Tanz auf dem Vulkan

Rocio Lilliana Günthers Untersuchung „Wir tanzten und tanzten zu jeder Zeit“ analysiert die Tänze in Vicki Baums Romanen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Vicki Baum 1960 verstarb, sind bereits etliche wissenschaftliche Texte zu ihrem literarischen Schaffen erschienen. Ein Aspekt ihres Werkes blieb bislang jedoch vollkommen unterbelichtet: das Motiv des Tanzes und seine Literarisierung. Zu Unrecht, wie Rocio Lilliana Günther zeigt, die in ihrer nun veröffentlichten Dissertation überaus eindrücklich die Vielfalt der Bedeutungen, Funktionen und Ausdrucksformen des Tanzes im literarischen Œuvre der „ausgebildete[n] Harfenistin“ herausarbeitet und dabei etliche neue Erkenntnisse zu Tage fördert.

Als literarische Quellen zieht sie naheliegender Weise insbesondere Baums Romane Die Tänze der Ina Raffay. Ein Leben (1921), Die goldenen Schuhe. Roman einer Primaballerina (1957),  Marion (1954) sowie Liebe und Tod auf Bali (1937) heran. Aber auch in anderen Werken wie etwa den Romanen Hotel Shanghai (1939), in dem Baum „die Homosexualität, die Travestiekunst und das Aufkommen der weiblichen Garçonne in Berlin [thematisiert]“, Menschen im Hotel (1929), in dem die Schriftstellerin der Verbindung „Tanz und Rassismus“ nachgeht, sowie Stud. Chem. Helene Willfüer (1928) macht sie instruktive Entdeckungen. In letzterem zeigt Günther etwa anhand einer „Tanzszene der jungen Studentin Helene mit Doktor Kolding“, dass und wie „die körperliche Nähe des Tangotanzes […] in zudringlicher Weise ausgenutzt werden kann“. Neben diversen Romanen zählen auch Briefe und andere Dokumente aus dem Nachlass sowie die Autobiographie der Autorin zu Günthers Korpus der Primärliteratur. Als weitere Quellen dienen ihr Schriften von namhaften zeitgenössischen TänzerInnen, TanztheoretikerInnen und ChoreographInnen wie etwa Isadora Duncan, Rudolf von Laban und Mary Wigman.

Ziel ihrer Arbeit ist es, Baums Romane „unter dem Aspekt der historischen Veränderung des Tanzes unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Populärkultur zu analysieren“ und so zu zeigen, wie die „kulturellen Ausdrucksformen“ Tanz und Literatur bei Baum einander „durchdring[en]“. Denn die Literatin bedient sich bei der Darstellung von Tanzszenen selbst einer „fast schon tänzerische[n] Schreibweise, die den Tanz im Text lebendig werden lässt“. Wie Günther ausführlich zeigt, „erweckt“ Baum durch die „narrative[] Gestaltung der Tanzszenen den Tanz literarisch förmlich zum Leben“ und bindet ihre „poetisch bildhafte Sprache […] an eine rhythmische Gestaltung, die den Tanzszenen eine gewisse Dramatik verleih[t]“.

Anhand der „detailgetreue[n] Darstellung der Tanzgeschichte“ im literarischen Werk Baums zeigt Günther zudem auf, dass die Romane der Schriftstellerin der Kulturwissenschaft als „interessante[] und gewichtige[] Quelle“ dienen können, zumal in ihnen so unterschiedliche Tanzformen wie neoklassizistisches und modernes Ballett, Ausdruckstanz, Totentanz, Wiener Walzer, Foxtrott, Tango, Charleston und Swing vorkommen und nicht selten eine tragende Rolle spielen.

