O Mutter!

Noëmi Lerch beobachtet in „Grit“ mehr als eine rätselhafte Frau

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grit in dem zu großen Offiziersmantel und Pfeife rauchend, eng daneben Wanda, die ihre beiden Kinder betreut, das Vieh versorgt und den Käse herstellt, weitere Figuren und Tiere auf einem Bauernhof in einem Bergdorf: Das ist das Personal und die Kulisse der Geschichte über Grit, ihre Tochter Wanda und das, was die beiden und alle anderen miteinander verbindet. So schmal das Buch, so fragmentarisch und andeutungsreich die Geschichte und die Charaktere. Wer spricht, wer was tut oder getan hat und in welchen Beziehungen die Figuren stehen, klärt sich nicht beim schnellen Lesen; die chronologisch gebrochene, syntaktisch unkonventionelle Erzählung verlangt eine hellwache Lektüre.

Wenngleich Grit als Titelfigur in Noëmi Lerchs Roman im Rampenlicht zu stehen scheint, geht es doch ebenso um Wanda. Grit findet bei Wanda Obdach, Wanda wiederum versucht mit Grits Hilfe, die Familiengeschichte zu ergründen. Grit, „die immer mit den Tieren sprach“, war einst das Oberhaupt der Familie. Wir lernen sie als zierliche, willensstarke Person kennen. Eine Episode, die mit der Misshandlung eines Zirkusnashorns zu tun hat, scheint sie aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Sie wurde krank und ging für unbestimmte Zeit in eine Erholungsanstalt. Wir lesen, dass Grit irgendwann in ihr Haus ins Dorf zurückkehrte, ihr kastanienbraunes Haar war schneeweiß geworden. Damals schickte sich Wanda an auszuziehen. Wir erfahren nicht, wie alt Grit genau ist, woher sie stammt, wie sie ihren Ehemann Hias kennenlernte und warum die beiden in das Dorf kamen, in dem sie heimisch zu werden versuchten und wo sie ein altes Haus ausbauten. Wanda und Iwa, ihre Töchter, die in dieser Umgebung in großer Naturverbundenheit aufwuchsen, gehen später zum Studium in eine Universitätsstadt. Dort trifft Iwa einen Mann, mit dem sie fortgeht, während Wanda, auf die sich der erzählerische Fokus konzentriert, mit dem Schäfer Gunnar eine Familie gründet, zwei Kinder bekommt und in ein Dorf in den Bergen zieht.

Als Iwa und Wanda noch klein sind, arbeitet Grit als Veterinärin. Irgendwann wird sie berühmt. Grund dafür ist wahrscheinlich ihr Einsatz als Tierschützerin, vielleicht auch ihr Name als Züchterin von Rennpferden, den sie sich gemacht hatte. Einiges spricht dafür, dass Grit „tierflüstern“ konnte. Ihre Biografie bleibt vage, so wie die Biografien aller Figuren und überhaupt aller Geschehnisse. Damit ist ein markantes Darstellungsmerkmal des Romans benannt: Wenige Striche verleihen den Personen Farbe und stellen sie in abgekürzte Szenen; es werden Bilder und Eindrücke evoziert, Vollansichtigkeit gibt es nicht, Leerstellen bestimmen die Textur.

In einem Wechsel von Vergangenheit (erzählerisches Präteritum und Plusquamperfekt) und Gegenwart (erzählerisches Präsens) beobachten wir Grit und Wanda, wie sie denken, sich erinnern und fantasieren, wie sie miteinander sprechen und agieren. Wanda, die ihre Fingernägel permanent zurückbeißt, bis nichts mehr da ist, möchte verstehen, was zu Grits Krankheit und zu ihrem Weggang führte. Hat die Tatsache, dass Grit und Hias mit Iwa und Wanda anders als alle im Dorf waren, dass für sie als Familie „die Wochentage längst aufgehoben [waren], von der Uhrzeit ganz zu schweigen“, das Familienglück zerstört? Wie stark hat Grit Wanda geprägt? Wie viel vom eigenen Leben hat die Sehnsucht nach der verschwundenen Grit geschluckt?

Während Grit, für die Hühner „alte Faxgeräte“ sind, die „die Briefe der Ahnen“ empfangen, mit Wanda den Ahnen lauschen möchte, will Wanda, dass Grit endlich über sich und über sie selbst Auskunft gibt. Grit war als Mutter immer da, doch war sie es zugleich auch nicht. Diese Ambivalenz ist bezeichnend für das Verhältnis zwischen den beiden Frauen. So wollte Grit nicht als „Mutter“ angesprochen werden: „Grit war immer Grit gewesen, sie hatte darauf bestanden, ein ganzer Mensch zu bleiben. Die Idee, nichts als eine Mutter zu sein, die all ihr Wissen und all ihre Fähigkeiten unter Wäsche- und Geschirrbergen beerdigte, war Grit zuwider.“ Hias kümmerte sich um die Mädchen (wie ein Seepferdchen habe er sie, so die kindliche Iwa, in seiner Brusttasche herumgetragen), während Grit „in den Krieg zog“, was bedeutet, dass Grit sich aus dem Dorf in die Stadt, in die Debatten und die mediale Öffentlichkeit begab. Grit tut, was der Tradition nach eher Männer tun: Pferde züchten und reiten, als Expertin zur öffentlichen Person werden. Widersprüchlich in ihrer ganzen Person, ist Grit dennoch der Schlüssel zur Familiengeschichte und damit zu einem Teil von Wanda. Wanda, das deutet sich an, möchte Grit endlich auch als Mutter ansprechen.

Noëmi Lerch gelingt in Grit die atmosphärische Verdichtung einer familiären und individuellen Identitätssuche mit magischer Note. Die Abkehr von einem genauen Benennen und Ausbuchstabieren dominiert die Diktion. Zwei interessante Frauen betreten die Bühne, deren Leben sich auch dann nicht angemessener vorführen ließen, die als Personen nicht plausibler werden würden, wenn sie konventionell von A bis Z beschrieben und chronologisch auserzählt würden. Grit und Wanda leben in einer besonderen Welt: Diese ist karg und reich zugleich, in ihr herrschen keine materiellen Dinge, sondern einerseits eine Passion für Tiere, anderseits die Routinen einer grundständigen bäuerlichen Wirtschaft, die einer Familie die Existenz sichert. Hinzu kommt eine große Nähe zur Natur. Den Verzicht auf Luxus und verkabeltes In-der-Welt-Sein kompensiert die Autarkie des bescheidenen Hofes mit einem Reservoir an Ruhe und Zeit. Schließlich sind da Ingi und Riann, die Kinder von Wanda und Gunnar, Gunnars Schafe, eine Katze mit Augenklappe, ein überzeitlicher Pinienbaum und die Kühe Joan, Isolde und Janis. Es ist eine Welt, in der die Kühe (noch oder wieder) Garanten des Lebens sind. Dass sie auch Anlass geben, darüber nachzusinnen, wofür das Wort „Freiheit“ tatsächlich stehen mag, ist so gesehen selbstverständlich.

Titelbild

Noëmi Lerch: Grit. Roman.
verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2017.
103 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783905689853

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