Literatur und Politik nach 1968 und in der Gegenwart

Vortrag vom 27. Juni 2018 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Von Matthias PolityckiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Politycki

Vorbemerkung der Redaktion: Der Beitrag entspricht Matthias Polityckis Vortrag am 27.6.2018 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, bei einer Tagung zum 100. Geburtstag von Walter Müller-Seidel. Politycki hat bei ihm 1987 sein Studium der Neueren deutschen Literatur mit der Promotion abgeschlossen. Zum Vortrag eingeladen wurde er aber vor allem als Schriftsteller, der mit persönlichen Erinnerungen an die Jahrzehnte nach 1968 über die Standorte eines Angehörigen der „78er-Generation“ zwischen Literatur und Politik reflektiert.

Hätte man mir das Thema Literatur und Politik vor 30 Jahren gestellt, 1988, als ich meinen ersten Roman und einen ersten Gedichtband veröffentlicht hatte, mein Vortrag wäre kurz ausgefallen und auf eine Korrektur der Themenstellung hinausgelaufen: Literatur oder Politik, so sah ich es damals.

Denn ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der nahezu jeder Lebensbereich politisiert war. Im Religionsunterricht wurde alles diskutiert, was uns dem Paradies auf Erden gerade irgendwo auf der Welt einen Schritt näher gebracht hatte – oder eben nicht. Auch unser Deutschlehrer war ein 68er. Wenn Willy Brandt bei seiner Ostpolitik einen entscheidenden Kniefall vorangekommen war, wurde die ganze Schulstunde lang debattiert. In der nächsten Deutschstunde ging’s dann weiter mit vorzugsweise Frisch, Dürrenmatt oder Böll, natürlich unter besonderer Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Als wir zum ersten Mal ein Referat über einen Gegenwartsroman halten sollten, bekam ich die „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz zugeteilt. Übrigens fand ich Lenz viel besser als Böll und sparte mein Taschengeld, um mir weitere Bücher von ihm zu kaufen. Weil ich aber einen sehr guten Deutschlehrer hatte, nahm er mich irgendwann mal beiseite und empfahl mir, zusätzlich zu Böll und Lenz die frühen Dramolette von Hofmannsthal zu lesen. Das war es, was ich wirklich wollte, Sprache als Musik! Hier mußte nichts auf gesellschaftliche Relevanz befragt werden, man konnte sich einfach daran berauschen.

Trotz der Prägung durch meine Lehrer wurde ich selber kein später 68er, sondern bekennender 78er, also einer, der sich in einer Generationsdebatte, ausgelöst durch den „Weiberroman“, sogar dezidiert von den 68ern abgrenzte. Wir, also die etwa 1952 bis 1962 oder vielleicht auch bis 1965 Geborenen, waren zwar auch irgendwie links, von der Hoffnung auf eine bessere Welt beseelt, allerdings auf eher unideologische Weise. Erst spät begriffen wir uns als „Grüne“, weil es diese Partei bis 1980 noch gar nicht gab und also auch kein Etikett, das wir uns hätten anheften können. Wir sammelten Altpapier und diskutierten nächtelang in WG-Küchen, statt auf Demos zu gehen – das fanden wir uncool. Kritisches Bewußtsein hatten wir trotzdem reichlich, und ausdiskutiert wurde auch bei uns alles und mit jedem. Im Grunde ist mein linksliberalgrünes Grundfundament, das sich während meiner Studentenjahre herausbildete, bis heute dasselbe geblieben, auch wenn ich als Stammwähler längst für alle Parteien verloren bin.

*

Aber wo habe ich mich dann wiedergefunden? Als Assistent am Lehrstuhl von Wolfgang Frühwald hielt ich 1988 mein erstes Proseminar über Nietzsche – und aus Stuttgart reisten die allerletzten Vertreter der Roten Zellen an, um Woche für Woche zu stören. Ihre Argumentation lief stets nach demselben Muster ab und bestand aus reiner Rhetorik. Irgendwann fing ich sie vor der Tür des Hörsaals ab und forderte sie auf zu verschwinden – was sie erstaunlicherweise taten.

War ich bis dato vielleicht trotz aller Selbststilisierung ein unfreiwilliger Nachfahr der 68er, so öffneten mir die wenigen Wochen mit den Roten Zellen die Augen über die Linke, jedenfalls sofern sie sich dogmatisch verstand und auf arrogante Weise Volkserziehung betrieb. Ich blieb auf meine eigene Weise links, eben „irgendwie grün“, und auch das nur als Bürger. Ein linker Schriftsteller hatte ich nie sein wollen. Im Gegenteil, bis 1994 verstand ich mich als experimenteller Autor, in meinem Erstling ging es um die Farbe der Vokale, das sagt bereits alles. Als mir nach meiner ersten Lesung einer der Zuschauer die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz des Romans stellte, antwortete ich frankweg, die gebe es nicht, warum auch. Nach der Lesung nahm mich Antje Kunstmann, meine damalige Verlegerin, ins Gebet. In Zukunft solle ich bitte antworten, ausnahmslos alles, auch die Farbe der Vokale, habe gesellschaftliche Relevanz. Daran habe ich mich für den Rest meiner Lesereise gehalten.

Geglaubt habe ich es nicht, dazu wollte ich zu sehr Avantgarde sein. Und außerdem, auch das ist nicht unwichtig im Hinblick auf heutige Zeiten, außerdem kümmerten sich damals ganz andre Kaliber ums politische Tagesgeschäft: Solange Helmut Schmidt Bundeskanzler war, war ich auf völlig irrationale Weise sicher, daß er immer alles im Griff behalten würde. Unser Lebensgefühl war nach wie vor von Willy Brandts Entspannungspolitik geprägt, also einer Vision, die jede Tagespolitik überstrahlte. Selbst als Helmut Kohl nachfolgte, war er immerhin noch ein Garant – einer von vielen –, daß die Welt nicht übernacht aus den Fugen geraten würde. Als politisch wacher Bürger konnte man sich weidlich an ihm abarbeiten, als Schriftsteller durfte man sich getrost den abgehobensten literarischen Experimenten widmen – Literatur oder Politik.

