Die Flüchtlingskrise und der Untergang Europas

Ivan Krastevs aufrüttelnder Blick zurück auf die Ruinen der Europäische Union

Von Maurizio BachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maurizio Bach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Europa hat sich zu einem Minenfeld von Paradoxien entwickelt. Das „Europa ohne Grenzen“, einst die große Freiheitsidee des europäischen Projekts, ruft neuerdings einen rabiaten Nationalismus auf den Plan und damit die Retro-Vision einer geschlossenen und ethnisch homogenisierten Gesellschaft. Die in den Neunziger Jahren mit Unterstützung der Europäischen Union verwirklichte gesellschaftliche Transformation und Demokratisierung der Staaten Mittel- und Südosteuropas ist in einen Staatsautoritarismus á la Orban gemündet, mit ausgeprägt antieuropäischen und illiberalen Tendenzen. Das im Erhalt des Euro so erfolgreiche EU-Krisenmanagement führte zu einer beispiellosen sozialen Spaltung und zur Ent-Solidarisierung Europas. Ihre Grundwerte „Demokratie“ und „Rechtstaatlichkeit“ untergräbt die Europäische Union selbst in der Konsequenz ihres technokratischen Agierens, dies am folgeschwersten durch die Geld- und Fiskalpolitik der Kommission und der Europäischen Zentralbank, zwei von parlamentarischer Kontrolle entkoppelte supranationale Agenturen.

Die Epoche des „totalen Optimismus“ (Giandomenico Majone), in der schon die leiseste Kritik am Gang der europäischen Integration Missbilligung der Europaideologen hervorrief, ist damit endgültig zu Ende gegangen. Jetzt herrscht landauf, landab ein noch nie dagewesener Europa-Pessimismus. Als Haltung genießt der Pessimismus keinen guten Ruf. Er gilt als Verwandter negativen Denkens, als kontraproduktiv und die guten Absichten untergrabend. Dabei sollte man ihn nicht vorschnell verurteilen. Im „Pessimismus des Verstandes“ erkannte schon der italienische Philosoph Antonio Gramsci eine unverzichtbare Produktivkraft der Vernunft, zumal unter widrigen äußeren Umständen. Denken, das durch negative Erwartung bestimmt ist, kann zur klareren Erkenntnis verhelfen und Wahrheiten ans Licht bringen, die durch Blauäugigkeit oder politische Korrektheit verdeckt werden.

In seinem Essay Europadämmerung stellt Ivan Kratsev diese schöpferische Kraft des analytischen Pessimismus eindringlich unter Beweis. Der Autor – 1965 im bulgarischen Lukivit geboren, Vorsitzender einer Denkfabrik in Sofia und politischer Kommentator, unter anderem für die New York Times –  erprobt in dem Buch eine interessante Variante des pessimistischen Denkens: die Perspektive des virtuellen Danach. „Nach Europa“ lautet der wörtlich übersetzte Originaltitel des schmalen Bandes. „Nach Europa“ meint: nach dem Zerfall der Europäischen Union, nach ihrem Untergang, also nach dem GAU. Krastev macht sich damit die Perspektive des „schlechten Ausgangs“ als methodisches Prinzip zunutze, um die gegenwärtigen Krisen Europas und der Europäischen Union – der Autor bevorzugt den Terminus „Revolution“ – zu durchleuchten. Den persönlich erlebten Zerfall der Sowjetunion noch vor Augen, rückt Krastev die „unausweichliche“ Auflösung der Union in eine Perspektive des Niedergangs von als alternativlos geglaubter, „ewiger“ politischer Regime, eines Epochenbruchs also.

