Irgendwie, irgendwo, irgendwann

Anja Kümmel kritisiert in ihrem Zeit- und Parallelwelt Roman „V oder die Vierte Wand“ die Überwachungsgesellschaft und verhandelt Fragen der Identität

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Alle guten Science-Fiction-Romane“, meinte Anja Kümmel einmal in einer Rezensionen, „spiel[en] zwar in der Zukunft, erzähl[en] jedoch vom Jetzt“. Einer solchen Verengung kann man zwar aus guten Gründen widersprechen, doch sollte man vielleicht Kümmels eigene Science-Fiction-Romane auch an dieser Maßgabe messen. Hier gilt es, ihren jüngsten anzuzeigen: V oder die Vierte Wand. V ist der Name eines Londoner Clubs und die ominöse vierte Wand trennt die ProtagonistInnen des Romans vom ebenfalls ominösen Beobachter an den Monitoren einer Überwachungsgesellschaft gerade so, wie die nicht vorhandene vierte Wand SchauspielerInnen auf der Bühne vom Theaterpublikum trennt. Sowohl der Observant im Roman als auch die BesucherInnen im abgedunkelten Theaterraum bleiben für die AkteurInnen unsichtbar.

Der Roman hält zwei Identifikationsfiguren zur Auswahl bereit, auch wenn beide tatsächlich nur wenig Identifikationspotenzial besitzen: Da wäre einmal der männliche Ich-Erzähler Mesca, ein aus Mexiko stammender junger Stricher und Dealer, dessen Geschichte im Los Angeles der ausgehenden 1970er-Jahre beginnt. Wenn es von Männern heißt, sie würden alle sieben Sekunden an Sex denken, so scheint das zumindest auf ihn zuzutreffen. Hat die Figur mit dem sprechenden Namen gerade einmal doch etwas anderes im Sinn, so handelt es sich gewöhnlich um Drogen. Denkt Mesca jedoch an Sex, dann an seine Freier oder an seinen Geliebten, der unlängst nach London verschwunden ist. Von seiner Sehnsucht nach ihm angetrieben, reist Mesca diesem nach. Er schafft es auch, am Ort seiner Wünsche anzukommen. Dort sieht er sich aber auf mysteriöse Weise ein rundes halbes Jahrhundert in die Zukunft versetzt und zudem womöglich sogar in eine Parallelwelt. Dass er in einer anderen Zeit als der eigenen gelandet sein könnte, dämmert ihm allerdings nur langsam. Nicht nur aus diesem Grund steht er den Widerfahrnissen im dystopischen London der Zukunft vom ersten Moment an weitgehend verständnislos gegenüber, denn er kommt geradewegs aus dem Jahr 1980. Vieles davon dürfte auch den Lesenden Rätsel aufgeben, anderes hingegen weit weniger, haben sie dem Protagonisten gegenüber doch den Vorteil, dass sich politische Entwicklungen, vor allem aber technische Neuerungen dieser Zukunft im Jahr 2017 bereits andeuten. So etwa die jedem Menschen eingepflanzten meshchips oder die meshpads, die alle ständig mit sich herumtragen. Hilfloser noch als der Zukunft Londons stehen die Lesenden womöglich dem gegenüber, was der zugedröhnte Junkie nicht immer sonderlich zusammenhängend aus dem Jahr 1980 erzählt. Zumal ihnen das Verständnis des Geschehens durch ständig eingeflochtene fremdsprachige Begriffe erschwert wird. Denn Mesca und seine Kumpel bedienen sich immer wieder spanischer Kraftausdrücke und Slangwörter. Die Umgangssprache der Subkultur im postapokalyptischen London wiederum ist von Fetzen einer Art Pidgin-Chinesisch durchsetzt. Denn in dem Teil der ehemaligen britischen Hauptstadt, in dem Mesca landet, hat „der Drache“ das Sagen, womit die Chinesen gemeint sind. Der Westen der Stadt wiederum „gehört den Amis“.

