Nolo – Ich will nicht

Markus Liske begleitet Erich Mühsam durch die Münchener Räterepublik

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt keinen Zweifel daran, dass sich die Sozialdemokratie in den Jahren 1918/1919 beim Übergang aus der Monarchie zur repräsentativen Demokratie in verhängnisvoller Weise an die militärische Kamarilla des Kaiserreichs gebunden und dabei wenigstens billigend in Kauf genommen hat, dass der Verbund aus Militär und Freikorps ungehemmt unter den politischen Aktivisten der extremen Linken gewütet hat. Es gibt zudem keinen Zweifel daran, dass die Räterepublik im Reich wie in Bayern gerade am Widerstand der Mehrheitssozialdemokratie scheiterte.

Die SPD mit ihren Vorsitzenden Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann hat allerdings auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass die repräsentative Demokratie und nicht die Räterepublik ihr politisches Ziel war. Das hatte sie im Übrigen mit großen Teilen der USPD, die sich im Streit über den Burgfrieden und die fortgesetzte Zustimmung für die Kriegsfinanzierung von der SPD getrennt hatte, gemeinsam.

Zugleich kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Eliten des Kaiserreichs und große Teile des Bürgertums durch den Krieg und eine aggressive autoritäre Politik zutiefst diskreditiert waren. Und es ist beschämend und leider auch bezeichnend für die bundesdeutsche Gesellschaft, dass sie bis heute eher die Exponenten der militärischen Eliten ehrt, die sich nicht scheuten, politische Gegner hemmungslos hinzurichten, als die politischen Aktivisten, die eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Politik vorantrieben.

Kaum ein Zweifel kann auch darin bestehen, dass es den Politikern, die den Übergang aus der Kriegs- in die Friedensgesellschaft und den Übergang von Monarchie zu Demokratie moderierten, gelungen ist, die Demobilisierung des Heeres und die Reintegration Soldaten, die bis zu vier Jahre an der Front gewesen waren, die Sicherung der Grundversorgung und der Produktivität der Wirtschaft zu organisieren. Es ist ihnen gelungen, nach einem desaströsen Krieg Verhältnisse zu schaffen, in denen ein einigermaßen geregelter Alltag möglich war. Sie haben zudem wesentliche Erfolge für die breite Masse der Bevölkerung erzielt, darunter das allgemeine und freie Wahlrecht, das auch Frauen einschloss, und etwa die Sozialpartnerschaft, das heißt die grundsätzliche Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft.

Und es ist zweifellos richtig, dass das Resultat der Novemberrevolution keine sozialistische Gesellschaft welcher Art auch immer war. Der Kapitalismus wurde ebenso wenig abgeschafft wie das Bürgertum von der politischen Repräsentation ausgeschlossen. Keine Räterepublik und keine Diktatur des Proletariats – ist damit die Novemberrevolution gescheitert?

Aus der Sicht Erich Mühsams, dessen Blick auf die Revolution nun in einem Band vorgestellt wird, ist sie gescheitert – und sein Bearbeiter Markus Liske schließt sich dem ohne Weiteres an. Ja, die Revolution endete in einer Niederlage, die Reaktion hat gesiegt, an ihrem Ende steht, so Liske in einem seiner kommentierenden Zwischentexte, „die sogenannte Weimarer Republik, die sich allzu bald als Steigbügelhalter des deutschen Faschismus erweisen wird“. Bemerkenswert, wo das seinerzeit doch so heftig attackierte epitheton ornans „sogenannte“ nach Jahrzehnten wieder auftaucht, eben auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums. Gedankenlosigkeit?

Die Weimarer Republik ist aus Liskes Sicht kein „strahlendes Ereignis einer vollendeten Revolution“ – was angesichts der Begleitumstände auch niemand behaupten wird. Dennoch wurde mit der Novemberrevolution die erste demokratische Gesellschaftsform in Deutschland errichtet, die sich in den folgenden Jahren massiven Angriffen von links wie rechts ausgesetzt sah und daran gescheitert ist. Dafür verantwortlich sind ihre politischen Eliten, die sie zur Disposition gestellt haben. Ihren Untergang haben die politisch extremen Gruppierungen rechts wie links vorangetrieben, zwischen denen sie zerrieben wurde.

Vorbemerkungen ohne Ende also zu einem Band, der sich entschieden die Perspektive eines bedeutenden Akteurs der Münchener Räterepublik, Erich Mühsam, zu eigen macht. Notwendig sind solche Vorbemerkungen, weil sie die Sicht auf die Entstehung der Weimarer Republik entscheidend prägen. Wer die Erfolge der Revolution sieht, wird auch die Etablierung der Weimarer Republik als Erfolg werten. Wem das Erreichte zu wenig ist, dem wird auch die Weimarer Republik in keinem guten Licht erscheinen. Und zu dieser Gruppe gehört der Anarchist Erich Mühsam. Mit gutem Grund: Von 1919 bis 1924 saß er wegen seiner Beteiligung an der Münchener Räterepublik in Haft. 1933 wurde er von den Nazis erneut inhaftiert und 1934 im KZ Oranienburg ermordet.

