Erinnerungen eines Büchermenschen

Michael Krüger blickt in „Verabredung mit Dichtern“ auf ein reiches Literaturleben zurück

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungefähr 8000 Seiten mit Notizen hat der Verleger Michael Krüger in seinem überreichen Literaturleben angefertigt, wie er im Gespräch mit Knut Cordsen erwähnt. In Kisten verstaut bilden sie ein ausgelagertes Gedächtnis. Mit dem wenige  Wochen vor seinem 80. Geburtstag erschienenen Buch Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen stellt er nun wohl zumindest einige der dort verwahrten Anekdoten vor. Wieviel unerzählt bleibt, lässt sich nicht sagen. Eine Ahnung davon erhält man aber immerhin im Vorwort, das in einer 15-seitigen Praeteritio anführt, worüber noch viel hätte erzählt werden können: Ausgespart bleiben beispielsweise die Verlagsgeschäfte bei Hanser, die Beteiligung an der Gründung der ersten Autorenbuchhandlung in München, die Herausgeberschaft der Literaturzeitschrift Akzente oder die Präsidentschaft der Bayerischen Akademie der Schönen Künste sowie die damit verbundenen Erinnerungen und Geschichten.

Stattdessen erzählt Krüger von seiner Berliner Jugend am Wannsee, der Buchhändlerlehre bei Herbig in Berlin und seiner Zeit in der Buchabteilung bei Harrods in London. Er erzählt von den Anfängen beim Carl Hanser Verlag in München (vor allem von der Begegnung mit dem damaligen Cheflektor Fritz Arnold), seinen drei Wintern in Rom als Stipendiat der Villa Massimo, den Urlauben in Lindos auf Rhodos und seinen Freundschaften in New York. Orte und Namen prägen die Kapitelüberschriften und strukturieren die Erinnerungen, vor allem aber die Begegnungen, denn Literaten (kaum Literatinnen sonderbarerweise) laufen Krüger beständig über den Weg. Er sucht sie auf, verabredet sich mit ihnen oder trifft sie zufällig auf der Straße. In Melbourne gerät er in ein Gespräch mit einem Mann, der sich zuletzt als der Germanist Richard Samuel herausstellt, mit dem Krüger schon zahlreiche Briefe gewechselt hat. An seinem ersten Tag in Rom fragt er verloren nach dem Weg und trifft dabei zielsicher auf Alberto Moravia, der gerade seine Frau im Krankenhaus besucht.

Die Erinnerungen beginnen zwar in der frühen Kindheit, folgen aber nur vage dem Zeitstrahl oder autobiographischen Romanstrukturen. Vielmehr rufen sie bestimmte Orte und Konstellationen auf und stellen vor allem die Begegnung mit wichtigen Menschen in den Mittelpunkt. Dabei ist Michael Krüger eben nicht nur Verleger, sondern in erster Linie selbst Dichter (und seit diesem Jahr der erste Poeta Laureatus des Literaricum Lech): Begegnung mit einem Dichter – Michael Krüger lautet der Titel eines Dokumentarfilms von Frank Wierke, der 2022 erschienen ist. Den Titel aufgreifend richtet Krüger nun den Blick auf die Kollegen und einen Rückblick auf sein Herkommen. Die frühe Kindheit ist in dem Wiederabdruck des Gedichts „Wo ich geboren wurde“ aus dem Jahr 1990 gefasst und leitet den Hauptteil ein. Es folgen die „Strandbad Wannsee“ überschriebenen Jugenderinnerungen, der längste Part des Buches. Das Kapitel ist in einer (gekürzten) Vorfassung unter dem Titel „Das Strandbad. Szenen einer Kindheit“ in der Sommerausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte zum Thema „Wannsee“ sowie in seiner längeren Version in der Edition 5plus erschienen.

Mit Kindheits- und Jugendfotos bebildert zeichnet Krüger in diesem Teil sein Heranwachsen in Berlin-Nikolassee nach. Schon hier finden sich zahlreiche Begegnungen mit der Literatur und mit Intellektuellen. Er will bereits Dichter werden und macht schließlich eine Buchhändlerlehre, statt – wie es sich der Vater wünscht – zu studieren. Gleichwohl liest er viel und besucht abends Vorlesungen zur deutschen Literatur bei Walter Emrich, Peter Szondi und Michael Landmann. Ein richtiges Studium ist das zwar nicht, aber die berufliche Arbeit mit Büchern und den Menschen, die sie geschrieben haben, ersetzt die Leerstelle im Lebenslauf und kann womöglich gar als die bessere geistige Ausbildung gelten. „Eigentlich habe ich meine Arbeit im Verlag bis zum Ende als nachgeholtes Studium verstanden: Ich war der lebenslange Student, der sich die besten Lehrer suchen durfte und dafür sogar noch ein Gehalt bezog.“