Dem mexikanischstämmigen Ich-Erzähler Mesca hat die Autorin die Ich-Erzählerin Fenna gegenübergestellt. Sie lebt in Island, einem rückständigen Land, in dem die Menschen noch nicht einmal „gechipt“ sind, und wird von heftigen finanziellen Sorgen geplagt. Darum hat sie sich kurzerhand entschlossen, sich als Auftragskillerin anheuern zu lassen. Zweifel daran, ob sie sich für einen solchen Job eignet, dürften beim Publikum spätestens dann aufkeimen, wenn es erfährt, dass die Möchte-gern-Killerin zum einen kein Blut sehen kann und zum anderen seit etlichen Jahren Pillen gegen „Gereiztheit, aggressives Verhalten und Panikattacken“ konsumiert.

Anders als die Zeit, aus der Mesca kommt, lässt sich die ihre nicht so ohne weiteres bestimmen. Zwar erwähnt sie einmal, es sei rund 150 Jahre her, dass die Spanische Grippe in Europa wütete – die Handlung müsste demzufolge also um 2070 spielen – andererseits heißt es aber, dass die 2010er-Jahre nur 20 Jahre zurückliegen. Demzufolge wäre Fennas Gegenwart zwischen 2030 und 2040 anzusiedeln. Vermutlich lebt sie also in einer alternativen Zeitlinie oder in einer Parallelwelt. Darauf deuten auch einige kleinere Verschiebungen hin. So wurde etwa ihrer Erinnerung gemäß der Song Walk on the Wilde Side nicht 1972 von Lou Reed eingespielt, sondern 1967 von Velvet Underground. Punks jedenfalls gibt es noch immer. Ansonsten aber hat sich selbst im so rückständigen Island einiges getan. Die Menschen sind nicht mehr wie Mesca und seine Kumpels von anno dunnemals drogen-, sondern internetsüchtig. Denn „nur geteilte zeit ist gelebte zeit“, wie der werbewirksame Slogan von LifeLine lautet. Kein Wunder also, dass „Fear of Logging Out“ ein „offizielles Krankheitsbild“ ist. Allerdings stößt man im London der Zukunft noch immer ebenso auf Altbekanntes wie im zukünftigen Island. Werden hier E-Zigaretten geraucht, so hinterlassen dort noch immer „sprayer-kids“ ihre Tags an den Wänden.

Um ihren ersten Auftrag erledigen zu können, lässt Fenna sich eine andere Identität aufpfropfen, von der sich zu lösen eines der Probleme ist, denen sie sich in der Folge zu stellen hat. Auch die Identitäten einiger Nebenfiguren scheinen zu changieren. Kümmel verhandelt auf diese Weise diverse Fragen, die das Problemfeld Identität stellt.

Ihr mörderischer Auftrag führt Fenna – wie könnte es anders sein – ebenfalls nach London. Doch auch sie landet in einer anderen Zeit, nämlich in einem „ziemlich desolaten Früher, das es so nie gegeben hat“, dasjenige, aus dem Mesca kommt. Natürlich treffen beide auf ebenso verschlungenen wie undurchsichtigen Wegen irgendwie, irgendwo und irgendwann aufeinander. Denn die beiden keineswegs ruhenden Pole der Erzählung liegen zwar denkbar weit auseinander, ziehen einander aber doch an, wie es Pole nun einmal zu tun pflegen.

Die Isländerin steht der vergangenen Welt, in der sie gelandet ist, nicht weniger verständnislos gegenüber wie Mesca seiner zukünftigen, und ihre Gedanken wirken teilweise genauso unstrukturiert wie die seinen. Etwa wenn sie über die Zeit räsoniert, „die Zeit braucht, um zu vergehen“. Es ist aber auch wirklich eine missliche Angelegenheit mit der Zeit in diesem Roman. Insbesondere dann, wenn sie sich „verheddert“.

