Exkurse als Fenster zur narrativen Welt

Sandra Lindens Habilitationsschrift setzt Maßstäbe in der mediävistischen Exkursanalyse

Von Stefan SeeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Seeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sandra Lindens außerordentlich umfangreiche, mehr als 600 Seiten umfassende Habilitationsschrift ist das Ergebnis langer und sorgfältiger Arbeit, und diese Sorgfalt und Mühe merkt man dem Buch in sehr positivem Sinne deutlich an. Der Band ist in zwei Teile untergliedert: am Anfang stehen umfangreiche Überlegungen zum Exkurs aus theoretischer Perspektive, angeschlossen wird ein Analyseteil, der auf fast 500 Seiten nicht weniger als sechs Romane und ihre Exkurse abhandelt.

Das als „Grundlegung“ betitelte einleitende Kapitel bietet nicht weniger als eine Summe der Forschung zum Exkurs, in der umfassend die wichtigsten historischen Entwicklungslinien (von der antiken Rhetorik zur mittelalterlichen lateinischen Poetik) sowie die grundlegenden Fragestellungen zur poetologischen Funktionalisierung und zur narratologischen Verortung des Phänomens verhandelt werden. Besonders die Ausblicke auf die Möglichkeiten einer historischen Narratologie, die Linden immer wieder gibt, machen ihr Buch anschlussfähig an die jüngsten Bemühungen der Mediävistik (So verweist Linden auf den einschlägigen Sammelband zur historischen Narratologie, den Harald Haferland und Matthias Meyer herausgegeben haben, zu ergänzen wären die Erträge des DFG Netzwerks „Medieval Narratology“, dessen Überlegungen direkt mit denen Lindens in Verbindung gebracht werden können: www.medieval-narratology.de) und zeigen zukünftige Arbeitsfelder für die Auseinandersetzung mit der Exkurspoetik auf, die den Dichtungen eingeschrieben ist. Da die praktischen Untersuchungen vor allem der Thematisierung der Minne in den Dichtungen gewidmet sind, gehören auch Überlegungen zur Liebeskonzeption und zum Konnex von Minnedarstellung und dem „menschlichen Inneren“. Hier kann Linden plausibel machen, dass die „literarische Sprache bestimmte Phänomene besser fassen kann als die exakte wissenschaftliche Benennung“, wenn die „Unergründlichkeit der Minne“ produktiv gemacht wird, um das Innere der Figuren zu erhellen. Ergänzend wird zudem die rezeptionsästhetische Seite der Exkurse in Betracht gezogen, die sie als „Wanderer zwischen den Welten“ des Textes und der Rezeptionssituation ausstellen. Die Fülle des Materials und die Durchdringungsdichte in der Reflexion machen den ersten Teil des Buches zum maßgeblichen Ausgangspunkt aller zukünftigen Beschäftigung mit Exkursen nicht nur der mittelhochdeutschen Epik; hier wird Grundlegendes geleistet. Fast wichtiger ist noch, dass Linden Anlass dazu bietet, die von ihr angesprochenen Themenfelder zu vertiefen, dies scheint mir neben der von ihr selbst herausgehobenen Narratologie besonders im Bereich der Rezeptionsästhetik der Fall, die seit den neueren Arbeiten beispielsweise von Katja Mellmann in einem grundlegenden Umbruch weg von den alten Paradigmen der Konstanzer Schule begriffen ist. Hier bietet Lindens Buch hervorragende Ansatzpunkte, ihre Argumentation kritisch weiterzudenken.

