Literatur als Relief

Über Brücken, Stimmen und Sprachen im Werk von Cécile Wajsbrot

Von Stephanie BungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephanie Bung

Es beginnt mit einem Namen. Anlässlich ihrer Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Jahr 2017 erinnert sich Cécile Wajsbrot, wie sie bei der Nennung ihres Familiennamens zu zögern pflegte, insbesondere am Telefon. Die Autorin schreibt über dieses Zögern in deutscher Sprache für ein überwiegend deutschsprachiges Publikum, weshalb ihr eine Erläuterung angebracht erscheint:

Vielleicht klingt es hier seltsam, aber mein Name ist für Franzosen ziemlich schwer auszusprechen. Die Reihenfolge der Konsonanten j, s, b, r ist ungewöhnlich, und man weiß nie, was davon zu halten ist. Meine Mutter hatte eine französische Variante gefunden, etwas wie „wesbro“, und jahrelang übernahm ich diese Aussprache, bis ich ziemlich spät bemerkte, dass die Schreibweise und die Aussprache nicht übereinstimmen. Diese Entdeckung war so erschütternd, dass ich nicht mehr wusste, wie ich den eigenen Namen aussprechen sollte.[1]

Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem schon das Aussprechen des eigenen Namens mit Unbehagen verbunden ist, begibt sich die junge Schriftstellerin auf die Suche. Über diese Phase ihres Lebens schreibt sie das Folgende: 

In dieser Zeit suchte ich auch Arbeit – Übersetzungen, Zeitungsartikel – Internet und E-Mails existierten noch nicht, so dass ich oft telefonieren und mich am Telefon vorstellen musste. Meine Verlegenheit ging so tief, dass ich den Moment, in dem ich meinen Namen sagte, immer wieder verschob. […] Darf ich es bekennen? Das Problematische in meinem Namen war der Buchstabe J, also J wie je, wie ich, J wie jüdisch. Sollte ich einen Roman ohne J schreiben – wie Perec damals ohne E? In den Jahren, in denen ich meinen Namen nicht sagen konnte, hatte ich sicher den Blick der Gesellschaft auf meine Herkunft, auf die Geschichte der Zerstörung, verinnerlicht, und so erlebte ich den Widerspruch zwischen der Außenwelt und der Innenwelt, ohne eine Brücke schlagen zu können … Wer war ich?[2]

Die unermüdliche Suche nach Brücken, die eine Verbindung zwischen einer Vielzahl von Außen- und Innenwelten herstellen, charakterisiert Wajsbrots Schreiben bis heute. Die Notwendigkeit, in literarischer Form einer spezifischen Geschichtserfahrung Ausdruck zu geben, hat sie dabei immer wieder ganz konkrete Brücken schlagen lassen, nicht zuletzt diejenigen zwischen der französischen Sprache ihrer Werke und deren deutschsprachigen Leserschaft. Mittlerweile wurde die Mehrzahl ihrer Romane ins Deutsche übersetzt, ihr jüngster Roman sogar noch im selben Jahr seiner Publikation in Frankreich: 2021 erscheint Nevermore sowohl im französischen Verlag Le Bruit du temps als auch in der kongenialen Übersetzung von Anne Weber bei Wallstein. Ist es Zufall, dass ausgerechnet dieser Roman von der Tätigkeit des Literaturübersetzens handelt? Zumindest sei an dieser Stelle festgehalten, dass der Vielstimmigkeit des Originals durch die Übersetzung eine weitere Stimme hinzugefügt und die Reflexion über das Übersetzen auf der Ebene der Rezeption zusätzlich aufgefächert werden kann. 