Mühsams Sicht auf die Münchener Räterepublik verspricht mithin aufschlussreich zu sein. Markus Liske hat dafür im Wesentlichen auf Mühsams eigenen Bericht zurückgegriffen, den dieser 1920 verfasst und 1929 veröffentlicht hat. Hinzu kommen zahlreiche weitere Texte, Artikel, Aufrufe, Tagebuchnotizen und mehr, ergänzt durch einige Texte seiner Frau Zenzl. Allerdings entsteht daraus weniger ein Bild jener sechs Tage der revolutionären Münchener Räterepublik im April 1919 als das politische Porträt Erich Mühsams in Aktion.

Mühsams Bericht, den er ursprünglich an Lenin gerichtet hat, rückt naheliegender Weise seine eigenen Aktivitäten in den Vordergrund. Vergleicht man seine Darstellungen mit denen anderer Akteure, etwa Ernst Tollers, Ernst Niekischs oder Oskar Maria Grafs, dann wird man ihn wohl doch als weniger einflussreich ansehen können, als es in diesem Band den Anschein hat. Das entschiedene Engagement, das Mühsam  vom Herbst 1918 bis zum Frühjahr 1919 an den Tag legte, ist damit aber nicht infrage gestellt. Ein Blick in die Reden Kurt Eisners zeigt Mühsam als einen seiner lautstarken Gegenspieler, der sich freilich kaum auf eine politische Hausmacht stützen konnte. Als ein Aktivist der Basishielt Mühsam, wo immer es nötig war, Reden  und agitierte für eine konsequente Fortsetzung der Revolution. Selbst in der Montage, die Liske zusammenstellt, wird jedoch erkennbar, dass seine Wirkung zwischen den widerstreitenden Strategien von SPD, USPD und KPD einigermaßen unterging. Die begeisterten Reaktionen seines Publikums, von denen Mühsam wiederholt berichtet, verpufften anscheinend weitgehend.

Mühsam hat sich wiederholt darum bemüht, Parteigänger zu finden, selbst bei der KPD, der er zugleich skeptisch gegenüberstand. 1919/20 gehörte er der Partei sogar anscheinend kurzzeitig an. Sein Ziel, eine freie soziale Gemeinschaft, die auf Toleranz gründet und jedem die Entfaltungsmöglichkeiten bietet, die er benötigt, suspendierte er spätestens dann, als er bereit war, die Bedingungen der KPD zu erfüllen, die Diktatur des Proletariats zu befördern und die Sowjetunion als vorbildliches System zu präsentieren. Für einen Anarchisten ist das ein weites Entgegenkommen, wenn nicht ein Sündenfall, für den Mühsam bitter bestraft wurde.

Noskes späte Rechtfertigung, dass die SPD seinerzeit einen weiteren bolschewistischen Erfolg zu verhindern gesucht hatte, der zu Millionen Toten geführt hätte, mag vorgeschoben sein, die Angst vor einem erneuten bolschewistischen Erfolg spielte in den Überlegungen der Sozialdemokratie dennoch eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Beispiel Russland war für die Sozialdemokratie lehrreich gewesen und keineswegs ein Vorbild.

Das fand auch in der Arbeiterbewegung breite Zustimmung: In den Arbeiter- und Soldatenräten waren Sozialdemokraten in der deutlichen Mehrheit. Auch die Beteiligung von über 80 Prozent (im Reich wie in Bayern) an der Januarwahl, bei der die SPD reichsweit stärkste Fraktion wurde, zeugt von der hohen Akzeptanz des parlamentarischen Systems. Dass die Januarwahl nicht repräsentativ gewesen sei, wie Liske nebenbei bemerkt, weil Kommunisten und Anarchisten nicht teilgenommen hätten, lässt sich wenigstens an der Wahlbeteiligung nicht ablesen. Die Stärke der Sozialdemokratie auch in den revolutionären Gremien lässt hingegen auf eine hohe Akzeptanz ihrer Politik schließen. Aus der Sicht Mühsams waren Sozialdemokraten jedoch als Revolutionäre verloren.