Als Schlüssel zum Verständnis des Untergangsszenarios identifiziert Krastev vor allem die Flüchtlingskrise. Alle Erscheinungen der sozialen und politischen Desintegration Europas und der Europäischen Union werden auf das Migrationsgeschehen zurückgeführt. Die „Migrantenrevolution“ (Krastev) habe das Fass zum Überlaufen gebracht und dem System der Europäischen Union den Todesstoß versetzt. Die Kernaussage des Essays lautet: Die „Flüchtlingskrise kann als primus inter pares der aktuellen Krisen und als der ‚Tanzpartner‘ gelten, den die EU letztlich heimführen wird. Als einzig wirklich gesamteuropäische Krise stellt sie das politische, ökonomische und soziale Modell Europas infrage. Die Flüchtlingskrise hat die Lage in Europa grundlegend verändert. Sie lässt sich nicht einfach durch den Zustrom von Flüchtlingen oder Arbeitsmigranten erklären. Wir erleben … auch eine Migration der Argumente, Emotionen, politischen Identitäten und Wählerstimmen. Die Flüchtlingskrise erweist sich als Europas 11. September.“

Also nicht die Mängel der institutionellen Struktur der Union oder der nationalen Demokratie, nicht die Währungsunion oder das Demokratiedefizit, seien Schuld an der gegenwärtigen Malaise Europas, sondern einzig und allein die Flüchtlingskrise. Indem sie den populistischen Aufstand gegen das Establishment hervorgerufen und die Ängste der sozial Abgehängten und vom Abstieg bedrohten Mittelschichten in fremdenfeindliche Affekte umgewandelt hat, trägt sie zur Ethnisierung der Demokratie bei, was ihre Selbstauflösung bedeutet. Anstelle des universalen und prozeduralen Verständnisses von Demokratie greift zunehmend wieder eine ethnisch-nationale Bestimmung der Zugehörigkeit zur Bürgergemeinschaft Platz, mithin eine illiberale „Neudefinition“ der Volkssouveränität. Das hat „den Charakter demokratischer Politik auf nationaler Ebene dramatisch verändert“. Eine unmittelbare Konsequenz davon sei, dass sich die Demokratie im Zuge dessen in ein „Instrument des Ausschlusses statt der Inklusion“ verwandelt habe: Fremden wird die Integration in die politische Gemeinschaft verweigert. Die Grenzen des Mitgliedschaftsverbandes werden dadurch undurchlässiger, je mehr Menschen die territorialen Grenzen überwinden. Damit werde der universale Anspruch der liberalen Demokratie auf Partizipation und soziale Inklusion untergraben. Politische Teilhabe wird wieder stärker an Territorialität geknüpft, der Demos also primär nationalistisch definiert.

Das ist so neu freilich nicht, wie Krastev suggeriert. Seit der Französischen Revolution hat die Idee der Volkssouveränität, das konstitutive Moment der modernen Demokratie, eine doppelte Bedeutung und ist deshalb nicht frei von Ambiguität: einerseits eine institutionelle, in den Bürgerrechten und den Verfahren der Kompromiss- und Mehrheitsfindung wurzelnde Referenz; andererseits eine auf das jeweilige „Volk“ bezogene – „Demos“ versus „Ethnos“. Verlieren die politischen Institutionen und damit die regierenden Eliten das Vertrauen der Bürger, etwa weil sie in entfernte und geschlossene Netzwerke internationaler Arenen auswandern, beispielsweise nach Brüssel oder Straßburg, dann werden die sozial Abgehängten und Abstiegsgefährdeten ihrer Frustration dadurch Luft machen, dass sie im Namen des ethnischen Nationalismus, des lebensweltlich Naheliegenden und Selbstverständlichen, aufbegehren und dem „Volkszorn“ Ausdruck verleihen.

Hinzu kommt die Paradoxie der Meritokratie, auf die Krastev zu Recht hinweist: Die Dominanz der beruflich Erfolgreichen in den politischen Systemen, der professionals mit Hochschulabschluss, verstetigt und rechtfertigt die soziale Ungleichheit durch „Unterschiede in der Leistungsfähigkeit“. Das führe letztlich zum „Verlust an politischer Gemeinschaft“. Die soziale und kulturelle Kluft zwischen den Funktionseliten und den Bürgern ist nirgends größer als in der Europäischen Union. Das in den vergangenen Jahrzehnten gewachsene „Misstrauen gegenüber meritokratischen Eliten“ ist gewiss einer der wichtigsten Triebkräfte der gegenwärtigen Krise Europas sowie der nationalen Demokratien.