In Nevermore geht es um eine Literaturübersetzerin, die mit der Übertragung von Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse ringt. Es werden ausgewählte Passagen, die fast ausschließlich aus dem zweiten, mit Time Passes betitelten Romanteil stammen, zunächst im englischen Original zitiert, bevor sie tastend und immer wieder neu ansetzend ins Französische übertragen werden. Sowohl Woolfs Text als auch die Schwierigkeiten seiner Übersetzung werden in Nevermore so zum Gegenstand der Reflexion. Nach und nach entfaltet sich die Vorstellung eines ungeheuren inneren Resonanzraumes, in dem vor allem auch die Möglichkeiten von Sprache ausgelotet werden. Zu Beginn scheint es, als werde sich die Protagonistin ausschließlich in diesen sprachlichen Räumen bewegen und sich darin vielleicht sogar verlieren. Dieser Eindruck wird durch die besondere Orchestrierung überwiegend innerer Stimmen erzeugt, ein Strukturelement, das seit vielen Jahren die Romane Wajsbrots kennzeichnet und in Nevermore sehr gut zur Geltung kommt. Durch die Übersetzungsproblematik liegt dem Roman nämlich von vornherein ein dialogisches Prinzip zu Grunde, durch das ein zentrales Thema, die Literatur, variiert werden kann. So befasst sich die Übersetzerin nicht nur mit Virginia Woolf, sondern auch mit ihrer gerade erst verstorbenen Freundin, die ihrerseits Schriftstellerin gewesen war und mit der sie eine über das Medium der Literatur entstandene Seelenverwandtschaft verbunden hatte. Durch den Tod der Freundin aus der Bahn geworfen, flüchtet sich die Übersetzerin nach Dresden, wo sie in einer für sie völlig fremden Umgebung in der Übertragung von Time Passes förmlich untertaucht. In Nevermore geht es also nicht nur um sprachliche Vielfalt und Präzision, sondern auch um Verlust und Trauer. Der Roman thematisiert außerdem das Vergehen der Zeit sowie (konkret wie metaphorisch) menschenleere Räume, die sich die Natur zurückerobert. Die Stimmen, die all das zusammenhalten, werden vor allem durch das Übersetzen heraufbeschworen und führen uns auf diese Weise immer wieder zur Literatur zurück.

Dialogische Strukturen spielen bereits vor Nevermore eine wichtige Rolle in Wajsbrots Werk. Unter dem Titel Haute mer hatte sie bereits einen ganzen Zyklus erschaffen, der fünf Romane umfasst und den Dialog der Autorin mit verschiedenen Künsten zum Gegenstand hat: von der Musik, um die 2007 der erste Roman Conversations avec le maître kreist und die auch in Totale éclipse von 2014 im Mittelpunkt steht, über die Denkmäler und Skulpturen in den Metropolen Paris und Berlin, denen 2008 durch L’île aux musées eine Stimme verliehen wird, bis zu den Video- und Installationskünsten, wie sie 2013 in Sentinelles thematisch werden. Den Abschluss der Pentalogie bildet 2019 unter dem Titel Destruction ein Roman, der nicht nur deshalb lebhaft rezipiert wurde, weil man ihm eine klaustrophobische Atmosphäre zuschrieb, die den ersten Lockdown der Epidemie vorwegzunehmen schien. Diese meiner Meinung nach eher unglückliche, da ziemlich reduktive Lesart rührt vermutlich daher, dass die Handlung in einem dystopischen Frankreich angesiedelt ist, in dem ein ebenso autoritäres wie kulturfeindliches Regime nach einer gewaltsamen Intervention die Macht übernommen hat. Doch anders als im Fall Michel Houellebecqs, dessen Texte häufig auch als prophetisch wahrgenommen wurden und der 2015 mit Soumission ein scheinbar ähnliches Szenario heraufbeschworen hatte, geht es in Destruction in keiner Weise um ein Regime, das auf der politischen Landkarte Europas genau zu verorten wäre. Vielmehr nutzt Wajsbrot auch diesmal die Polyphonie ihrer Romane, um sprachliche und kulturelle Vielfalt ins Bewusstsein zu heben, nur dass diese Vielfalt zum Zeitpunkt der Handlung von Destruction eben bereits in der Vergangenheit liegt. Aufgefordert durch mysteriöse Sprachnachrichten einer ebenso mysteriösen Vereinigung fertigt die Protagonistin daher Aufnahmen an, die ihr eigenes Leben sowie das Leben anderer Menschen nach dem Regimewechsel dokumentieren sollen. Doch ihre Reportagen entgleiten dem gegenwärtigen Erleben und beziehen sich immer wieder auf Vergangenes. Als Schriftstellerin bleibt sie außerdem dem ihr zur Verfügung gestellten Medium gegenüber skeptisch. Es handelt sich um eine Art sound blog, dem sie das Schreiben bei weitem vorgezogen hätte. Auch stellt sich ihr immer wieder die Frage, wie sich die ihr aufgezwungene Tätigkeit (die Dokumentation ihrer direkten Umgebung angesichts aktueller Geschehnisse) zu der einst praktizierten Literarisierung von Geschichtserfahrung verhält, die von nun an unerwünscht zu sein scheint.