Der zweite Teil des Bandes bietet Einzelinterpretation zu Hartmanns Erec und Iwein, zu Gottfrieds Tristan, zu Wolframs Parzival, dem Reinfried von Braunschweig und zu Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich – Linden will Romane aus „drei Zeitschnitten“ analysieren, dafür macht sie eine Trennung zwischen der Grundlegung der Exkurstechnik bei Hartmann, der Ausgestaltung bei Gottfried und Wolfram (was von ihr als „Rezeptionsstufe der Vorgaben Hartmanns“ gefasst wird) und den Romanen um 1300 auf. De facto ist der Großteil der Arbeit der Klassikerlektüre gewidmet, wobei intensiv auch auf die französischen Quellen der deutschen Texte rekurriert wird. Der romanpoetische Bruch, der sich in der Konzeption neuer Romane um 1300 vollzieht und den bereits Mathias Herweg aufgezeigt hat, wäre dabei allerdings mit dem Befund zu korrelieren, dass die „alten“ Romane durchaus weiterhin abgeschrieben und rezipiert wurden, dass also eine Koexistenz der unterschiedlichen Romanvorstellungen festzustellen ist. In diesem Zusammenhang wäre auch ein Seitenblick auf die Schicksale der Bücher in der Rezeptionsgeschichte interessant gewesen, die zum Beispiel für den Wilhelm von Österreich Bearbeitungstendenzen etwa in der Stuttgarter und Darmstädter Kurzfassung des Textes bietet, die kontraintuitiv gerade nicht Exkurse kürzen, sondern selektiv reduzieren. Auch die Überlieferung von Gottfrieds Tristan zusammen mit den Fortsetzungen, die ganz unterschiedliche Erzählerkonzeptionen und metapoetische Kommentarstrukturen kombiniert, wäre in diesem Kontext ein lohnenswerter Gegenstand gewesen. In diesem Bereich bleibt die Untersuchung bisweilen zu kurz angebunden.

Sie bietet stattdessen eine Fülle an Material und Forschungsdurchsicht zu den bekannten Textfassungen und rekapituliert zum Teil auch wohlbekannte Elemente der Dichtungen beziehungsweise widmet oft interpretierten Passagen noch einmal ein close reading, in dem das Material erarbeitet und aufbereitet wird. Hier, und das ist der einzige Kritikpunkt, den ich nach der Lektüre von Lindens Arbeit vorzubringen habe, hätte durch Fokussierung auf das Neue der eigenen Analyse und durch eher summarische Übersicht über die älteren Zugriffe auf die Texte das Buch an Kürze und Prägnanz gewinnen können: Einige der mehr als 600 Seiten des Bandes hätten auf diese Weise ohne Verlust an Substanz oder Argumentationsdichte wegfallen können. Lindens These von Hartmanns Exkursen als „Experimentierfeld“ für die Themen der Romane, von Gottfrieds „Rezeptionsethik“, Wolframs affektivem Zugriff auf die eng vernetzten Bereiche von Minne und Erzählen hat auch ohne den enzyklopädischen Überbau einen eigenen Wert als Diskussionsbeitrag und wird zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen werden, die besonders die Spannung zwischen den Rezeptionskonzepten Gottfrieds und Wolframs als Extrempositionen herausarbeiten sollten. Dies ist besonders vor dem Hintergrund der Erzählerkonzeption im Wilhelm von Österreich von Belang, die intensiv an Wolframs Affektpoetik anschließt, zugleich aber auch Gottfried‘sche Ideale der Ethik und Bildung inkorporiert, die ein außerordentlich hybrides Gesamtbild ergeben, vor allem aber das Fortwirken der beiden Konzepte auch jenseits des arthurischen und tristanischen Themenfeldes als Stilideale bezeugt. Für den Reinfried wiederum, der einen „Extremfall der Exkursgestaltung“ darstelle, kann Linden das Überwuchern der Erzählebene durch die Exkursebene plausibel machen und so die gesteigerte Relevanz der Erzählerfigur und ihrer „Transgression des Narration“ ausstellen. Im Schlusskapitel der Arbeit werden weitere Romane nur gestreift und Ausblicke auf Minnerede und Prosaroman gewagt, die nur anzudeuten vermögen, was trotz (oder vielmehr gerade wegen) der umfangreichen Arbeiten Lindens noch zu tun bleibt.

Insgesamt bietet Sandra Lindens Habilitationsschrift eine ausgewogene, umsichtige Analyse der Exkurse im mittelhochdeutschen Roman. Das Buch offeriert wichtige neue Deutungsansätze, die narratologisch, rezeptionsästhetisch, wissensgeschichtlich und mit Blick auf die Emotionstheorie weiter fruchtbar gemacht werden können. Das macht die Arbeit zu einer wichtigen Grundlage zukünftiger Forschung: Wer auf der Höhe der Zeit, der Methodologie und der mediävistischen Kenntnis über den Exkurs im Roman handeln will, kommt an Lindens Arbeit als Standardwerk nicht vorbei.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Sandra Linden: Exkurse im höfischen Roman.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2017.
614 Seiten, 119,00 EUR.
ISBN-13: 9783954902330

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