Neue Perspektiven auf Natur, Kultur und den Menschen
Bruno Latour erörtert in „Kampf und Gaia“ die Rückkehr der Natur in neuer Form
Von Sebastian Engelmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBruno Latour – wohl einer der bekanntesten Vertreter der Science and Technology Studies – erörtert in seinem neuen Buch Kampf um Gaia in acht wortgewaltigen und anspruchsvollen Vorträgen die Verbindung von Natur, Kultur, Mensch und Wissenschaft. Dabei überschreitet er, wie auch in seinen bekannten Publikationen Wir sind nie modern gewesen oder auch den neueren Existenzweisen, konsequent die von ihm als unhaltbar begriffene und damit überkommene Dichotomisierung von Kultur und Natur. Auch die klassischen Grenzen der Disziplin werden in Latours umfassendes Gedankengebäude integriert. Diese Denkbewegung ist nicht unbedingt Konsens. Damit ist Latour an sich bereits herausfordernd, bedarf es doch einer Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen davon, wie die Welt „ist“, bevor man Latour unbefangen lesen kann.
Wenn man sich aber auf seine Texte einlässt, sind sie ein Gewinn. Zudem: Die Veröffentlichung steht in einem größeren Zusammenhang, der sich zurzeit in den Sozial-, Kultur- und Sprachwissenschaften, aber auch in den Naturwissenschaften zunehmend entfaltet. Zum einen ist erst vor Kurzem der Reader Science and Technology Studies von Susanne Bauer, Torsten Heinemann und Thomas Lemke erschienen, der nun auch in deutscher Sprache „Klassiker“ dieser Spielart der Wissenschaftsforschung sichtbar macht. Zum anderen erlebt die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft gerade ein Aufkommen von Akteuren, die sich abseits der klassischen anthropozentrischen Forschung bewegen und ein Eigenrecht von weniger beachteten Entitäten fordern. Neben den Publikationen von Chimaira, einem relevanten Arbeitskreis in den Human Animal Studies, öffnet sich ein neues und spannendes Feld für Überlegungen abseits der Beschränkung auf die auch von Latour kritisierte Subjekt-Objekt-Dichotomie. Folglich passt Latours neues Werk ohne Zweifel in die aktuelle Diskussion.
In Kampf um Gaia nähert Latour sich dem Thema Klimawandel an – oder noch genauer: dem sogenannten Anthropozän, also der Epoche in unserer geochronologischen Zeitrechnung, in der Menschen zum maßgeblichen Einflussfaktor geworden sind. Dies geschieht mal präziser, mal eher im Plauderton. Der mit 523 Seiten sehr umfangreiche Band versammelt die Vorträge Latours, die im Rahmen der Clifford-Lectureship in Edinburgh gehalten wurden. Zwei fundamentale Säulen der Argumentation werden von Latour in den unterschiedlichen Vorträgen immer wieder starkgemacht. Zum einen sei die Dichotomie von Natur und Kultur nicht aufrechtzuerhalten. Ganz im Geiste der Science and Technology Studies – er ist schließlich einer der Ahnherren dieser Forschungsrichtung – verweist Latour darauf, dass sowohl Natur als auch Kultur immer diffizile Praxen zur Konstruktion ihres Innen- und Außenraums benötigen. Eine objektive, nicht-vermachtete und dem Menschen äußere Natur könne es nicht geben. Und schon gar keine objektive wissenschaftliche Praxis.
Auch der Klimawandel, so kann man Latour interpretieren, ist ein „gemachtes“ Phänomen. Dies aber nicht etwa, weil das Phänomen selbst keine Materialität und Realität hat. Sondern, weil die Aushandlungsprozesse und verschiedenen Akzentuierungen durch Wissenschaftler_innen, Journalist_innen, Politiker_innen und viele andere Teilnehmer der Diskussion immer wieder neu hervorgebracht werden. Wahrheit muss so mindestens im Plural gedacht werden, wenn nicht sogar zunächst als multidimensionales Konstrukt von fraglicher Statik verstanden werden.
Mit diesem Aspekt hängt der zweite wichtige Punkt der Latourʼschen Vorträge eng zusammen. Die Natur hält in Form der Rede über den Klimawandel unvermittelt in der Politik Einzug. Die Realität des Klimawandels und der damit verbundenen Naturphänomene wird nicht nur zur Argumentationsfigur, sondern zum eigenständigen Akteur in der Diskussion, auf den reagiert wird. In der Form des von James Lovelock und Lynn Margulis ersonnenen Konzepts ‚Gaia‘, einer systemtheoretisch inspirierten und durch Rupert Sheldrake esoterisierten Vorstellung der möglichen Betrachtung der Erde als großem und sich selbst organisierenden Organismus, sei es nach Latour möglich, dass Verhältnis von dem, was wir heute Mensch und Natur nennen, neu zu denken. Hierbei geraten die Verbindungen zwischen den Entitäten stärker in den Blick als es der diskriminierenden und sich so über die Unterscheidung herstellenden Wissenschaften möglich sei.
Diese Thesen werden von Latour in den Vorträgen elaboriert, ausgeschmückt, mit Einsichten aus der eigenen Forschungspraxis, aus dem Feuilleton und der Kunst, der wissenschaftlichen und politischen Diskussion unterfüttert. Die Schriften Latours zeichnen sich stets durch ihre Hybridität aus – auch Kampf um Gaia tut dieser Tradition keinen Abbruch. Zugegebenermaßen sind die Gedankenstränge Latours oft so schwierig nachzuvollziehen, so voraussetzungsvoll, dass es schon einer Einführung in Latours Denken bedarf, um die Vielzahl an Anspielungen und theoretischen Bezugspunkten zu verstehen. In all den sich verzweigenden Strängen der Argumentation findet sich aber ein sehr relevantes und vor allem politisches Buch.
Latour spricht sich für eine radikale Reflexion der Grenzen des Menschlichen aus. Damit verlangt er von seiner Leser_innenschaft ein konsequentes Umdenken. Dieses Umdenken ist aber zunächst mit nachzuvollziehen – daher ist die Lernkurve in der Latour-Lektüre sehr steil. Wer sich aber mit der Terminologie angefreundet hat und der oft über den Wolken angesiedelten Argumentation zu folgen vermag, findet auch hier einen den Diskurs sicherlich nachhaltig beeinflussenden Text, der eine neue Perspektive auf die Welt, wie wir sie zu kennen meinen, ermöglicht.
|
||