Der Roman Destruction greift damit ein Anliegen auf, das die Autorin bereits im Jahre 1999 in ihrer Streitschrift Pour la littérature artikuliert hat. Schon damals geht es ihr um die Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung, die sich nicht zuletzt an der Wertschätzung ermessen lässt, die einer Literatur mit historischer Tiefenschärfe entgegengebracht wird. Dazu muss man wissen, dass es in den neunziger Jahren noch nicht selbstverständlich war, in französischen Buchhandlungen auf Romane zu stoßen, die ihre Leserschaft an Vichy erinnerten. Auch wenn Patrick Modiano bereits 1978 den Prix Goncourt für Rue des Boutiques obscures erhalten hatte, sind die Autor*innen, die an jener Urkatastrophe der jüngeren Geschichte Frankreichs rühren, vergleichsweise rar. Wie jede Katastrophe historischen Ausmaßes, so Wajsbrot in Pour la littérature, mache es die Erinnerung an Vichy jedoch besonders erforderlich, kollektive Geschichtserfahrung und literarisches Schreiben eng zu führen. Dies setze wiederum ein Gespür für den zeitlichen Abstand voraus, den es zu den Geschehnissen zu wahren gelte, weshalb die Forderung nach bedingungsloser Aktualität der Literatur Unmögliches abverlange.

Die Durchdringung von historischen und schöpferischen Prozessen beschäftigt Cécile Wajsbrot mithin nicht nur in ihren Romanen. Auch in vielen Essays, Gesprächen, Interviews und Briefen sind diese Prozesse stets aufeinander bezogen. Nach den Terroranschlägen von Paris im Januar und November 2015, veröffentlichte die Zeitschrift Sinn und Form einen Beitrag der Autorin mit dem Titel Le jour d’après.[3] Der Text folgt einer inneren Stimme auf der Suche nach einer Sprache, die es erlaubt, den Ereignissen gerecht zu werden und sich ihrer zu erinnern, ohne sie durch einen inflationären oder hypertrophen Gebrauch und die gedankenlose Aneinanderreihung von Worten zu schmälern:

Diese leeren, verlassenen Straßen sind das Zeichen dafür, daß es diesmal hier bei uns geschehen ist. Die Stille, an der man sich stößt, gleichsam verdoppelt durch die Worte, an denen man sich genauso stößt. Ja, es ist paradox: Man braucht die Worte, braucht die Sprache, aber keinesfalls diese Worthülsen, die jeden Sinn verloren haben. Man braucht auch Schweigen, Einkehr, Würde. Man braucht Zeit.[4]

Zeit ist der Schlüssel. Es geht darum, dem Erlebten einen Raum zu geben, der sich nicht sofort mit den Worten anfüllt, die man für solche Anlässe parat hält. Genau genommen, so liest man zwischen den Zeilen, wird dadurch nämlich das Ereignis zu einem Anlass herabgestuft.

Könnten Sie im Radio ein paar Minuten…? Nein, ich kann es nicht. Was wäre zu sagen? Ich weiß es nicht. Und was zu denken? Daß der Augenblick darüber nachzudenken, noch nicht gekommen ist. Daß es etwas zu respektieren gilt, die Suspendierung des Sprechens und des Denkens. Damit man sich sammeln kann – aber nicht nur das. Damit das Geschehene sich setzen, seinen Platz unter uns einnehmen, seine Spur hinterlassen kann.[5]

Wohlbemerkt, es geht der Autorin nicht darum, angesichts von Ereignissen, die uns alle angehen, grundsätzlich zu schweigen. Ihr Text ruft dazu auf, einen Moment lang innezuhalten, die Arbeit – und sei es die Arbeit mit der Sprache – ruhen zu lassen, sich den Geschehnissen zuzuwenden. Auf keinen Fall bedient sich Wajsbrot hier einer schlichten Unsagbarkeits-Topik, gegen die sie sich bereits in Pour la littérature ausgesprochen hatte. Vielmehr geht es ihr auch hier darum, die gesellschaftliche Verantwortung der Literatur zu umreißen, der es zukommt, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Worte zu finden. 