Nun hat Kümmel ihre beiden ProtagonistInnen zwar so komplementär angelegt wie Ying und Yang, die Erzählstimmen, die sie ihnen mit auf den Weg gegeben hat, unterscheiden sich zunächst einmal jedoch nicht sonderlich. Vielleicht hat die Autorin selbst nicht darauf vertraut, sie jeweils mit einer eigenen unverwechselbaren Sprache beziehungsweise Sprechweise ausgestattet zu haben, und darum für Mescas Erzählung im Unterschied zu derjenigen Fennas die Kleinschreibung und das Präsens gewählt. Auf dass die Lesenden wissen, wer da gerade zu ihnen spricht. Erinnert sich Mesca jedoch an etwas Zurückliegendes, dann berichtet er ebenfalls im Präteritum oder Perfekt und die strikte Kleinschreibung aller Wörter wechselt zur herkömmlichen Großschreibung der Substantive und der Satzanfänge.

Die Sprünge zwischen seinen Erzählsträngen vollziehen sich urplötzlich und manchmal sogar mitten im Wort. Gelegentlich wechselt dabei auch der Schrifttyp. In wieder anderer Type sind enigmatische Zeichenfolgen eingefügt, die an DOS-Kommandos erinnern und die Erzählsprünge in Mescas Bericht trennen. Sein Stil peitscht dabei stets voran und wirkt – egal, wann und wo er gerade ist – immer ein wenig gehetzt. Dabei verlangt er zugleich eine aufmerksame Lektüre, zu fremd erzählt er von seinen beiden ebenso fremden Welten, dem vergangenen Los Angeles und dem künftigen London. Hinzu kommt, dass die unvollständige Syntax seiner Sätze der gesprochenen Rede nachempfunden ist, wodurch der Lesefluss ständig unterbrochen wird.

Mag Mesca auch abgehackt und wirr erzählen, so hat er scheinbar doch eine gediegene kulturgeschichtliche Bildung genossen. Wie anders sollte ihn ein Paar an „amor und psyche“ aus Apuleius’ Roman Der goldene Esel erinnern oder die von einer Nebenfigur erschaffenen Skulpturen an die Terrakotta-Armee des ersten chinesischen Kaisers Qín Shǐhuángdì. Doch wartet Fenna ebenfalls mit überraschenden Kenntnissen der Kulturgeschichte auf und kennt etwa Einzelheiten aus den Alien-Filmen, die den Menschen in der fernen Zukunft offenbar weit geläufiger zu sein scheinen als jungen Leuten heutzutage.

Fenna lebt zwar etliche Jahrzehnte und mehrere tausend Kilometer von Mesca entfernt, erzählt jedoch zunächst im gleichen Stakkato. Auch lieben es beide Figuren, Metaphern heranzuziehen. Manche von ihnen könnten geradewegs einem hard-boiled-Krimi aus der Feder Raymond Chandlers entsprungen sein. Etwa wenn Wolkenkratzer-Ruinen in den düsteren Himmel ragen wie „eine unregelmäßige Reihe verrotteter Zähne“ oder tatsächliche Zähne „wie akkurat in die Erde gesteckte weiße Spaten“ aus jemandes „dunklem Gesicht blitzen“.  Dabei muten Fennas Metaphern auch schon einmal etwas seltsam an: „Meine Stimme klingt, als wollte ich damit Fisch mürbe klopfen“. Merkwürdige Fisch-Metaphern mögen einer Isländerin allerdings durchaus zuzutrauen sein. Ihre Wendung, sie habe etwas „zum gefühlt tausendsten Mal“ erlebt, allerdings klingt für jemandem aus der ferneren Zukunft doch allzu sehr nach heutigem Jargon.

Kümmel lässt nicht nur Fenna und Mesca erzählen, sondern bietet den Lesenden auch Einblicke in den Überwachungsraum, aus dem sie via Drohnen beobachtet werden. In diesen Passagen ist der Erzählstil dem Inhalt auf originelle Weise angepasst, sodass die Lesenden den Eindruck haben, selbst dem Geschehen auf einem durch eine Drohne versorgten Bildschirm zu folgen. Die Szenen aus dem Überwachungsraum sind ebenso wie die DOS-Befehle in einer anderen – und untereinander wiederum unterschiedlichen – Schrift gesetzt als diejenige, die den Berichten der beiden ProtagonistInnen gemeinsam ist.