Schließlich unterliegen auch die Staatsgrenzen einer fundamentalen Sinnverkehrung, wie Krastev argumentiert: Galt die Leitidee der offene Grenzen seit der Jahrtausendwende als Projekt der Emanzipation von nationaler Klaustrophopie und als Zugewinn von Freiheit (nicht nur ökonomischer), so wird mittlerweile darin vielfach ein Moment der Unsicherheit und der Bedrohung der binnengesellschaftlichen Kohäsion gesehen. In dem Maße, wie die „Geburtsrechtlotterie“, welche die „Vollmitgliedschaft in einer Wohlstandsgesellschaft“ immer mehr von den Zufälligkeiten des Geburtslandes abhängig macht, Menschen massenhaft aus den benachteiligten Weltregionen in die Wohlstandsländer führt, in dem Maße wird in den wohlhabenden Demokratien der Ruf nach Grenzbefestigungen lauter. Kollektive Agoraphobie, also Angst vor offenen und weiten Räumen wird zum politisierbaren Massenaffekt. Das verändert das politische Klima, die Präferenzen relevanter Teile der Wählerschaften, namentlich der Arbeiterschaft und der Unterprivilegierten, und damit die Machtverhältnisse grundlegend.

So weit, so gut. Es ist aber ein verhängnisvoller Fehlschluss, wenn Krastev aus der im großen und ganzen zutreffend beschriebenen Krisendynamik den Schluss zieht (oder einen solchen Zusammenhang insinuiert), die eigentliche Ursache allen Übels liege in der Flüchtlingsproblematik. „Migranten sind die geschichtlichen Akteure“, heißt es an einer Stelle, „die über das Schicksal des europäischen Liberalismus entscheiden werden“. Nicht nur ist die implizite Gleichsetzung von „Flüchtlingskrise“ und Flüchtlingen fragwürdig. Bei jener handelt es sich um eine objektive Konstellation von gesamtgesellschaftlichen und politisch-institutionellen Problemen; bei diesen dagegen um eine Kategorie von lebendigen Menschen und persönlichen Schicksalen.

Darin tritt auch ein fundamentaler Denkfehler zutage, der vor allem in seiner politischen Konsequenz höchst bedenklich ist. Dieser lässt sich als eine verkehrte Kausalität beschreiben: In der Migrationskrise die Letztursache für die Krisen Europas zu sehen, bedeutet nicht nur die objektive Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse in einer zwar eingängigen, aber irreführenden Monokausalität aufzulösen. In der Konsequenz hieße dies, den Zuwanderern, und damit den Schwächsten der Gesellschaften die Schuld für die Desintegration Europas aufzubürden. Dagegen spricht vieles dafür, dass nicht die spontane Massenzuwanderung für die Desintegrationstendenzen der Europäischen Union verantwortlich zu machen ist, sondern vielmehr die inneren Systemwidersprüche und tieferen gesellschaftlichen Strukturprobleme der europäischen Gesellschaften und Demokratien, welche die Wählerschaft verunsichert und emotional aufwühlen. Die Flüchtlingsfrage hat die bestehenden Probleme der Gesellschaften Europas vertieft und die notorischen Solidaritätsdefizite verschärft. Die Ursachen der europäischen Misere sind somit in unserer Gesellschaft zu suchen und in den strukturellen Schwierigkeiten des europäischen Verbandes, nicht bei den Ärmsten der Armen, den bei uns Schutz und Sicherheit Suchenden.

Eine solche Analyse würde eine gründlichere und empirisch fundiertere Gesellschaftsdiagnose voraussetzen, als es Krastevs Sammlung von politischen Kurzkommentaren zu leisten vermag. Dessen ungeachtet ist der Essay lesenswert, nicht zuletzt, weil er scharfsinnig und konzise gängige Klischees über die europäische Integration infrage stellt und uns vor Illusionen warnt. Dass dabei ziemlich nachlässig mit Belegen und statistischen Daten umgegangen wird, ist zwar ärgerlich, aber einem Meister der journalistischen Zuspitzung wie Krastev nachzusehen.

Titelbild

Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
144 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127124

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