Soll damit gesagt sein, daß man unter dem Eindruck der Ereignisse nichts schreiben oder, mehr noch, schlichtweg nichts über diese sagen kann? Nein, im Gegenteil, die Literatur ist sogar am ehesten in der Lage, die Ereignisse wiederzugeben – aber erst später. Nicht unverzüglich schreiben, aber auch nicht darauf verzichten, erfahren, wie sich die Gefühle, die Gedanken und die Worte sich [sic!] in der Schale sammeln, sofern diese zur Aufnahme bereit ist, und auf den Moment warten, in dem sie, endlich niedergeschrieben, jede pflichtschuldige Bedeutung abstreifen und nur die persönliche, literarische Sichtweise bleibt, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat. Im Abseits, in der Unangepaßtheit des Blicks.[6]

Der Moment der Literatur, in dem sich das Erlebte sprachlich so sehr verdichten lässt, dass es sich wie ein Relief von der Gegenwart des Erlebens abhebt, beschäftigt Cécile Wajsbrot bis heute. Einmal mehr bewegt sich ihr Schreiben damit eher am Rande dessen, was man in Frankreich die littérature de l’extrême contemporain nennt. In ihrem jüngsten Briefwechsel mit Hélène Cixous, der 2022 unter dem Titel Lettres dans la forêt erschienen ist, hinterfragt sie die aktuelle Konjunktur von Begriffen wie authenticité oder réel, die in der französischen Gegenwartsliteratur zunehmend Aufmerksamkeit auf sich ziehen.[7] Wenn sich jedoch der Wert eines literarischen Textes ausschließlich an der Nähe zu zeitgenössischen Befindlichkeiten bemisst, wohin dann mit seinem Relief, mit seinem über die Zeit geformten Wort? 

Die Frage ist sicherlich auch rhetorisch gemeint, aber nicht nur. Rhetorische Fragen richten sich häufig über den Kopf eines Adressaten hinweg an ein größeres Publikum. Cécile Wajsbrot wendet sich jedoch ganz konkret an ein Gegenüber und dies nicht zum ersten Mal: an Hélène Cixous nicht erst in Lettres dans la forêt, sondern bereits 2016 in Une autobiographie allemande; an den chilenischen Komponisten Juan Allende Blin in einem Künstlergespräch über Musik, Literatur und Exil;[8] an die deutsch-französische Autorin Anne Weber in gemeinsamen Lesungen;[9] und nicht zuletzt an die früh verstorbene Schriftstellerin Dominique Dussidour.[10] Es ist, als übertrage Wajsbrot das mehrstimmige Prinzip ihrer Romane auf ihre Äußerungen insgesamt, zumindest in der Öffentlichkeit, und als ließe sich gerade dort ein Gedanke besser zu zweit als alleine fassen. Oder, wie es Cixous in einer gemeinsamen Lesung der Lettres dans la forêt formuliert hat: als ermögliche das Miteinander eine sprachliche Reise an Orte der eigenen Vergangenheit, die der Freundschaft vorbehalten sind und im autobiographischen Alleingang nicht aufgesucht werden können.[11] Vor diesem Hintergrund ließe sich Une autobiographie allemande auch als eine Art Doppel-Auto-Biographie lesen, in der die Erinnerungen Wajsbrots zwar im Hintergrund bleiben, aber gerade so ihre mäeutische Funktion entfalten.