Erzählt Kümmels in der Zukunft der Jahre 2070 respektive 2030 oder 2040 und in der Vergangenheit um 1980 handelnder Roman nun aber von der Gegenwart und erfüllt somit eine der Autorin zufolge notwendige Bedingung für einen guten Science-Fiction-Roman? Einige Sachverhalte, die wir aus unserer Alltagsgegenwart kennen, finden sich tatsächlich ziemlich unverändert im Roman wieder. Aber das ist natürlich kein Kriterium, auf das sie es abgesehen hat. Entscheidend ist vielmehr, ob die Verhältnisse der Handlungszukunft die gegenwärtigen extrapolieren und womöglich als Kritik an ihnen gelesen werden können.

Ja, Kümmels Roman ermöglicht es, ihn so zu lesen. Er lässt den Lesenden sogar überhaupt keine andere Wahl. Zu sehr drängt sich die implizite Kritik an heutigen Zuständen auf, namentlich diejenige an der sich perfektionierenden Überwachungsgesellschaft und an sonstigen durch das Internet forcierten Übelständen. So wird die Cloud als „Gefängnis“ charakterisiert und wo die mit den bloßen Sinnen nicht wahrnehmbaren Minikameras von  AllSec, dem „führenden sicherheitsunternehmen weltweit“ herumschwirren, „ist auch der ärger nicht weit“. Und die sind (potenziell) überall. Die Mimik ihrer Gegenüber wiederum können die zukünftigen Menschen nur noch mit Hilfe des Programms EmoRec deuten. Überhaupt können sie sich nicht vorstellen, wie sie ohne ihr Pad, also „ohne irgendeine Ablenkung […], was die Augen sehen“, „überleben“ sollen.

Letztlich erzählt Kümmels Warn-Dystopie also durchaus von der Gegenwart und ihren zu befürchtenden Entwicklungen. Gut ist sie darum allerdings noch nicht. Doch dass alle von der Gegenwart handelnden Science-Fiction-Romane eben darum schon gut seien, hat Kümmel auch gar nicht behauptet. Denn ihr Statement impliziert nur, dass es sich um eine notwendige Bedingung handelt, nicht jedoch, dass diese auch schon hinreichend sei.

Unabhängig davon, wie Kümmel selbst das sieht, lässt sich die Frage, ob ein Science-Fiction-Roman gut ist, allerdings nicht alleine und nicht unbedingt an seinem Gegenwartsbezug festmachen. Eigentlich sind die entscheidenden Kriterien sogar andere. Einige der wichtigeren seien hier genannt: Unterhält er, fesselt er vielleicht sogar? Sind Figuren, Handlung und Setting stimmig? Ist der Plot originell? Oder sind es wenigstens einige der Ideen? Sind sie literarisch angemessen und ansprechend umgesetzt? Sind die Figuren nicht nur bloße Klischees oder Funktions- und Thesenträger, sondern vielschichtige, individualisierte Charaktere? Bietet er Denkanstöße und, last not least, evoziert er den berühmten Sense of Wonder? Ein guter Science-Fiction-Roman muss zwar nicht unbedingt ausnahmslos alle diese Kriterien erfüllen, der vorliegende Roman lässt jedoch zu vieles davon vermissen. Gleichzeitig ist er auch nicht als leichtes Lesefutter geeignet. Im Gegenteil, sein sperriger Erzählstil dürfte es etlichen Lesenden recht schwer machen, bei der Stange zu bleiben. Zumal das Wohl und Wehe der Figuren nicht wirklich berührt und auch der Fortgang der ineinander verschlungenen Handlungsfragmente kein rechtes Interesse zu wecken vermag. So lässt sich Kümmels Experimentierprosa denn auch schwerlich guten Gewissens als reines Lesevergnügen empfehlen.

Titelbild

Anja Kümmel: V oder Die Vierte Wand.
Hablizel, Lohmar 2016.
380 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783941978225

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