In mehreren ihrer Romane, wie etwa Die Tänze der Ina Raffay, Die goldenen Schuhe und Marion literarisiert Baum die „Entwicklung neuer Tänze von 1920 bis 1950“, indem sie „den Wandel vom klassischen Ballett zum Ausdruckstanz, vom Wiener Walzer zu den amerikanischen Tänzen“ thematisiert. Doch macht Günther auch anhand „verschiedene[r] andere[r] Texte[]“ der Schriftstellerin deutlich, „wie sehr sich die Tanz- und Bewegungskultur während des Krieges an politische Bedingungen anpasste“, wobei „insbesondere viele Ausdruckstänzer in Deutschland sich der nationalsozialistischen Kunstideologie anglichen“.

Über die Tanzszenen literarisieren Baums Romane auch „die kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen, von denen einige eine ganze Zeitreise beinhalten“. So macht sie in ihren Werken etwa „das Tanzkleid als Reform der neuen Weiblichkeit“ kenntlich, oder zeigt die „höchst ambivalenten Situation des Tanzes“ unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, auf die Tanzende mit dem „Swing als Rebellion“ reagierten. Während eine „typische deutsche nationalsozialistische Frau“ auf „Makeup [und] Nagellack“ verzichtete und ihr Haar züchtig zu „Zöpfen oder Haarrollen zusammengesteckt“ hatte, setzte das „Swing-Girl“ diesem Backlash „emanzipiert[er] Weiblichkeit der 20er Jahre […] modische Extravaganz“ entgegen. Am Beispiel des Romans Die goldenen Schuhe zeigt Günther wiederum auf, wie Baum die Einflüsse der US-amerikanischen Tanzkultur literarisch verarbeitete.

Günther arbeitet in ihrer Untersuchung zudem zwei miteinander korrespondierende Entwicklungen heraus. Die eine betrifft Baums persönliches Verhältnis zu verschiedenen Formen des Tanzes, so wie es sich in ihrer Literatur spiegelt; die andere die Veränderung des Tanzes als „Performance“ in den Jahrzehnten des „politischen Umbruchs“ vom Ende des Ersten Weltkriegs an über die Wirtschaftskrise und der Herrschaft der Nazis bis hin zu den ersten Jahren nach deren militärischer Niederlage.

Doch literarisiert Baum den Tanz nicht nur als Spiegel gesellschaftlicher, politischer und sozialer Umbrüche, sondern etwa auch als „Verführungsmittel“ oder als „Spiegel des körperlichen Zerfalls“. So greift Katja angesichts der „biologischen Rücksichtslosigkeiten der Natur“ in Die goldenen Schuhe immer wieder zu „Hormonspritzen“ und in Menschen im Hotel unterwirft sich der Baron von Gaigern Eingriffen der „plastischen Chirurgie“.

Beschlossen wird der vorliegende Band mit einer besonders ausführlichen Analyse der „Bedeutung der balinesischen Tanzkunst“ in Baums Roman Liebe und Tod auf Bali, da sich diese „stark von der westlichen unterscheidet“. Denn auf der indonesischen Insel versetzen sich die Tanzenden in Trance, „um ein Medium des Kontakts mit der Ahnen- und Götterwelt zu schaffen“. Baum stellt die „bedeutsamsten“ dieser balinesischen Tänze vor und macht dabei zugleich den ihnen inhärenten Sexismus deutlich, der sich etwa darin ausdrückt, „dass eine balinesische Frau nur unter bestimmten Reinheitsbestimmungen zum Tanz zugelassen wird“.

Günthers Fazit, dass Baums Romane „in fiktionaler Weise von der zeitgeschichtlichen Entwicklung des Tanzes Zeugnis ab[legen]“, und sie auf eine „bemerkenswert kompetente[] Weise“ literarisieren, der „schwerlich Beispiele anderer Autorinnen oder Autoren an die Seite zu stellen wären“, ist wohl kaum übertrieben. Genau das gezeigt zu haben, ist das große Verdienst der vorliegenden Arbeit.

Titelbild

Rocio Lilliana Günther: ‚Wir tanzten und tanzten zu jeder Zeit‘. Der Tanz in Vicki Baums Werken 1920-1950.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
344 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835354012

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