Schließlich litt die Räterepublik, für die Mühsam unverdrossen kämpfte, unter einem legitimatorischen Defizit, das zwar historisch begründet war, aber ihre Durchsetzungskraft minderte. Die Räte waren Ende 1918 die einzigen halbwegs legitimierten Organe demokratischer Repräsentanz, da der Reichstag zuletzt 1912 gewählt worden war und über den Krieg an Legitimität verloren hatte. Ihre Legitimation bezogen sie eben daraus, dass sie zum Kriegsende als Basisorganisation der Soldaten und der werktätigen Bevölkerung auftreten konnten. Die nicht-produktiven Gruppen allerdings waren ausgeschlossen und sollten es bleiben – eine Position, die auch Mühsam vertrat und die er (wie häufig in dieser Zeit) mit dem kapitalistischen Herrschaftsgebaren begründete. Mit einer solchen exklusiven politischen Vertretung, an der sich auch Richard Müller, einer der Akteure der Berliner Räterepublik, später noch abarbeitete, verlor der Rätegedanke jedoch an Gewicht. Das sollte nicht zuletzt dadurch kompensiert werden, dass die Räte sehr viel direkter von ihren Wählern abhängig blieben als Parlamentarier. Mühsam jedenfalls nimmt die Unabhängigkeit der Volksvertreter von ihren Wählern und den Umstand, dass im Mehrheitswahlrecht die unterlegene Gruppe nicht vertreten ist, immer wieder als Argument gegen den Parlamentarismus auf. Dass Mühsam zugleich der Meinung war, dass das Parlament keine Entscheidungsbefugnis hat, sondern nur Kulisse ist, widerspricht dem zwar, wird aber von ihm hingenommen. Hinzu kommt, dass Parlamentswahlen für die Linke nie frei und unbeeinflusst sind, sondern massiv von reaktionären Interessengruppen und von verleumderischen Medien bestimmt werden. Ganz anders hingegen das Rätesystem, das auf den betrieblichen Zusammenhang, also auf einen sozialen Kontext zurückgreift, der den Arbeitern vertraut ist.

Das korrespondiert mit Mühsams Konstrukt einer freien Gesellschaft, die auf Freiwilligkeit und Solidarität beruht und eben nicht auf dem Zwangssystem Staat. Dem will sich Mühsam eben nicht mehr aussetzen. Sein frühes Bekenntnis „Nolo will ich mich nennen – nolo: Ich will nicht!“, seine Maxime, nicht zu wollen, wozu man ihn zwingen will, bildet dabei die Basis einer politischen Einstellung und einer revolutionären Agitation, die nicht auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Proletariats aus ist und ebenso wenig auf seine politische Emanzipation innerhalb des bestehenden Systems, sondern sich ins Freie und Ungekannte hinauswagt. Dabei ist eine solche Haltung zumal unter den Bedingungen des späten Wilhelminismus legitim. Mit ihr ist aber eine Gesellschaft welcher Art auch immer kaum zu organisieren. Wer nicht müssen will, wird sich auch in einer sozialistischen Gesellschaft nicht zwingen lassen. Was für Mühsam bedeutet, dass er den Zwang in seiner Idee von einem befreiten Leben fallen lässt.

Mühsams politisches Wirken, wie es Liske in seiner Textzusammenstellung präsentiert, ist nur insofern konstruktiv, als er – frei nach Bakunin – in der Destruktion der bestehenden Ordnung bereits eine konstruktive Kraft sah. Nebenbei hat der Begriff der „schöpferischen Destruktion“ in der Beschreibung des modernen Kapitalismus eine prominente Rolle. Die Revolution werde wohl – wenn man sie denn konsequent zu Ende führe – jene Kräfte stärken, die es für eine sozialistische Gesellschaft braucht. Jenseits der perspektivisch desaströsen Entscheidungen, die die Mehrheitssozialdemokraten getroffen haben, um die Revolution eben nicht bis zur Konsequenz fortführen zu müssen, ist es nachvollziehbar, dass sie sich nach einem vierjährigen blutigen Krieg und nach der Erfahrung Oktoberrevolution auf ein solches offenes Spiel, in dem die Existenz von etwa 60 Millionen Menschen eingesetzt würde, nicht einlassen wollten. Mühsam agierte, anders gesprochen, wie ein Kampagnenfürst, der sich keine wesentlichen Gedanken machen will, wie denn nach dem Sieg eine alltägliche sozialistische Gesellschaft konkret aussehen soll. Für ihn waren die Mehrheitssozialdemokraten, die stattdessen auf konkrete, wenngleich deutlich weniger weitreichende Verbesserungen setzten, nicht revolutionär genug. Dem ist zuzustimmen, aber die Alternative wirkt nicht eben attraktiv, immer noch nicht.

Titelbild

Markus Liske: Sechs Tage im April. Erich Mühsams Räterepublik.
Verbrecher Verlag, Berlin 2019.
287 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323750

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