Im Rückblick auf die Jugend vermischt sich die jüngere Perspektive mit den Kenntnissen des Älteren. Die Vergangenheit wird dadurch lebendig und nacherlebbar. Gleichzeitig eröffnet das retrospektive Mehrwissen weitere Bezüge. Bei einem Spaziergang mit der Mutter etwa taucht eine Reiterin auf der anderen Seite der Grenze auf, und während sich der Junge wundert, dass diese sehr mondän wirkende Freizeitbeschäftigung mit seinen Vorstellungen von der DDR konfligiert, führt die ältere Stimme schon in einem längeren Exkurs aus, um wen es sich dabei gehandelt habe. Wie er später von Joel Agee erfuhr, war das wohl dessen Mutter Alma, die damals in zweiter Ehe mit dem deutschen Schriftsteller Bodo Uhse verheiratet gewesen war.

Michael Krüger erzählt assoziativ und gibt sich selbst Raum für Exkurse, so als säße man mit ihm auf seiner Terrasse und dürfte zuhören, wie das damals war in London, als er morgens den Hofbibliothekar zur neueren deutschen Literatur beraten hat und abends in einem Schweizer Nachtclub arbeitete. Während der Villa-Massimo-Zeit ist er bei dem Ehepaar Calvino und zieht mit dem Wahlrömer Peter Berling, einem Schriftsteller und Schauspieler, um die Häuser. Dabei schweift die Erzählung auch zu dem Hanser-Autor Umberto Eco ab, dem er zwar nicht in Rom, aber bei anderen Gelegenheiten begegnet ist. Mit den Urlauben auf Rhodos verbindet er die Abendessen mit Gregor (‚Grischa‘) von Rezzori und dessen Frau, zu denen ab und an auch Bruce Chatwin hinzustieß. Grischas Geburtsort Czernowitz wiederum ruft eine Erinnerung an den Besuch in der Bukowina auf, wo im dortigen Literaturhaus ein junger Mann stand, der Paul Celan verblüffend ähnelte und sich als dessen Sohn Eric herausstellte.

In seiner langen Verlagstätigkeit hat Michael Krüger natürlich schon häufiger über Schriftstellerinnen und Dichter geschrieben. Meistens gab es dazu einen Anlass, einen freudigen oder einen traurigen. So mischen sich in den Erinnerungsband Laudationes, Glückwünsche oder Nachrufe, weil manches eben bereits aufgeschrieben wurde. Aber auch eigene und fremde Gedichte fließen ein und ergeben so eine Textmischung, die zuletzt durch ein angehängtes Gespräch mit dem Literaturkritiker Knut Cordsen über die Verlegertätigkeit unter der Überschrift „Glück gehabt“ ergänzt wird. Und Krüger hat sicherlich viel Glück gehabt, mehr als in ein Buch passt. Daher muss er sich beschränken. Zeit und Platz sind begrenzt und doch gäbe es noch viel zu erzählen. „Aber das ist eine andere Geschichte“ ist eine Wendung die einige Male auftaucht. Auch sie möchte man gerne erfahren.

Neben wichtigen autobiographischen Begegnungen – drei Kapitel erinnern bereits im Titel an Reinhard Lettau, Walter Höllerer und Klaus Wagenbach – stehen insbesondere die Begegnungen mit Dichtern im Zentrum. Die Liebe zur Lyrik verbindet ihn mit seinen schwedischen, israelischen, niederländischen und polnischen Freunden und Kollegen. Dazu gehören Tomas Tranströmer etwa, David Rokeah, Remco Campert, Czesław Miłosz, Tadeusz Różewicz und viele andere. Er schreibt auch von „The Boys“, wie Krügers New Yorker Verleger Roger Straus sein poetisches Triumvirat Derek Walcott, Joseph Brodsky und Seamus Heaney nannte. Mehr noch als die Prosa liegt ihm die Lyrik am Herzen, die in der Literaturwelt einen schwereren Stand hat. Nur nebenbei fast tauchen Romanciers wie Harry Mulisch oder Henning Mankell auf.

Und dennoch: Obwohl der Erinnerungsband von so vielen Freundschaften und Begegnungen berichtet, fehlen einige. Krüger zählt die Länder auf (die Schweiz, Frankreich, Spanien, Japan, Türkei, Russland, das Baltikum…), wo überall Literaturschaffende leben, von denen er noch erzählen könnte, erzählen müsste. Vor allem aber fehlt eine ganz besondere Gruppe: „Kein einziger der deutschen Dichter, mit denen ich mein Leben verbracht habe und die mein Leben auf eine großartige Weise bereichert haben, wird auch nur mit dem Namen genannt.“ Die vollen Kisten und Aktenordner aus einem Leben mit der Literatur bieten noch genug Stoff für weitere Erinnerungsbände. Vielleicht ist dieses Buch nur die 1. Lieferung. Man würde es sich wünschen.

Titelbild

Michael Krüger: Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
447 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431399

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