Autorschaft und Schreiben im digitalen Wandel

Der Band „Screenshots“ von Katrin Lange und Nora Zapf erkundet Literatur im Netz

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ist das (schon) Literatur?“ Diese Frage greifen die Herausgeberinnen des Sammelbandes Screenshots. Literatur im Netz, Katrin Lange und Nora Zapf, gleich in der Einleitung auf – viele Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien mögen dabei sofort an bestimmte Tweets und Hashtags denken, die diese Unsicherheit in der Tat thematisieren. Ist dort, wo spielerisch mit Sprache umgegangen wird, gleich Literatur zu vermuten? Die Verwischung von Grenzen, bereits ein Merkmal der Postmoderne, hat sich im Zuge der Digitalisierung deutlich verstärkt: die Übergänge zwischen Privatem und Öffentlichem, „zwischen Profanem und Poetischem“ sind fließend; Produktion, Reproduktion und Rezeption finden in einem (virtuellen) Raum statt, der durch Spontaneität und Gleichzeitigkeit gekennzeichnet ist. Zwar leben wir heute in einer Welt, in der das Digitale nicht mehr neu ist, sondern alle Lebensbereiche bereits selbstverständlich durchdringt – darauf verweist der Begriff des Postdigitalen –, doch ist diese Alltagsevidenz noch nicht ausreichend reflektiert und aufgearbeitet worden. Denn das Postdigitale verweist auf einen andauernden und insofern unabgeschlossenen Zustand.

Die Beiträge zu dem aus einer Münchner Tagung vom Dezember 2017 hervorgegangenen Band widmen sich einem Phänomen, das von den Feuilletons – so die Herausgeberinnen – allzu gerne als ephemer abgetan wird, und das per se schwer systematisch zu erfassen ist, da noch im Entstehen begriffen: „In der Digitalen Literatur drückt sich eine Zuneigung zum Jetzt aus, zur digitalen Gegenwart“, die sich damit auch dem gerade erst Erscheinenden und auch schon wieder Verschwindenen widmet. Erschwerend für eine Analyse kommt noch hinzu, dass es im Netz „keine Ordnung, keine Liturgie, keine vorgegebene Abfolge der Handgriffe“ gibt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Ziel, eine Art Bestandsaufnahme zu machen: „Ein Screenshot ist der Versuch, den wie am Fließ- oder Filmband ablaufenden Wahrnehmungsfluss für einen Moment anzuhalten – diesen Moment dann aufzunehmen und zu speichern.“ Im Band kommen zu diesem Zweck in erster Linie Autorinnen und Autoren zum Wort, darüber hinaus auch Stimmen aus der Verlagszene und der Literaturwissenschaft.

Gegliedert sind die Beiträge in vier Bereiche: Im ersten Teil wird über kleine Formen reflektiert, die in einer langen literarischen Tradition (u.a. des Aphorismus) stehen, im Netz aber einen ungemeinen Aufschwung erfahren. Nach einem wissenschaftlicher angelegten Überblick von Miriam Lay Brander, die kleine Formen „zwischen Lebenspraxis und Literatur“ untersucht, finden sich hier auch literarische Texte, u.a. aus den bekannten Statusmeldungen von Stefanie Sargnagel oder Auszüge aus dem Techniktagebuch von Kathrin Passig. Der zweite Teil erkundet unter dem Titel „Das Ich. Das Ich?“ neue Autorschaften, die im Netz häufig im direkten Kontakt und Austausch mit Publikum entstehen. Material bieten hier häufig tagebuchartige Einträge: Wie ändert sich die Vorstellung von Autorschaft in Zeiten sozialer Medien und digitalen Schreibens? Auf letztere, nämlich elektronische Schreibverfahren, geht der dritte Teil, „Kybernetik als Dichtkunst“, ein. Dass im Netz Experimentelles einen neuen Boom erfährt, ist nicht unbedingt erstaunlich. Ein wichtiger Befund ist sicherlich, dass digitales Schreiben mit einem Aufschwung von Konzeptliteratur einhergeht. Unter anderem gibt Hannes Bajohr hier Einblick in das von ihm mitbetriebene Textkollektiv für digitale Literatur „0×0a“. Im vierten und letzten Teil wird das „Internet als Agora“ beleuchtet und damit der Ort politischer Interventionen in der Netzliteratur. Ein Gespräch von Nora Zapf mit der mikrotext-Verlegerin Nikola Richter reflektiert hier über den Wandel der Literatur durch die Digitalisierung: Ist erstere in diesem Prozess tatsächlich politischer geworden? Richter unterstreicht in erster Linie die vom Netz generierte neue Form von Öffentlichkeit und vergleicht sie – nicht unbedingt naheliegend, aber dann überzeugend – mit der Salonkultur des 19. Jahrhunderts, „nämlich ein halböffentlicher Kreis aus Interessierten, aus persönlich Vernetzten, heutzutage aus einer literarischen Internetgesellschaft“. Geändert hat sich der massive Austausch über Literatur, heute momenthaft und direkt. Neue Texte, so Richter, werden gleichzeitig kollektiv gelesen, geteilt, kommentiert oder weitergeschrieben.

Wie sich diese neue Form von Literatur künftig entwickeln könnte, dies zu eruieren ist nicht Anliegen des vorliegenden Bands. Er geht ganz dem selbstgesteckten Ziel nach, einen Moment im Jetzt anzuhalten und einzufangen, wie es in der Einleitung heißt – und genau darin liegt sein Wert: „angehaltene Literaturen. Danach werden sie wieder zurückgeworfen ins Weiter. Aktuelle Seite neu laden…“

Titelbild

Katrin Lange / Nora Zapf (Hg.): Screenshots. Literatur im Netz.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2019.
195 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869168159

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