*

War ich bis 1994 ein literarischer Fundi, so wurde ich durch meinen Umzug nach Hamburg ganz zwangsläufig zum Realo; die Stadt war und ist hinter ihren grandios inszenierten Wohlstandskulissen viel härter als München. Als Avantgardist hätte ich St. Pauli nicht zu fassen bekommen, da ging’s um weit mehr als die Farbe der Vokale, und mit lyrifizierter Prosa, wie ich sie bis dato geschrieben hatte, und überhaupt dem Primat der Artistik wurde man dem allen kaum gerecht. Versuchsweise schlüpfte ich in die Rolle des Reporters, schrieb lange Artikel für diverse Zeitungen, z.B. „Das St.Pauli-Gefühl. Recherchen am langen Tresen der Nacht“. Ganz zwangsläufig wurde es in meinen Texten ein bißchen gesellschaftsrelevanter.

Im „Weiberroman“ wie auch in „Ein Mann von vierzig Jahren“, dem zweiten Band der geplanten Weiberroman-Trilogie, streute ich Zeitkolorit und politische Geschehnisse immerhin als Randparameter der Handlung ein. Freilich nicht zwecks Dokumentation historischer Fakten, sondern als eine Art Geschichtsdichtung bis hin zur -verdrehung, wie sie Schiller in seinem Aufsatz „Über die tragische Kunst“ als „poetische Wahrheit“ gerechtfertigt hat. Daß beide Romane auch als „Museum“ der 70er-, 80er- und 90er-Jahre rezensiert wurden, überraschte mich; Lutz Hagestedt beispielsweise schrieb: „Wer dereinst etwas über die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts erfahren möchte, der wird bei Politycki fündig werden.“

Wirklich? Zeitgeist und Zeitkolorit waren mir beim Schreiben, trotz aller Recherche, die ich dafür betreiben mußte, immer nebensächlich geblieben. Ich hatte einen Liebesroman schreiben wollen, keinen Generationsroman und erst recht keinen, der die betreffenden Jahrzehnte als Zeitbild archiviert. Vielleicht war meine Schreibpraxis meiner theoretischen Selbsteinschätzung voraus. Wider Willen war ich auch in meiner Prosa ein bißchen gesellschaftsrelevanter geworden, war dem „und“ in „Literatur und Politik“ näher gekommen.

*

In meiner Münchner Poetikvorlesung von 1997 grenzte ich mich recht grundsätzlich von der Literatur der 68er ab, um den damals noch umkämpften Terminus der 78er-Generation zu verteidigen und mit ihm eine Literatur, wie ich sie mir wünschte. Sie sollte weit spielerischer sein als die E-Literatur der 68er, gleichzeitig jedoch auch existentieller und formbewußter. In Abgrenzung andrerseits von den letzten Ausläufern der alten Avantgarde sollte sie ihre Komplexität unter einer unterhaltenden Textoberfläche verstecken, dem Leser zuliebe. Das war ganz schön viel auf einmal. Eine Distanzierung von politisch engagierter Literatur verkniff ich mir, im Gegenteil, ich sprach sogar en passant von einer „letzten Schwundstufe an Sendungsbewußtsein, wie’s von den 68ern auf uns gekommen ist“.

Schließlich frönte ich in diesen Jahren selber einem zunehmenden Sendungsbewußtsein, wenngleich nur in essayistischer Form in den Feuilletons. Sogar über die anstehende Kanzlerwahl Kohl versus Schröder 1998 schrieb ich ein Stück unter dem Titel „Dick & durstig oder Wisch & weg“, im Grunde war es ein Abgesang auf die beiden Volksparteien. Schon damals begann ich, die „exponentielle Zunahme an Mediokrität“ von Wahl zu Wahl zu beklagen, die Visionslosigkeit der Spitzenpolitiker, das Individualistentum meiner eigenen, der 78er-Generation, aus deren Reihen bislang kein einziger veritabel visionärer Berufspolitiker hervorgegangen sei – damals hoffte ich noch, da war Frau Merkel, Jahrgang 1954, noch längst nicht zu unsrer politischen Generationsrepräsentantin avanciert. Lese ich den Essay heute, erschrecke ich nicht wenig, wenn da bereits von der „Wut auf die ‚etablierten’ Parteien“ die Rede ist und davon, „daß ‚draußen im Lande’ längst unser komplettes politisches System zur Debatte steht“. Ich schrieb den Text als Linker, wohlgemerkt, und er wurde in der taz veröffentlicht; gleichwohl findet sich darin schon eine erste Ahnung, „das alte bundesrepublikanische Demokratiemodell [habe] ausgedient“ – im Jahr 1998, um Himmels willen, das waren ja noch goldene Zeiten, verglichen mit den jetzigen.

Golden nicht zuletzt deshalb, weil man noch alles denken und sagen, schreiben und veröffentlichen konnte, ohne gleich als politisch unkorrekt abgemahnt oder gar als „rechts“ abgestraft zu werden. Die Diskussion feuilletonistischer, aber auch politischer Themen war entsprechend lebhaft, bunt und kontrovers; viele meiner Generationskollegen, die jetzt schweigen, nahmen daran teil. Und obwohl 9/11, der Anschlag aufs World Trade Center, auch für das geistige Leben in Deutschland einen Wendepunkt darstellte, ging es mit leidenschaftlicher Lust an der Debatte und, vor allem, mit offenem Visier noch ein paar Jahre so weiter – in meinem Fall bis 2005. Dieses Jahr war für mich eine Zäsur, ich komme darauf gleich zu sprechen.

Teilnahme des Schriftstellers am politischen Leben der Gesellschaft muß sich nicht unbedingt in Form von Romanen oder gar von Lyrik manifestieren. Aus all den Gedichten, die ich in den letzten 30 Jahren publiziert habe, fällt mir nur ein einziges ein, das ich als halbwegs politisch engagiert bezeichnen würde. Es heißt „Nie wieder Deutschland“ und ist ein Abgesang auf die Gesellschaft der Jahrtausendwende, gegen Ende heißt es darin:

Nie wieder Fröhlichkeit von Fernsehwetterfröschen,
Sozialverträglichkeit von Brillantinekanzlern,
Late-Night-Beichten von Betroffenen
(und dazu krebserregende Kartoffelchips knabbern),
[…]
Nie wieder „Tag des Butterbrots“,
„der offnen Hosentür“ oder „der alleinerziehenden Mütter“,
nie wieder Kochen-gegen-Rechts, Duftkerzen und Direktsaft!
Nie wieder Designersärge,
nie wieder Deutschland!

