Wo die Toten ihre Lebenden zählen

Susan Kreller lotet in „Salzruh“ alle Facetten menschlicher Handlungsunfähigkeit angesichts absurder Begleitumstände aus und schafft ein grandioses Kammerspiel des Bedrohlichen

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neun sehr unterschiedliche Personen haben sich in der aus der Zeit gefallenen Pension Bertoldi, gelegen mitten in einem fiktiven Waldgebiet namens Salzruh in der Altmark, für einen Kurzurlaub versammelt. Jede von ihnen hat einen anderen Grund, hier zu sein: der ehemalige Schuldirektor Dieter Wassla, der um seine verstorbene Frau trauert, sich jedoch auf eine Kontaktanzeige hin mit einer potenziellen neuen Liebe treffen möchte; die Krankenschwester Jördis, die eigentlich ein Klassentreffen in ihrer alten Heimat besuchen will, mit ihrem zehnjährigen Sohn Petja; das Ehepaar Trommer, von dem nur Gerhard die bevorstehende Goldene Hochzeit begehen möchte – für die an seiner Seite dahinvegetierende Veronika gibt es keinen Grund zum Feiern; die alkoholkranke Kneipenwirtin Enna, die einen kontemplativen Ort sucht, um, wie sie sich ausdrückt, „ihre Toten zu zählen“; der schüchterne Chemiker Robert, der seine in der Nähe lebenden Eltern besuchen möchte und schließlich der junge Herr Kammrath und seine schöne Freundin Katharina, die Robert sogleich fasziniert und die er, da er ihren wirklichen Namen nicht kennt, in seiner Vorstellung Sophie getauft hat.

Der Pension Bertoldi steht ein groteskes und unheimliches Gespann vor: die blutjunge Wirtin Oda Prager und das steinalte Stubenmädchen Maria Rosa führen ein strenges Regiment. Gleich am ersten Morgen gebieten sie den Gästen, bis zum Mittag nicht das Haus zu verlassen, da in den umliegenden Wäldern ein mysteriöses „Schutzmittel“ abgesetzt worden sei. Aus dem vermeintlichen halben Tag werden jedoch schließlich Wochen und Monate der kompletten Isolation. Jegliche Kontaktaufnahme zur Außenwelt scheitert: Handys und Internet sind funktionsgestört, das Festnetz erreicht nur Anrufbeantworter, die Fahrzeuge der Gäste verschwinden auf geheimnisvolle Weise. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein: wochenlang bleibt das Wetter unverändert, ein windstiller Oktober mit stahlblauem Himmel, wie am Tag der Anreise. Zunächst traut sich niemand hinaus, die vermeintliche Gefahrensituation wird als gegeben hingenommen und bestimmt auf geradezu kafkaeske Weise alle Handlungsabläufe. Die Gäste sind auf sich selbst zurückgeworfen, kämpfen mit ihrer Vergangenheit, ihren ureigenen Geistern. Aus wechselnden Perspektiven berichten sie über sich und ihre Mitgefangenen. Doch weshalb verhalten sich die Wirtin und ihre Gehilfin immer merkwürdiger? Wer ist der geheimnisvolle Mann, der angeblich in einem alten Wohnwagen auf dem Pensionsgrundstück haust? Warum verändert sich die Anzahl der dargestellten Menschen auf den schäbigen Aquarellen an den Zimmerwänden? Wieso scheint niemand die Gruppe zu vermissen? Und was hat das alles mit dem stillgelegten ehemaligen DDR-Erholungsheim in der Nähe zu tun, das aussieht wie ein verfallenes Schloss und das sich jedem Versuch widersetzt hat, es in Nachwendezeiten zu sprengen? Und vor allem: was geschieht mit denjenigen, die sich endlich doch überwinden und die Pension Bertoldi verlassen?

Salzruh lediglich als ein Plädoyer gegen blinden Gehorsam zu lesen wird dem Buch bei weitem nicht gerecht, obwohl es, eingedenk der persönlichen Ost-Biographie Susan Krellers, die aus dem sächsischen Vogtland stammt, durchaus auch so etwas wie eine Abrechnung mit dem Geist der alten DDR darstellen mag. Den Roman hingegen als Ermutigung zur Bewältigung von Urängsten aufzufassen trifft es da schon eher. Denn die Wirtin warnt nur anfangs vor den Gefahren außer Haus – später betont sie immer wieder, dass die Gäste „freiwillig“ und „auf eigenen Wunsch“ hin die Pension jederzeit verlassen könnten, nimmt dabei jedoch die Gefahrenankündigung nie explizit zurück. Die individuelle Gefangenschaft wird also auch aus einer Angst vor Eigenverantwortung so lange ertragen, wie diese den Freiheitsdrang überwiegt – ein Schelm, der dabei an den Begriff Lockdown denken muss, der uns zwei Winter lang begleitete.

Susan Krellers Salzruh ist vielleicht einer der langsamsten und gleichzeitig einer der spannendsten Romane des Jahres. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch, denn es geht vor allem um die unterschwellig bedrohliche Atmosphäre, in welcher sich die äußerlich stark reduzierte Handlung abspielt und in der Kreller all das Quälende, Reflexive und Selbstzerstörerische ihrer Charaktere angesiedelt hat, das die eigentliche und beeindruckende Tiefe dieser Geschichte ausmacht.

Es ist nicht nur der literarische Reiz von Salzruh, Elemente des Schauerromans mit der Ernsthaftigkeit einer differenzierten Innenschau des Figurenpersonals zu verbinden; Susan Kreller spielt auf sehr subtile Weise mit Worten und bietet, fast wie in einem lyrischen Verfahren, ihrer Lesegemeinde nicht selten assoziative semantische Mehrbedeutungen an, wenn sie etwa eine Szene beschreibt, in welcher Sophie dem im Foyer wartenden Robert einen Müsliriegel schenkt; so, wie sie ihre Sprache fügt, löst das Wort „Riegel“ sofort Assoziationen von Gefangenschaft, der Unmöglichkeit von Grenzüberwindungen aus: Robert kann weder seine Gefühle gegenüber Sophie offenbaren noch die verhasste Pension Bertoldi endlich verlassen. In Salzruh wimmelt es geradezu von solchen impliziten Nebenstimmen, ohne dass man je ein Zuviel davon verspüren würde, im Gegenteil – gäbe es davon weniger, würde man womöglich die Sparsamkeit an eigentlicher äußerer Handlung doch als Mangel empfinden.

Krellers Sprache zeugt obendrein von viel eigenständigem Humor, wenn sie etwa Gerhard Trommers beiges Senioren-Oberteil als „Hochsicherheitsweste“ bezeichnet oder Sprichwörter situativ modifiziert, so Ennas verheiratete Kneipenkunden, die trinken, „bis dass der Tod entscheidet“.

Salzruh ist ohne Zweifel einer der interessantesten Romane des Jahres 2023 und beschert seiner Lesegemeinde obendrein einen überraschenden und sehr gelungenen Schluss. Das Buch erzeugt neben der Einfühlung in die persönlichen Abgründe der handelnden Figuren jenen leisen Horror, der ganz ohne dekorative Monster und schreiende Blondinen auskommt, sondern durch den fischigen Mundgeruch der spukalten Serviertochter und das eingebildete Quietschen einer defekten rostigen Schaukel im Pensionsgarten entsteht, in Susan Krellers fein abgewogener Diktion.

Titelbild

Susan Kreller: Salzruh.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
272 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783895610295

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