Zwischen Scham und Bunker

Westdeutsche Familienhölle: Svealena Kutschkes Roman „Gewittertiere“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine westdeutsche Familienidylle, Anfang der neunziger Jahre, in einem Reihenhaus irgendwo in Norddeutschland: Hannes, der Teenager-Sohn, stopft sich mit Chips und Süßigkeiten voll, um sein Leid als Mobbingopfer zu vergessen. Seine ein Jahr jüngere Schwester Colin, die im Clinch mit ihrem Körper und Begehren liegt, beobachtet von der Couch aus ihre betrunkene Mutter, die sich auf dem Teppich sitzend an ihre Zigarette klammert. Ein einziger Anruf von Großmutter Paula hat genügt, um Nora Becker in eine verschreckte Tochter zurückzuverwandeln.

Getaucht ist diese Szenerie in ein gespenstisch blaues Licht aus dem Garten, wo Vater Martin gerade beschämt unter einer Plane in einer riesigen Grube sitzt. Aus ihr hätte nach jahrelanger Feierabendmaloche eigentlich ein Bunker werden sollen, die Zufluchtsstätte für seine Familie. Schließlich werden die Zeiten immer unsicherer, gerade jetzt nach dem Mauerfall, mit der „Flut von Glücksrittern und Elenden aus allen Herren Ländern“, die sich über die heimelige Bundesrepublik ergießt. Nur leider haben ihm sein Dilettantismus und seine Knausrigkeit hoffnungslos die Betonmischung ruiniert.

Willkommen in der – nur literarisch zu ertragenden – Familienhölle der Beckers! Gewittertiere ist ein psychologischer Familienroman, wie man ihn lange nicht gelesen hat. Svealena Kutschkes viertes Buch ist eine beklemmende Geschichte über familiäre Verstrickungen, die Macht des Wiederholungszwangs und eine Scham, die lebenslang anhalten kann. Bei den Beckers, einer neurotischen Kleinfamilie wie aus dem Bilderbuch, funktionieren Liebe und Zuneigung nach dem Schaukelprinzip: „In ihrer Familie“, erkennt später die erwachsene Colin, „musste man immer jemanden verraten, um jemand anderen glücklich zu sehen.“

Die unverarbeiteten Traumata ihrer eigenen Kindheit sorgen dafür, dass der Lebensmittelhändler Martin und die Hausfrau Nora ihr Eltern-Dasein als einzige Enttäuschung empfinden. Während Colin ihre Erzeuger mit ihrer Verträumtheit und Lethargie verstört, ist Hannes ein Sitzenbleiber, der wie von selbst den Unmut seiner Umwelt provoziert und prompt die Rolle des Familien-Sündenbocks zugewiesen bekommt. Allabendlich werden am Esstisch Schuldgefühle eingeimpft, zumal der Vater ohnehin zwanghaft alles auf sich beziehen muss und im Grunde nur zwei Verarbeitungsmodi kennt: Entwertung oder Vereinnahmung.

Das wird auch dann deutlich, als nach der Wiedervereinigung eine Serie von Brandanschlägen auf Asylbewerberheime schockiert und sich der Rest der Familie bei einer Lichterketten-Demo einreihen will, Martin dagegen im Garten Dringenderes zu tun hat. „Hier verbrennen Asylbewerber, und du baust deiner Familie einen Bunker!“, giftet die Tochter. Ironischerweise zerstört dabei das unstillbare Sicherheitsbedürfnis des Kleinbürgers, Martins Versuch, seine Familie zu schützen, das Familienleben: Die Mutter verliert ihren geliebten Garten, die Kinder den Vater, den die Grube „verschluckt“, und die Rücklagen gehen auch flöten.

Die Reaktion dieser exemplarischen deutschen Familie auf rechte Gewalt und Fremdenfeindlichkeit ist ein wichtiges Leitmotiv des Romans, der sich zeitlich bis zum NSU-Prozess erstreckt. Ebenso wichtig aber ist das Thema von Scham und Körperlichkeit, gerade in Bezug auf Colin, die mangels Resonanz lange braucht, ihre lesbische Identität zu entwickeln. Eine Begegnung mit einem Exhibitionisten im Wald wird von ihrer unempathischen Mutter genauso heruntergespielt wie das regelmäßige Auftauchen des Lehrers nach dem Sportunterricht in der Mädchenumkleide; Colin würde sich nur etwas einbilden, behauptet Nora. 

So kann die Pubertierende gar nicht anders, als beim FKK-Urlaub die unverhohlenen, abtastenden Blicke der männlichen Stammgäste als normal zu empfinden und den eigenen Körper als Provokation. „Zu der Scham über den Körper kam die Scham, der eigenen Wahrnehmung nicht trauen zu können, sich lächerlich gemacht zu haben.“ 

Gekonnt wechselt Kutschkes allwissende Erzählerin immer wieder die Perspektive, begleitet ihre Protagonisten bis ins Berlin von heute, wo der erwachsene Hannes als Gerichtsvollzieher gönnerhaft mit den forschen Sprüchen seines Vaters gegenüber Schuldnern auftrumpft. Und Colin ambitionslos ihr Referendariat abbricht, um lieber in einem Späti zu jobben, womit sie genauso unbewusst in die Fußstapfen ihres Vaters tritt wie mit ihrem Schreiben. Ihr uferloses Romanprojekt über eine von ihr obsessiv geliebte Mitbewohnerin gleicht einem Bunker in Textform.

Immerhin findet sie in der türkischstämmigen Eda nach etlichen Fehlschlägen endlich eine verständnisvolle Partnerin; zumindest so lange, bis Colins Eltern wie eine „Kolonialmacht“ die gemeinsame Wohnung mit den Erbstücken der Großmutter ausstaffieren. Die Sprache der 44-jährigen Autorin überzeugt, gerade auch in der Schilderung berührender Szenen einer queeren Liebe mit zwei beschädigten Charakteren, durch ihre Bildhaftigkeit und Präzision.

Sie wird jedoch immer dann schwach, wenn der Text allzu sehr zur literarischen Familienaufstellung gerät und mehr psychologisch kommentiert als erzählt, als hätte Svealena Kutschke die goldene Regel „Show, donʼt tell“ vorübergehend vergessen. Passagen wie „Das war es, was ein Familiengewebe von jedem anderen unterschied: die Fähigkeit, vollkommen eigene Realitätsbezüge zu schaffen. Ein System zu errichten, das sich nicht im Vergleich mit der Außenwelt, sondern nur intern zu beweisen hatte.“ klingen jedenfalls zu sehr nach psychologischem Lehrbuch.

Titelbild

Svealena Kutschke: Gewittertiere.
Claassen Verlag, Berlin 2021.
356 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783546100199

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