Allerdings habe ich es immer mal wieder erlebt, daß einem meiner Gedichte eine politische Botschaft abinterpretiert wurde, die ich beim Schreiben gar nicht gehabt hatte, zum Beispiel dem Gedicht „Tankwart, das Lied vom Volltanken singend“. Uwe Wittstock besprach es damals in der Frankfurter Anthologie der FAZ; vor wenigen Wochen hat er anläßlich des Erscheinens meiner „Sämtlichen Gedichte“ noch mal nachgelegt und dasselbe Gedicht wieder, aber ganz anders politisch interpretiert. Ich bin gespannt, ob vielleicht auch irgendwann mal Gedichten wie „Beim nächsten Bier wird alles anders“, „Frauen. Naja. Schwierig.“ oder „Einmal Löwe, immer Löwe“ eine politische Botschaft abgerungen werden kann.

Vorerst bleibe ich aber dabei: Das politische Engagement der 78er dokumentiert sich, abgesehen natürlich von den notorischen Ausnahmen, weniger direkt in den Romanen, die wir schreiben, und schon gar nicht in den Gedichten (auch wenn die Haltung eines Autors all seinen Texten abzulesen ist); umso direkter jedoch in Zeitungsartikeln, Podiumsdebatten, Interviews. Zwar habe ich das nie als mein Kerngeschäft begriffen, es jedoch mit Ernst betrieben. Aufgrund meines Berufs fühlte ich mich dazu verpflichtet, wenigstens nebenbei das gesellschaftliche Leben zu verfolgen und mir, im Austausch mit Freunden, Kollegen und Journalisten, ein Urteil zu bilden. Bis vor wenigen Jahren funktionierte das gesellschaftliche Gespräch noch, keiner wäre auf die Idee gekommen, jemanden aufgrund seiner Meinung davon auszugrenzen. So zeitigten die jährlichen Treffen auf Schloß Elmau, zu denen ich von 2000 bis 2005 jeweils vierzig Schriftsteller, Lektoren und Kritiker der 78er-Generation lud, auch immer politische Debatten, obwohl die Treffen vorwiegend der Klärung unsrer poetologischen Vorstellungen dienen sollten.

Die Gespräche fanden hinter verschlossenen Türen statt. Als Georg Klein ein Mandat von uns wollte, auch außerhalb dieses geschlossenen Raums für die Elmauer Gruppe sprechen zu dürfen, wurde ihm das bezeichnenderweise in einer Kampfabstimmung untersagt – wir saßen geistig noch in unseren WG-Küchen, auch wenn sie mittlerweile ein bißchen luxuriöser ausfielen. Wann auch immer dieser oder jener eine Resolution forderte, wir entschieden uns dagegen. Unsre Vorstellung von politischem Engagement war weniger auf medial wirksames Herausposaunen fixiert als auf permanente Bereitschaft zum persönlichen Gespräch. Wo die 68er ständig neue politische Gruppierungen bildeten, Manifeste in die Welt setzten, Massendemos veranstalteten und sich solidarisierten, solidarisierten wir, die 78er, uns nicht mal mit uns selber – im Rückblick gewiß der Ausgangspunkt des mittlerweile absurd übersteigerten Individualistentums, der unsere Gesellschaft als Gemeinschaft heute an den Rand des Ruins zu bringen droht.

*

Vielleicht habe ich meine politischen Einlassungen damals auch als Dank an ein ominöses Über-Ich verstanden, das mir anerzogen wurde: von meinen Eltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Politik niemals mehr nur den Politikern überlassen wollten. So hatte es sich mein Vater expressis verbis geschworen für den Fall, daß er den Krieg überleben sollte, und so setzte er es dann auch in die Tat um: als Reisender nämlich, der bewußt Grenzen überschritt, die er bereits als Soldat überschreiten mußte. Er wollte die Menschen kennenlernen, die er als Feinde bekämpft hatte, und hoffte, den einen oder anderen davon als Freund zu gewinnen.

Folglich bin ich schon als Kleinkind mitgereist worden, bin ab 16 selber losgereist und reise bis heute: Auch Reisen ist ein politischer Akt, gerade in Zeiten zunehmenden Irrsinns in der Welt, da sich die Perspektiven überall verengt haben und weltanschauliche Barrieren auch dort errichtet werden, wo gerade eben erst die große Freiheit erstritten wurde – wie hier von den 68ern. Ja, Reisen in die Fremde hat viel mit Rückkehr in die Heimat zu tun. Erschrocken registriert man dabei, wie wir auch in Deutschland mit weltanschaulicher Dogmatik unsre eigne Freiheit beschneiden, die Freiheit im Geiste, die die Basis aller Utopie ist.

Grenzüberschreitung tut not, wenn nicht Flucht aus einem Deutschland, das sich Jahr für Jahr weiter von dem Land gleichen Namens entfernt, in dem ich einigermaßen sorglos und vor allem, so scheint es im Rückblick, grenzenlos frei im Denken aufwachsen durfte. Freilich wird man als einer, der das halbe Jahr unterwegs ist, im Lauf der Jahre ein Fremder auch im eignen Land, ist irgendwann auch zu Hause nurmehr auf Durchreise und bestaunt die bedrückenden Absurditäten des öffentlichen Lebens als Kuriosität – was sein Gutes hat, denn ohne diese innere Distanz hielte ich das gegenwärtige Deutschland wahrscheinlich gar nicht aus.

Doch zurück in die goldenen Jahre der Bundesrepublik, die ich mittlerweile als goldene Jahre meiner Generation begreifen mußte, wie sie in dieser Form niemals wiederkehren werden; zurück in die neunziger Jahre, die als Epoche der geistigen Freiheit noch ein paar Jahre über die Jahrtausendzäsur hinausreichte. Damals war ich dankbar, das habe ich bereits erwähnt, daß ich in so ziemlich allen Zeitungen so ziemlich alles schreiben durfte, was überhaupt gedacht werden konnte. Und ebenso dankbar war ich, daß ich gleichzeitig unpolitische oder kaum politische Bücher veröffentlichen durfte, Liebesromane und Lyrikbände, die sich der Sehnsucht eines lebenslänglichen Restromantikers verdankten.

