottes Atem leiser ging (2010) oder Der Drachen-Elch (2016), die keineswegs hinter Köpfs früheren Arbeiten zurückstehen. Seit 2017 erscheinen seine wesentlichen neuen Werke im Wiener Braumüller Verlag wie die Romane Das Dorf der 13 Dörfer (2017), Ausserfern, zusammen mit einer Neuausgabe von seinem ersten, viel beachteten Roman Innerfern (2018), Palmengrenzen (2020), Die Legende von Montecassino (2021) und der Band Souffleuse (2023), der die besten der neueren Erzählungen vereint. Die rasche Folge der bei Braumüller publizierten Bücher dokumentierte nicht nur die anhaltende Schaffenskraft Köpfs, sie bewirkte auch, dass durch die neue Bindung an einen bekannten Literaturverlag Köpfs Werk wieder sichtbarer wurde, die Literaturkritik und so auch Leser seine Arbeiten wieder verstärkt wahrnehmen und diese im weiteren Kontext der deutschen Gegenwartsliteratur erkennbar werden.
Der kurze Roman Kramer oder Das Ziel aller Wünsche (2025) knüpft wie bereits angedeutet, thematisch an vorangegangene Erzählungen an: Etwa indem die Hauptfigur wieder ein älterer Herr ist – ein pensionierter Ministerialrat, der mit komfortabler Rente und abgezahlten Haus am Stadtrand von München lebt. Seit seiner Kindheit liest er, die Literatur erleichtert ihm das Einzelgänger-Dasein. Besonders Stendals Die Kartause von Parma und Remarques Arc de Triomphe haben es ihm angetan.Allerdings plagt den Protagonisten eine starke Sehnsucht nach einer Lebensgefährtin. Kurzlebige Beziehungen scheitern bislang immer wieder an seinem ‚überdimensioniertem Ego‘, dem Wunsch mehr scheinen zu wollen, als er ist, der Kehrseite eines quälenden Minderwertigkeitskomplexes und des Gefühls der Bedeutungslosigkeit seines Lebens.
Ein überraschender „Tag der Weichenstellung“ schafft für Kramer dann eine völlig neue Situation und scheint ihm Wege zu öffnen: Aus heiterem Himmel – erzählerisch nur notdürftig motiviert – wird er zum „Alleinerbe eines märchenhaften Vermögens“, das ihm unbegrenzte Möglichkeiten bietet. Beim Rätseln wie ihm das geschehen konnte, entdeckt er, was ihm bislang entgangen war, dass sein Name Kramer rückwärts gelesen, ihn mit seinem Lieblingsschriftsteller Remarque in eine ihm nun plötzlich bedeutungsvoll werdende Verbindung bringt. Remarque – „Dieser Lebemann, dieser Homme à femmes, dieser mondäne Schriftsteller, diese Hollywood-Größe“ – wird ihm zum Leitbild und dessen Leben zum Kompass. „Ein raffiniertes Spiel“, wie Nikoletta Kiss, Lektorin und selbst Autorin zutreffend bemerkt, „mit Identitäten beginnt. Wo endet Remarque, wo beginnt Kramer? Ein vielschichtiger und kluger psychologischer Roman, der Realität und Fiktion meisterhaft ineinanderfließen lässt.“
Mit erzählerischer Distanz wird beschrieben, wie Kramer sich Schritt für Schritt Remarque annähert und dabei doch seine Eigenheit und Identität nie völlig verliert. Er legt sich zunächst ein umfangreiches Remarque-Archiv an, in dem er alles, was Remarque betrifft – Bücher, Ausgaben, Dokumente und anderes – sammelt. Es gelingt ihm sogar den alten, originalen Lancia des Schriftstellers zu kaufen, den er gegen seinen bewährten Volvo eintauscht. Er unterzieht sich unter dem Namen Dr. Theo Remark einer Psychotherapie, um Remarque und sich selbst besser zu verstehen. Schließlich zieht er in die Schweiz nach Ronco sopra Ascona, wo Remarque einst lebte und ein Haus besaß. Er mietet sich dort im ersten Hotel am Platz unter dem nun angenommenen Namen ein. Als er sich, nun als Wohlhabender auftretend, in eine unabhängige und selbstsichere elegante ehemalige Tänzerin verliebt, meint er in ihr eine Verwandtschaft zu einer Geliebten Remarques zu erkennen. Sich fast am Ziel aller seiner Wünsche wähnend führt, wie fast zu erwarten, ein gänzlich unerwartetes Ereignis zum plötzlichen Zusammenbruch von Kramers Traumwelt und seines noch immer schwachen Selbstgefühls.
Ein der Erzählung angefügter ‚Anhang‘ rückt die Geschichte Kramers in einen überraschenden neuen Bedeutungszusammenhang. Sie gehört, wie man nun erfährt, zu einer Krankenakte und basiert auf den Erzählungen Kramers, der sich nach seinem Zusammenbruch einer ‚Bibliotherapie‘ unterzieht. Sie soll ihm durch Lesen und Schreiben von seiner Lesesucht und der durch sie bewirkte Identitätsstörung befreien, dem psychopathologischen Drang, sein Leben an der Biographie Remarques und der Welt seiner Romane auszurichten. Ein Don-Quijote Syndrom, wie es die behandelnden Ärzte nach dem klassischen Muster des Abtauchens in eine illusionäre literarische Identität definieren.
Wie so oft bei Köpf will auch dieser kurze Roman, was die Erzählweise, Sprache und Bildwelt angeht, aufmerksam gelesen werden. Mit dem ersten Lesen erschließt sich bei literarischen Texten dieser Art kaum alles und wird manches, wie hier etwa Erzählzusammenhänge, die bereits den ersten Seiten verdeckt eingeschrieben sind, erst im Rückblick oder bei erneuter Lektüre erkennbar und bedeutsam.
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