Autobiographisches Erzählen im engeren Sinne findet man in Wajsbrots Werk hingegen deutlich seltener. Auf Anfrage gibt sie zwar Auskunft über sich selbst und weist auch bereitwillig auf einige ihrer Texte hin, die wie L’Hydre de Lerne (2011) die Alzheimererkrankung ihres Vaters oder wie Beaune-la-Rolande (2004) die Deportation und Ermordung ihres Großvaters thematisieren. Aber auch wenn sie diesen récits eine Sonderstellung im Rahmen ihres fiktionalen Schreibens einräumt, bleibt doch fraglich, ob der Grund hierfür tatsächlich in diesen – nur auf Nachfrage explizierten – autobiographischen Bezügen zu suchen ist. Möglich ist auch, dass sie ihren Romanen den höheren Grad an sprachlich-klanglich-gedanklicher Durchdringung zuschreibt und sie von ihren als récit bezeichneten Texte unterschieden wissen will. So lassen sich die Komposition eines Werkes, seine Struktur, die Musikalität und der Rhythmus seiner Sprache beobachten, ohne Bedeutungen von vornherein festzustellen. Bei der Suche nach autobiographischen Bezügen liegen die Dinge anders, sie verleiten oft genug dazu, den Bewegungsspielraum literarischer Texte zu verengen. So sind die körperlosen Stimmen, die 2005 den Roman Mémorial erstmals durchgehend strukturieren und die namenlose Protagonistin auf dem Weg in das polnische Kielce begleiten, zwar durchaus mit Bezug auf die Krankheit Alzheimer zu deuten. Fügt man außerdem hinzu, dass es sich bei Kielce um die Stadt handelt, aus der die Familie der Autorin stammt, so scheinen sich die Hinweise zu verdichten, dass Wajsbrot in diesem Roman spezifische Momente ihres eigenen Lebens verarbeitet hat. Was läge also näher als anzunehmen, dass sie sich mit Mémorial genau wie die im Roman handelnde Figur auf den Weg in die eigene Vergangenheit begibt, den unausgesprochenen Erinnerungen ihrer Familie auf der Spur, deren Schweigen über die Vergangenheit ihr eine schwere Bürde ist? In der Tat läge diese Annahme nahe und man könnte sich natürlich auf diese Nähe von Romanhandlung und Biographie berufen. Die Frage ist nur, wozu? Sowohl Beaune-la-Rolande als auch L’Hydre de Lerne sind im Umfeld von Mémorial entstanden und zeugen von der intensiven Befassung der Autorin mit der Vernichtung jüdischen Lebens während des zweiten Weltkriegs und danach (das Pogrom in Kielce ist datiert auf das Jahr 1946). Die Erzählstruktur der beiden récits ist dabei deutlich konventioneller als die durchkomponierte Stimmenvielfalt des Romans, dessen Kapitel außerdem durch ein rekurrentes Zwischenspiel zusammengehalten werden, das dem Flug einer Schneeeule über die weiße Landschaft ihres Habitats folgt. Alle drei Texte sind auf ihre Art packend und bewegend zugleich, und doch sind sie völlig unterschiedlich. Was genau wäre zu gewinnen, würde man sie auf der Grundlage einer autobiographischen Lesart zur Deckung bringen? Dieser Frage möchte ich abschließend ein letztes Zitat zur Seite stellen. Wajsbrot legt es der Protagonistin von Nevermore zum Abschied von ihrer verstorbenen Freundin in den Mund: „Ich muss sie noch einmal lesen, sagte ich ihr, diese Bücher, die du geschrieben hast, die sich von dir gelöst haben und fortan einsamer unterwegs sind, fern vom Lauf deines Lebens.“[12]

Vielleicht besteht die Kunst empathischen Lesens ja darin, den Lauf eines Lebens niemals gering zu schätzen, aber dennoch das geschriebene Wort, das sich diesem Leben zu verdanken hat, nicht sklavisch daran zurückzubinden. Wajsbrots Schreiben ist diesem Gedanken auf wunderbare Weise verpflichtet und wohl nicht zuletzt deshalb ein herausragendes Ereignis in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur. In ihrem Werk geht es um Geschichtserfahrung, auch und vor allem dort, wo innere Stimmen und verschiedene Sprachen das Erzählen maximal überformen und uns Lesenden mitunter ein hohes Maß an Konzentration abverlangen. Aber niemals geht die Autorin so weit, die Brücken zum Figurativen endgültig abzubrechen und ihre Romane in die reine Abstraktion zu überführen. Immer wieder werden konkrete Ereignisse in Erinnerung gerufen, Existenzen, wie sie uns auf der Straße begegnen können, behutsam beschrieben oder Anekdoten über Artefakte und Kunstwerke ausgegraben und auf humorvolle Art und Weise dargeboten. Aber durch spezifische ästhetische Verfahren formt die Autorin aus all dem ein sprachliches Relief, das die Dinge hervorhebt, ohne selbst – im umgangssprachlichen Sinne des Wortes – abgehoben zu sein. Literatur als Relief, so verstehe ich Wajsbrots Denkbild aus Pour la littérature, ist im doppelten Sinne Arbeit mit und an der Zeit. Diese Arbeit verankert das Schreiben in der Gegenwart, aus der es hervorgeht, und entzieht es zugleich dem Sog, der von gegenwärtigen Dringlichkeiten erzeugt wird.

 

Auswahlbibliografie

La trahison, Zulma 1997 (dt. Der Verrat, übers. v. Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind 2006).

Pour la littérature, Zulma 1999 (dt. Für die Literatur, übers. v. Nathalie Mälzer. Matthes & Seitz 2013).

Nation par Barbès, Zulma 2001 (dt. Im Schatten der Tage, übers. v. Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind 2004).

Caspar-Friedrich-Strasse, Zulma 2002 (dt. Mann und Frau den Mond betrachtend, übers. v. Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind 2002).

Mémorial, Zulma 2005 (dt. Aus der Nacht, übers. v. Holger Fock, Sabine Müller. Liebeskind 2008).

Une autobiographie allemande, avec Hélène Cixous, Christian Bourgois 2016 (dt. Eine deutsche Autobiographie, übers. v. Esther von der Osten. Passagen Forum 2019).