Antje Kunstmann würde darin keinen Widerspruch sehen, sie würde selbstverständlich auch und gerade letzteres gesellschaftsrelevant finden. Aber sie ist ja auch eine 68erin, übrigens eine, die mich mein ganzes Leben begleitet hat. Sie hat eine Haltung, und was wäre heute, da jeder gleich zu allem eine Meinung hat und man vor lauter Meinungen tatsächlich nur immer pragmatisch weiterwursteln kann, was wäre heute wichtiger als Haltung? Von der Haltung ist es nur noch ein winziger Schritt zu einer neuen Vision, nach der wir uns in Deutschland gegenwärtig alle sehnen.

Haltung als 68er, Haltung als 78er, dazwischen sind nur feine Unterschiede, die unter dem Druck der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung kaum mehr ins Gewicht fallen. So unterschiedlich, wie es sich in der Feuilletondebatte Ende der 90er ausnahm, erscheinen mir diese beiden Generationen heute gar nicht mehr. Beide lebten sie immer für eine (noch) bessere Zukunft, sie sind idealistisch geprägt – mein Gott, das wäre in Zeiten der Aufmerksamkeits- und Klickzahlmaximierung, wie sie von all unseren Parteien betrieben wird, doch ein echtes Pfund, mit dem wir auch heute noch wuchern könnten. Wir, die Ausdiskutierer von einst. So wir uns nur trauen würden, aus der Deckung hervorzukommen, in die wir uns im Verlauf der letzten Jahre zurückgezogen haben.

*

Oja, ich spreche auch von mir selbst. In den vergangnen zehn Jahren habe ich zusehends weniger politische Artikel veröffentlicht, den allerletzten unter dem Titel „Europa, ein Übernahmekandidat?“ im Frühjahr 2014. Wenn ich darin über die EU als „politisch handlungsunfähigen, militärisch ungeschützten, wirtschaftlich prekären, an seinen Rändern schwächelnden, inzwischen selbst in seiner Mitte schwankenden Hort der Aufklärung, umbrandet von Gegenaufklärung aller Art“ lese, erschrecke ich schon wieder – die Gegenaufklärung ist im Verlauf der letzten vier Jahre als Vormarsch der Nationalisten und Populisten in all unseren Nachbarländern näher gerückt, nicht zuletzt auch im eigenen Land. Und wir, die Intellektuellen, hängen – um es mit Nietzsche zu sagen – auf dem Rücken des Tigers, träumend von unseren alten Visionen, die die Geschichte längst ad acta gelegt hat.

Seitdem ich mich aus dem öffentlichen Gespräch zurückgezogen habe, sind meine Bücher politischer geworden, gerade dort, wo sie bewußt so tun, als handelten sie beispielsweise vom Marathonlaufen oder vom Reisen. Und das wird vom Lesepublikum auch verstanden. Nach Lesungen aus „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“ bedanken sich nicht wenige beim Signieren, daß ich Themen angesprochen hätte, die sie sich seit Jahren im öffentlichen Gespräch verkneifen. Sie sind regelrecht dankbar, daß da einer nicht mehr geschwiegen hat. Nämlich einer, der nachweislich kein Rechter ist. Je mehr in diesem Land geschwiegen wird, desto spitzer sind unser aller Ohren geworden, um auch die leisesten Andeutungen zu vernehmen und all das, was zwischen den Zeilen steht – das ist immerhin beruhigend.

Denn unser öffentlich geführtes öffentliches Gespräch ist im permanenten Meinungsgetrommel als tatsächliches Gespräch fast zum Erliegen gekommen. Während uns früher die Lust an der Debatte verbunden hat, führt sie heute zur Ausgrenzung. Wer nicht meiner Meinung ist, ist gegen mich, wer früher Diskussionspartner war, ist heute Feind. Statt miteinander reden und publizieren wir nurmehr gegeneinander, so weit hat uns der allgegenwärtige Tugendterror auseinandergetrieben. Die Rechten gerieren sich bewußt untugendhaft, um dagegen aufzubegehren, bis hin zu volksverhetzender Propaganda. Wir Linken üben uns in einer immer unfreiwilligeren freiwilligen Selbstzensur. Den einen hat die politische Korrektheit bereits die Sprache verschlagen, den andern die Wahrhaftigkeit aus der Sprache vertrieben und unsre Gesellschaft insgesamt in eine ungeheuerliche Zerreißprobe hineinmanövriert. Schreit unsre Zeit nicht förmlich nach politischer Literatur und nach politischen Autoren als Gallionsfiguren einer neuen Integrität?

Ein paar verstreute Selbstdenker, die den Zweifel als Tugend begreifen und für komplexe Fragen keine unterkomplexen Lösungsvorschläge anbieten, vernimmt man zwar noch gelegentlich. Aber sie werden leider übertönt von den neuen Rechten, die selbstredend indiskutabel und degoutant sind, wie auch von den neuen Wohlstandslinken, die nicht weniger indiskutabel sind für einen alten Linken wie mich. Es sind Darsteller von Intellektuellen mit großem rhetorischem und geringem philosophischem Repertoire. Mit reichlich „Bauchgefühl“ und wenig tatsächlicher Sachkenntnis haben sie seit ein paar Jahren die Deutungshoheit über unseren gesellschaftlichen Diskurs errungen. Letztlich sind sie unsre neuen Spießer, die ihre beckmesserische Intoleranz für die höchste Form der Toleranz halten und ihre gängelnde Spracherziehung für Aufklärung. Stets bereit, in Empörung auszubrechen, veranstalten sie sehr publikumswirksam Treibjagden in den Medien, um nicht etwa den eigentlichen Gegner, die Rechten, sondern Abweichler aus den eigenen Reihen zur Strecke zu bringen und mundtot zu machen. Wo sie in ihrer Jugend für Emanzipation von einbetonierten Denkstrukturen gekämpft haben, betonieren sie nun nicht selten selber ein. Früher, ob unter 68ern oder 78ern, war gerade unzensierte Pluralität „links“ und – weil man tatsächlich einschränkungslos bereit war, alles mit jedem auszudiskutieren – fast so was wie ein Synomym für Demokratie.

*

Übrigens rede ich hier nicht einer parteipolitischen Erneuerung das Wort. Von unseren etablierten Parteien erwarte ich nichts, das mir Hoffnung machen würde, sie könnten den Aufmarsch der Rechten noch stoppen. In den letzten Jahren war ich reihum bei einigen Parteigrößen eingeladen, das hat mich doch stark enteuphorisiert. Bei einem Abendessen mit Angela Merkel, der ich als Tischherr zugeteilt war, suchte ich für meine Anliegen zu werben. Frau Merkel hörte bis zum Nachtisch artig zu, verwies bei jedem Thema jedoch auf einen Referenten, der dafür zuständig sei, und stellte mir keine einzige Frage. Es war eine Lehrstunde zum Thema „Literatur und Politik“. Die Möglichkeiten der Literatur bzw. der Literaten, Einfluß auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen, werden gewaltig überschätzt.

Auch bei meiner eigenen Partei war ich eingeladen, den Grünen, als Diskussionspartner von Claudia Roth auf einer Wahlveranstaltung. Eingeladen übrigens von Robert Habeck, der mich den ganzen Abend begleitete. Spätestens nach dieser Podiumsdiskussion war ich als Stammwähler für die Grünen verloren, niemals zuvor und niemals danach habe ich eine derart blauäugige Politikerin erlebt. Die vermeintlich richtige Haltung schien bei Frau Roth jede Kenntnisnahme der Realität ersetzt zu haben, sie argumentierte frei von Sachverstand und, es tut mir leid, auch frei von Intellektualität. Umso mehr war ich von Robert Habeck angetan. Es blieb ein heikles „und“ zwischen Politik und Literatur, so die kürzestmögliche Zusammenfassung dieses Abends – man mußte sich letztlich für eines von beiden entscheiden, und Robert Habeck hat es dann ja auch getan, zum Glück für die Grünen und unsre politische Landschaft insgesamt.

Eine Abrechnung mit den Grünen hatte ich bereits 1999, ebenfalls in der taz, vorgenommen. Damals drängelten alle Parteien zur Neuen Mitte der Gesellschaft, obwohl sie ihre Stammwählerschaft damit verprellten, und wenigstens die Grünen hätte ich damals gern weiterhin am Rand derselben gesehen. Heute sind die Grünen – nämlich das grüne Denken jenseits des parteipolitisch kodifizierten, das ja längst kein grünes Denken mehr ist, sondern ein buntes –, heute sind die Grünen gewissermaßen Staatsräson, zumindest was die herrschenden Eliten betrifft: Sie sind maßgeblich verantwortlich für die Diskursherrschaft eines selbstherrlichen Gutmenschentums, ausgehend von den Wohlstandsblasen gewisser gentrifizierter Großstadtviertel, wo selbst in der Auslage beim Edeltürken eine erstaunliche gender- und ökomäßige Korrektheit herrscht.

Zu den alten Tugendwächtern, die mittlerweile mehrheitlich stramm rechts gesinnt sind, ist heute eine neue Spezies des Tugendwächters dazugekommen: Sie ist ihrem Wesen nach „grün“ und damit der zweite wesentliche Beitrag der 78er-Generation zur politischen Kultur der Berliner Republik – neben dem austarierten Pragmatismus, den Angela Merkel so erfolgreich gegen die Ideologiebesessenheit der 68er durchgesetzt hat. Pragmatismus, der – „Soll doch jeder machen, wie er will“ – als Toleranz getarnt und nichts anderes als Gleichgültigkeit ist, Gleichgültigkeit nämlich gegenüber all dem, was die Gemeinschaft als ihren verbindlichen Verhaltenskodex ständig neu im Alltag herausarbeiten müßte. In beidem – peniblem Tugendwächtertum wie betont lässigem Laissez-faire – sind wir maßlos übers Ziel hinausgeschossen.

Manchmal ertappe ich mich dabei, daß ich mich nach den verzopften Ansichten und überkommenen Werten zurücksehne, gegen die auch wir 78er noch rebellieren durften. Nach der Umwertung aller Werte haben wir heute nurmehr Jeder-für-sich-und-Gott-gegen-alle, jeder hegt und pflegt sein geistiges Sondereigentum, der Zustand des geistigen Gemeinschaftseigentums ähnelt demjenigen eines Altbaus, deren Eigentümer so zerstritten sind, daß sie sich nicht mal auf die dringendsten Renovierungsmaßnahmen einigen können.

*

Das eine oder andre Mal habe ich auch mit Grass zu Abend gegessen, im Kreis einiger weiterer Autoren, die er nach Lübeck einlud oder ins Willi-Brandt-Haus, um dort den amtierenden Parteivorsitzenden der SPD zu treffen. Einmal saß ich neben Kurt Beck, das war ausgesprochen nett, er hörte wirklich zu und ermahnte seinen Assistenten ständig übern Tisch hinweg mitzunotieren.

Daß ich kein SPDler war, empfand man seitens der organisierenden Funktionäre übrigens nie als Problem, das rechne ich der Partei bis heute hoch an. Mein Problem war vielmehr Grass selbst, der mich 2005 überreden wollte, Wahlkampf für die SPD zu machen. Ausgerechnet für Schröder, gegen den ich schon Jahre zuvor öffentlich Stellung bezogen hatte! Gemeinsam mit Burkhard Spinnen fuhr ich nach Lübeck, wo wir zu unsrer Überraschung von der großen Runde all derer erwartet wurden, die Wahlkampf machen wollten. Burkhard Spinnen und ich waren die einzigen, die einen ganzen Nachmittag lang die These verfochten, der beste Platz des Schriftstellers, gerade auch des politisch engagierten, sei zwischen allen Stühlen und Parteien. Daß Grass schließlich an unsrer Uneinsichtigkeit resignierte, war das eine; daß mich aber ausgerechnet Rühmkorf beim Abschied beiseite nahm, um mich seiner Mißbilligung zu versichern, Rühmkorf, mit dem mich viel mehr verband als mit Grass, das war bitter.

Übrigens wurde es mir in zahlreichen Feuilletons übelgenommen, daß ich mich überhaupt mit Grass getroffen hatte, das sei ein Verrat an der 78er-Generation und ihren literarischen Idealen. Welch eine Hybris! Als ob nicht jedes Gespräch besser war und ist als keines. Im Rückblick erscheint mir dieser kollektive Aufschrei der Feuilletons als ein erster Vorläufer heutiger Empörungskultur, die zur Spaltung unsrer Gesellschaft nicht unwesentlich beigetragen hat.

Was sich in meinem Fall bald wieder beruhigte, führte bei Grass bekanntlich 2012 zur Ächtung, auch wenn in der Debatte um sein Gedicht „Was gesagt werden muß“ von seinen Verteidigern immer wieder die Freiheit der Kunst beschworen wurde. Heute, da man bereits ein geradezu naiv harmloses Gedicht als sexistisch anprangert und aus dem öffentlichen Raum – der Außenwand eines Berliner Unigebäudes – verbannen will, ist die Deliberalisierung des öffentlichen Gesprächs schon weit vorangeschritten. Plötzlich ist selbst das offensichtlich Harmlose von geradezu hypertropher gesellschaftlicher Relevanz.

*

Unbestritten ist ein neuer Moralrigorismus auf dem Vormarsch, vor dem man in Deutschland immer Angst haben muß. Wer Sprache zensiert, zensiert das Denkvermögen, verengt damit auch den Spielraum unsrer politischen Entscheidungsfähigkeit. Das Klima des öffentlichen Gesprächs hat sich innerhalb der letzten Jahre spürbar verschlechtert, gerade als Frei- und Selbstdenker fühlt man sich ständig bevormundet und gemaßregelt. Um nicht zu sagen: der ständigen Kontrolle selbsternannter Volkserzieher unterworfen, die im Handumdrehen zum Rufmord eskalieren kann. Was bleibt, ist Schweigen, ein mittlerweile geradezu hörbares Schweigen all derer, die differenzierter denken wollen und trotzdem moralisch integere Menschen sind. Differenziertes Denken ist nun mal komplex, und einmal bei einem einzigen Rechthaber ein Mißverständnis und auch gleich das Fehlläuten seiner Alarmglocke ausgelöst zu haben – um einen Kafka-Satz an die heutige Zeit anzupassen –, es ist niemals gutzumachen.

*

Schon 1999 war einer meiner Texte einer – sagen wir: redaktionsinternen Maßnahme zum Opfer gefallen: Im Rahmen einer Ringvorlesung an der Münchner Uni hatte ich einen Vortrag gehalten, den ein Ressortleiter des Spiegel gern abdrucken wollte. Aber die Chefredaktion untersagte es, obwohl der Text bereits im Stehsatz war, denn er hieß „Der amerikanische Holzweg“ und plädierte dezidiert für eine europäische Ästhetik. Mir erschien diese Rückbesinnung auf die Vielfalt europäischer Wurzeln überfällig. Aber 1999 wollte der Spiegel, also die Chefredaktion, noch keinen pro-europäischen Artikel drucken, wahrscheinlich weil er anti-amerikanisch gelesen werden konnte. Dabei ging es in meinem Text keinesfalls um die transatlantischen Verpflichtungen der Bundesrepublik, sondern um die völlig überzogene Fixiertheit der deutschen Feuilletons auf US-Bestseller.

Das ist die Crux an politischer Literatur: Ist man mit seiner Analyse der Zeit ein wenig voraus – auch wenn es de facto nur um Literatur geht, nicht um Politik –, stößt man damit irgendwo immer auf Ablehnung, heute bekommt man dafür nicht selten sogar Prügel. Was redaktionsinterne Maßnahmen betrifft, die selbstverständlich nicht mit staatlicher Zensur gleichzusetzen sind, so habe ich sie öfter erlebt, als Sie vermuten werden. Nämlich immer nur bei linken Leitmedien, und das als linker Autor, der ich bis heute geblieben bin – „links“ freilich im früheren Sinn des Wortes, der mittlerweile obsolet geworden ist.

Als literarisches Stilmittel hatte ich mich bereits im „Weiberroman“ selbst zensiert, indem ich alle Stellen, an denen es erotisch zu knistern begann, schwärzte. Im Nachfolgeband „Ein Mann von vierzig Jahren“ sogar eine ganze Seite, nicht zuletzt auch als Verbeugung vor Laurence Sterne und dessen schwarzer Seite im „Tristram Shandy“. Das war damals ein Heidenvergnügen, es war ja nichts als ein Spiel mit der Leseerwartung. Ich schrieb natürlich immer so gezielt auf die Schwärzung hin, daß mir meine Leser haarklein berichten konnten, was ich dann anhand der Schwärzung erzählt hatte.

Einige Jahre später, bei Drucklegung meines zweiten Essaybandes, wurde aus dem Spiel jedoch Ernst: Alle drei Co-Autoren eines Thesenpapiers mit dem Titel „Relevanter Realismus“, den die ZEIT 2005 eigenmächtig als „Manifest“ abgedruckt und uns damit ganz gezielt einen kollektiven Aufschrei in den Feuilletons beschert hatte – es gibt wohl kein Wort, das einem 78er so verhaßt ist, wie das 68er-Wort „Manifest“ –, all meine Mitautoren wollten beim Wiederabdruck des Textes nicht mehr namentlich genannt werden. Auch das war schon ein Rückzug aus der öffentlichen Debatte, wenn man so will. Und weil ich ja nun nicht plötzlich als einziger Autor des Textes dastehen konnte, schwärzte ich bei der Verfasserangabe die drei anderen Namen.

Ein Buch wie „Schrecklich schön und weit und wild“ hätte ich 2017 gar nicht veröffentlichen können, wenn ich darin nicht gewisse Zitate meiner Reisegefährten geschwärzt hätte – zu deren großer Empörung, schließlich hatten sie mir für dieses Buch freimütig Rede und Antwort gestanden. Selbst im gerade erschienenen Band „Sämtliche Gedichte“ habe ich an zwei Stellen geschwärzt, die bei der Erstpublikation 1995 noch ganz unhinterfragt gedruckt wurden.

Wie gesagt, ich schwärze selbst, mit ebensoviel Ingrimm wie Dankbarkeit, denn es hat mir bislang ein Schicksal erspart, wie es einigen meiner Kollegen widerfahren ist: durch willkürlich segmentierendes Zitieren für eine Äußerung geschlachtet zu werden, die im Kontext einen völlig anderen Sinn ergibt. Indem ich meine eigenen Texte schwärzte, tat ich, was Autoren in der DDR schon immer taten, und ich machte eine ähnliche Erfahrung wie sie: Zu meiner Überraschung erzählten sie mir nämlich übereinstimmend, daß man in der DDR eigentlich alles schreiben und publizieren konnte, wenn man die Mechanismen der Zensur studiert und sie entsprechend bedient hatte. Natürlich ist die Zensur eines diktatorischen Regimes eine ganz andere Drohkulisse für einen Schriftsteller als das, was man heutzutage als möglichen Shitstorm von Links oder Rechts beim Schreiben immer mitbedenken muß; nichts anderes mache ich seit einigen Jahren, freilich ohne einfach zu streichen oder abzuschwächen, ich möchte diesen Vorgang wenigstens als Schwärzung dokumentieren. Vielleicht ist auch dies als politische Aussage zu werten, wer weiß.

*

Das Jahr 2005 war in mancherlei Hinsicht für mich eine Zäsur. Auch ein zweiseitiger Aufmacher, den ich für das ZEIT-Feuilleton geschrieben hatte – „Weißer Mann – was nun?“ –, machte unfreiwillig Furore. Ich schilderte darin meine Erfahrungen in Afrika, Indien und vor allem Kuba, heftige Erfahrungen in archaischen Gesellschaften, die oft auf Gewalt hinausliefen und mich nichts Gutes für ein zukünftiges Europa ahnen ließen. Es hagelte Widerspruch, man unterstellte mir, ich würde den „Untergang des Abendlandes“ verkünden – als ob der damals nicht schon seit fast hundert Jahren verkündet war. Was nicht sein soll, läßt der Zeitgeist nicht gelten, die vermeintlich richtige Meinung gilt in Deutschland mehr als die vermeintlich falsche Wahrheit. Sieben Jahre später titelte dieselbe ZEIT sogar auf Seite 1 „Der Untergang des weißen Mannes“, das Thema war im intellektuellen Mainstream angekommen.

Mag sein, daß der Roman „Herr der Hörner“, der vom Untergang eines deutschen Bankers in der wilden Welt des kubanischen Alltags erzählt und von den afro-kubanischen Riten, die ihn begleiten –, mag sein, daß dieser Roman als politische Literatur gelesen werden kann. Immerhin wurde ich deshalb verhaftet, wenngleich von kubanischen Polizisten, die mich dann zwecks Verhör an den Geheimdienst überstellten. Der 2013 publizierte Roman „Samarkand Samarkand“ ist es mit Sicherheit, auch wenn ich mir darin in gewisser Weise treu blieb und die politischen Aspekte – Vormarsch der panrussischen Allianz, Vormarsch des Kalifen von Bagdad, immerwährender Flüchtlingsstrom, ein zwischen grün-liberalen und nationalistischen Lagern bürgerkriegsartig zerrissenes Deutschland – in die Zukunft und an den Rand des Romangeschehens schob. Einige Jahre lang war ich in Zentralasien unterwegs gewesen, um den Roman auf den Spuren meiner Hauptfigur zu recherchieren; dabei hatte ich politische Kräfteverschiebungen zur Kenntnis nehmen müssen, von denen in den deutschen Medien nie die Rede war und wie sie selbst bei Erscheinen des Romans einigen Lesern als arg gewagt bis absurd erschienen.

„Samarkand Samarkand“ … Mittlerweile ist ein Großteil des literarischen Szenarios von der wirklichen Wirklichkeit eingeholt worden, tatsächlich hat sich ja schon 2014 der Führer des IS zum Kalifen von Bagdad ausrufen lassen, ein Jahr nach Erscheinen des Buches. Im selben Jahr annektierte Rußland die Krim, wenig später rückte es in der Ostukraine vor. 2015 traten die Flüchtlingsströme schlagartig in unser aller Bewußtsein. Seitdem habe ich Dutzende an Briefen und Mails bekommen, in denen sich Leser für ihre damalige kritische Lektüre des Romans bei mir entschuldigten.

Typisch deutsch, von einem Extrem zum anderen! Dabei hatte ich nichts weiter getan, als den Betroffenen vor Ort so lange zuzuhören, bis ich mir eingestehen mußte, daß die Nachrichten in unseren Medien, sagen wir nur, sehr lückenhaft waren. Der einzige, der die Brisanz meines Szenarios sofort erkannte, war der Imam der Blauen Moschee in Hamburg, in denen die Attentäter aufs World Trade Center ein und aus gegangen waren und die seitdem vom deutschen Geheimdienst überwacht wird. Der Imam schickte seinen Kulturbeauftragten zur Buchpremiere ins Literaturhaus, und wir hatten damals alle sofort die einschlägigen Befürchtungen. Die sich zum Glück nicht bewahrheiteten. Das wirklich Gefährliche an diesem Roman war die Recherche, aber das ist eine andere Geschichte.

*

Ich reise nicht immer gern, und die Erkenntnisse, die man dabei gewinnt, sind oft schmerzhaft. Im Lauf eines Reiselebens verliert man viele Illusionen und ist irgendwann für jede Ideologie verloren. Was man mit eigenen Augen gesehen oder von den Einheimischen glaubhaft geschildert bekommen hat, ist stärker als jede kohärente Weltanschauung. Wirklich schmerzhaft empfinde ich es jedoch, daß ich davon zu Hause nicht erzählen kann, ohne ausgerechnet von denen angefeindet zu werden, die ihren heimischen Kiez kaum nennenswert verlassen und letztlich gar keine eigenen Erfahrungen zu diesem oder jenem Thema gemacht haben.

Spätestens hier bin auch ich an einem Punkt in meinem Leben angelangt, wo ich dem Thema Literatur und Politik ein ganz dickes und überaus notwendiges „und“ abgewinnen kann. Wer, wenn nicht wir, wenn nicht mal mehr wir? Vor einem knappen Jahr durfte ich nicht über den Angriff berichten, den ich als Ungläubiger im Moslemviertel einer indischen Stadt erlebt hatte. Ich wurde tatsächlich als Hindu beschimpft und getreten, konnte das Recht auf Toleranz nur mit intoleranten Mitteln erkämpfen, indem ich mich nämlich gewehrt habe. Die Redakteure waren begeistert von meinem Text, doch die Chefredaktion verhinderte den Druck. Wir, die Redakteure und ich, hatten gemeinsam so lange am Text gefeilt und entschärft, bis er trotz seiner Brisanz nicht mißverstanden werden konnte – und man’s in der Redaktion zufrieden war.

Dann kam die Absage der Ressortleiterin. Sie versicherte mir, der Text sei „sehr schön geschrieben“, die beschriebene Episode würde aber nicht weit genug „tragen“, Zitat: „Daß man als Tourist […] nicht überall automatisch willkommen ist, das ist eigentlich nicht wirklich überraschend.“ Wie bitte, nun sollte der Text plötzlich zu harmlos sein? Der Redakteur, der den Artikel in Auftrag gegeben hatte, erfuhr davon erst von mir und reagierte entsprechend konsterniert.

Selbstverständlich ist dieser Zwischenfall im Moslemviertel bereits in meinem nächsten Buch verarbeitet. Während ich mich früher politisch in den Feuilletons geäußert habe und meine Bücher davon eher unberührt blieben, könnte ich heute vieles in den Feuilletons gar nicht mehr äußern, vielleicht sind meine Bücher deshalb zunehmend politischer geworden. Seltsam, ich hege nicht mal Groll gegen die Medien, die ihren Lesern Texte vorenthalten, die früher den Reichtum der Feuilletons ausgemacht haben. Ich verstehe ihre Motivation und ihre selbstgewählte Aufgabe in schwierigen Zeiten. Aber unendlich traurig macht es mich schon.

Denn es sind doch auch wir, die reisenden Schriftsteller, die als Quasi-Reporter vor Ort unterwegs sind und deren Berichten qua unmittelbarer Erfahrung eine ganz andere Wahrhaftigkeit anhaftet als dem eines noch so engagierten Journalisten, der sich im Newsroom anhand von Tickermeldungen und Online-Artikeln seiner Kollegen eine Meinung bildet. Wie oft habe ich schon über Kommentare den Kopf geschüttelt, sofern ich das Land kannte, mit dem da in einer einzigen Textspalte abgerechnet wurde; wie oft habe ich mich über das empörte Timbre einer Studio-Moderatorin geärgert, wenn ihre weltanschaulich tendenziösen Fragen von einem tapferen Auslandskorrespondenten immer wieder als absurd abgeschmettert wurden.

Eigentlich müßte man sich als Reisender viel stärker in politische Diskussionen einmischen – zum Beispiel über Afrika, das so vielfältig ist wie kaum ein anderer Kontinent. Wo in den Medien stereotyp Hunger, Not und Perspektivlosigkeit beschworen werden, gibt es de facto auch überraschend florierende Länder oder Landstriche; ein differenzierterer Blick täte unsrer emotional aufgeheizten Debatte um Migration gut. Während Journalisten aus Kostengründen meist zu Hause oder in ihren Zentralstudios für eine ganze Region bleiben müssen, reisen Politiker bloß auf dem roten Teppich und informieren sich am grünen Tisch. Sie reden mit Vorzeigeintellektuellen eines Landes und besichtigen auch heute mitunter Potemkin’sche Dörfer, kein Wunder, daß ihre Entscheidungen oft so weltfern erscheinen. Der Reisende hingegen, der das Reisen um seiner selbst willen betreibt und als ein Liebender, der die Welt als ganzes besser und immer noch besser verstehen will, dieser Reisende aus Passion und Verantwortung ist jemand, der ohne ideologische Scheuklappen hinsieht und auch als Linker niemals auf die Idee verfallen würde, gewisse Sachverhalte auszublenden oder zu Hause zu verschweigen, nur weil sie nicht zu seiner Gesinnung passen.

Intellektuell wachsame Reisende sind Realos, und in unserem weltanschaulich aufgeheizten Klima, das uns alle bedrückt und lähmt, wäre ihr Votum, meinethalben im Rahmen informeller Abendessen, auch bei politischen Entscheidungsprozessen hilfreich. Die Hellsichtigkeit von Literatur resultiert nicht zum wenigsten darauf, daß zur Recherche ihrer Stoffe viel mehr Zeit investiert werden muß als für einen Zweieinhalbminutenbeitrag im Rundfunk – und nicht selten auch Mut, scheinbar vertraute Sachverhalte neu anzusehen und zu beurteilen. Deshalb bildet Literatur nicht nur unsre Gesellschaft ab, sondern prägt sie auch. Wenn sich die eigentliche, die seriöse Sichtung unsrer Gegenwart nun von den nervös reagierenden Medien zunehmend in die Literatur verschiebt, müßte man sich zumindest um die Zukunft der arg gebeutelten Branche keine Sorgen machen.

*

Meine Schlußbemerkung fällt kurz aus: Ob ich es wollte oder nicht, ob ich es gut fand oder nicht, ich war wohl immer einer, der sich zumindest neben seiner „eigentlichen“ Tätigkeit für gesellschaftliche Anliegen und Entwicklungen interessiert hat. Dies als Dank an meine weltkriegsgeschädigten Eltern und an die nicht minder kritischen 68er unter meinen Lehrern, die uns zu Widerspruch und Wachsamkeit erzogen haben. Ob ich deshalb Essays geschrieben und an Debatten teilgenommen habe, ob ich meine eigenen Texte geschwärzt, ob ich mich zunehmend ins Ausland verdrückt und auch meine Romanstoffe ins Ausland verlegt habe, all dies war direkte oder indirekte Teilhabe an der politischen Entwicklung – Antje Kunstmann hatte von Anfang an recht, wenn sie meinte, ausnahmslos alles, was man als Schriftsteller schreibe oder gerade nicht schreibe, sei gesellschaftlich relevant.

Ich hätte also gut so weitermachen und mich bei jeder weiteren Gelegenheit in die Fremde absetzen können, wo ich Probleme der dortigen Gesellschaften nur als Durchreisender verfolgen muß, als einer, der qua Besucherstatus keine Stellung zu nehmen hat. Immer mal wieder aufatmen und auftanken kann man auf diese Weise. Aber ein glückliches Leben will auch zu Hause geführt werden und bedarf der Anteilnahme auch dort. Als ich die Einladung zu diesem Vortrag erhielt, habe ich mich entschlossen, den abgerissenen Faden der Anteilnahme wieder aufzunehmen und mein Schweigen in Deutschland zu beenden. Ich hoffe, Sie verstehen, daß ich als alter Linker in einem neolinks geprägten Diskurs noch längst nicht alles gesagt habe, was ich zu sagen hätte. Die Zeiten, da man einfach drauflosreden konnte, sind vorbei; ein Text wie dieser muß heute von zahlreichen professionellen und privaten Ratgebern kritisch gelesen und vieles davon gestrichen werden, ehe er an die Öffentlichkeit gelangt. Zum Glück habe ich diese Ratgeber, und mein Text ist in gewisser Weise auch der ihre. Ich bedanke mich für die Einladung, hier sprechen zu dürfen, denn wer sprechen soll, fängt immerhin wieder an zu sprechen. Der Rest findet sich.