Haute mer (die vollständige Pentalogie), Le Bruit du temps 2022:

-       Conversations avec le maître, Denoël 2007.

-       L‘île aux musées, Denoël 2008.

-       Sentinelles, Christian Bourgois 2013.

-       Totale éclipse, Christian Bourgois 2014 (dt. Eclipse, übers. v. Nathalie Mälzer. Matthes & Seitz 2016).

-       Destruction, Le Bruit du temps 2019 (dt. Zerstörung, übers. v. Anne Weber. Wallstein Verlag 2020).

Nevermore, Le Bruit du temps 2021 (dt. Nevermore, übers. v. Anne Weber. Wallstein Verlag 2021).

Lettres dans la forêt, avec Hélène Cixous, Editions l‘Extrême Contemporain 2022.

 

Anmerkungen

[1] Wajsbrot, Cécile: [ohne Titel]. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, 2017 [Aufruf am 29.12.2023].

[2] Ebd.

[3] Wajsbrot, Cécile: Le jour d’après. In: Sinn und Form, 2016, H. 4, S. 559-561. Ein Jahr später erscheint ein zweisprachiger Sonderdruck des Beitrags als Jahresgabe der Buchhandlung Lesesaal: Wajsbrot, Cécile: Le jour d’après/Der Tag danach. Hamburg 2017. Im Folgenden zitiere ich im Text die deutsche Übersetzung von Gernot Krämer, in den Anmerkungen das französische Original.

[4] Wajsbrot 2017, S. 1. [Ces rues vides, désertes, qui sont le signe que cette fois, la chose a bien eu lieu ici. Ce silence auquel on se heurte aussi. Oui, c’est paradoxal, on a besoin des mots, on a besoin du langage, mais surtout pas de ces boucles répétitives qui les vident de sens. On a besoin de silence, aussi, on a besoin de recueillement, de dignité. On a besoin de temps. (ebd.)].

[5] Wajsbrot 2017, S. 3. [Ou cet autre, pourriez-vous, quelques minutes à la radio ? Non, je ne peux pas. Que peut-on dire ? Je n’en sais rien. Et que penser ? Que ce n’est pas encore le moment de penser. Qu’il y a quelque chose à respecter, une suspension de l’usage des mots, une suspension de l’usage de la pensée. Pour se recueillir – mais pas seulement. Pour que l’événement se dépose, prenne sa place en nous, laisse sa trace. (ebd.)].

[6] Wajsbrot 2017, S. 6. [Cela voudrait-il dire qu‘on ne peut rien écrire sous la pression des événements ou plutôt, qu’on ne puisse jamais rien en dire ? Non, la littérature est bien au contraire ce qui rend le mieux compte des événements – mais après-coup. Ne pas écrire dans l’urgence mais aussi ne pas renoncer, savoir que les émotions, les pensées et les mots s’amassent dans la coupe, pour peu qu’elle soit prête à les recueillir, et qu’ils sauront attendre le moment où, enfin déposés, tout sera oublié d’un sens obligatoire et il ne restera plus que le point de vue personnel, littéraire, qui aura eu le temps de se construire. Dans l’à côté, dans le regard décalé. (ebd.)]. 

[7] Vgl. Wajsbrot/Cixous, Hélène: Lettres dans la forêt. Paris 2022, S. 85-87.

[8] Vgl. Wajsbrot, Cécile: Ein Gespräch mit Juan Allende-Blin übers Komponieren, über Literatur und Exil. In: Sinn und Form, 2022, H. 4, S. 516-521.

[9] Vgl. Institut Pierre Werner: La romancière Cécile Wajsbrot et l‘écrivain Anne Weber. Écrire à Berlin – Schreiben in Paris, 5.2.2016 [Aufruf am 29.12.2023].

[10] Vgl. die gemeinsamen Beiträge auf remue.net [Aufruf am 29.12.2023].

[11] Vgl. Hélène Cixous & Cécile Wajsbrot – Lettres dans la forêt. Rencontre animée par Julien Viteau, 17.11.2022 [Aufruf am 29.12.2023].

[12] Wajsbrot, Cécile: Nevermore. Aus dem Französischen übersetzt von Anne Weber. Zweite Auflage, Göttingen 2022, S. 191. [Il faut que je relise, me disais-je, lui disais-je, ces livres que tu as écrits, qui se sont détachés de toi et voguent désormais plus seuls, loin de la biographie. (Wajsbrot 2021, S. 181)].

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen