Im Griff der Schlange

In „Durchsichtig. Autobiografie einer Magersucht“ gibt Christina Lopinski intimste Einblicke in ihre Zeit mit der Krankheit

Von Veronika DyksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Dyks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 13-jährige Christina Lopinski ist vieles: freundlich, intelligent, sportlich, aufgeweckt – und magersüchtig. Und genau Letzteres droht, vollends von ihr Besitz zu ergreifen, ihr jede Kraft und Freude im Leben zu nehmen. Heute ist Christina Lopinski 24 Jahre alt und studiert Friedensforschung in Tübingen. Dass das nicht immer selbstverständlich war, zeigt ihr Buch Durchsichtig. Autobiografie einer Magersucht. Veröffentlicht wurde das Buch von der jungen Frau, die studiert und davon träumt, einmal Auslandskorrespondentin zu werden. Geschrieben wurde es zehn Jahre früher von der 13-jährigen Christina, für die das Schreiben die einzige Rettung ist:

Ich heiße Christina und ich bin krank. Meine Diagnose: Magersucht. Ich bin seit über vier Monaten in einer Klinik. Einiges hat sich schon verbessert. Mein Gewicht bewegt sich nicht mehr zwischen Rollstuhl und Schlauch in der Nase und meine Eltern müssen auch nicht mehr jede Nacht mit der Angst einschlafen, am nächsten Morgen keine Tochter mehr zu haben. Trotzdem ist nichts einfach.

Und das stimmt: Nichts ist einfach. Die zwölfjährige Christina schenkt den Lügen ihrer Klassenkameradinnen, die behaupten, sie würden 36 Kilo und weniger wiegen, Glauben. Sie selbst wiegt 45 Kilo: „Ein schwerer Trampel in einer Umgebung voller schöner Elfenmädchen.“ Dass 45 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,58 Meter absolut gesund sind, dass sie größer und sportlicher ist als die meisten anderen Mädchen, dass eben diese „Elfenmädchen“ ihr Gewicht herunterflunkern – all das kann (und will) sie zu dem Zeitpunkt nicht sehen; die Krankheit hat schon ihre ersten Samen ausgestreut. Denn dieser prägende Moment ist „nicht der Anfang, aber ein Teil davon“.

Sie beginnt, sich regelmäßig zu wiegen und Kalorien zu zählen. Jedes Gramm, das sie abnimmt, ist ein Erfolgserlebnis. Jede kalorienreiche Mahlzeit hingegen, die sie in Anwesenheit anderer zu sich nehmen muss, wird zur Qual. Pizza war einmal ihr Lieblingsessen. An ihrem dreizehnten Geburtstag löst das fettige Gericht jedoch nur Panik und Ekel in ihr aus. Die sich in ihr ausbreitende Krankheit beeinträchtigt nicht mehr nur ihr Gewicht, sondern auch ihre Beziehungen zu ihrer Familie und ihren Freunden. Ständig streitet sie sich mit ihrer Mutter über das Essen, unterdrückt die Wut auf ihren Vater, der fast alle gemeinsamen Mahlzeiten verpasst, und hegt Schuldgefühle gegenüber ihrem jüngeren Bruder Matze, der all das mitbekommt. Von ihren Freundinnen distanziert sie sich immer mehr, fühlt sich ausgeschlossen, nicht gut genug, durchsichtig.

Wenn es um ihr Gewicht, Sport und Essen geht, belügt sie alles und jeden, aber vor allem sich selbst. Zu spät erkennt ihre Familie, erkennt sie selbst, dass sie da nicht mehr aus eigener Kraft herauskommt. Denn das Problem ist irgendwann nicht mehr, dass sie nicht essen will. Sie kann es nicht mehr. Die Kobra hält sie davon ab. Die Kobra, das ist die Personifizierung der Magersucht, ein Bild, das dem 13-jährigen Mädchen in den Kopf kommt, wenn es versucht, anderen seine Krankheit zu erklären. Dieses Bild hilft nicht nur Christina und ihrem Umfeld, besser zu verstehen, sondern auch den Leser*innen. Und vielleicht bietet Christina Lopinski mit Durchsichtig somit nicht nur einen Einblick in ihre eigenen Erfahrungen mit der Krankheit, sondern leistet einen Beitrag zur Enttabuisierung von Magersucht und Essstörungen in der Gesellschaft. Denn ihre Geschichte ist „nur so einzigartig, wie wir es als Individuen sind – die Krankheit ist es nicht“.

Essstörungen sind nach wie vor ein Tabuthema, werden zu spät erkannt, ignoriert oder schlichtweg nicht ernstgenommen. Das liegt jedoch nicht daran, dass sie so selten auftreten. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigt etwa ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen Symptome von Essstörungen. Die Gründe dafür können verschiedene sein: biologische, soziale, familiäre, psychische, gesellschaftliche. Wahrscheinlich kommt vielen, die das Wort ‚Magersucht‘ hören, das Klischee eines Magermodels, das gesellschaftlichen Schönheitsidealen entsprechen will, in den Sinn. Dass das nicht stimmt, erläutert die Autorin in einem Interview im Wiesbadener Kurier:

„Magersucht ist keine Krankheit im Sinne von ‚Ich will dünn sein‘“, stellt sie klar. „Magersucht ist eine Emotions-Regulations-Störung wie andere psychische Erkrankungen, sodass man mit sich selbst und dem Umfeld nicht klarkommt. Es ist eine andere Art der Selbstverletzung.“

39 Kilo wiegt Christina, als sie schließlich, ein Jahr nachdem alles begann, in eine Klinik kommt. Ein Jahr voller Selbsthass, Streit, Einsamkeit und Schuldgefühlen. Ein Jahr, in dem sie verlernt hat, mit Genuss zu essen und ihr eigenes Spiegelbild nicht erträgt. Ein Jahr, in dem sie sich und ihrem Körper unglaublichen Schaden zufügt. Erst jetzt sei es ihr möglich, über das Thema Anorexie zu sprechen. Erst jetzt fühle sie sich stark genug, ihre Geschichte zu teilen, weil sie sieht, „was mit einem gesunden Kopf möglich ist“ und auch anderen damit Mut machen möchte. Mut brauchte es auch, dieses Buch zu veröffentlichen. Bis auf formale Korrekturen entspricht es nämlich genau dem, was sie als 13-jährige Anorexie-Patientin stark, authentisch und eindrucksvoll „mit unzähligen Kugelschreibern auf karierte Blätter“ geschrieben und dann mehrere Jahre nicht mehr angeschaut hat. Es ist ihr Intimstes, was das junge Mädchen niederschreibt und es ist ihr Intimstes, was die junge Frau zehn Jahre später veröffentlicht.

Auch für Nicht-Betroffene ist Durchsichtig kein Buch, das man schnell herunterlesen kann. Es berührt, trifft, macht Angst – aber auch: Hoffnung. Magersucht ist eine Krankheit, die behandelt werden kann, man muss nur hinschauen und sie früh genug erkennen. Hinschauen, hinhören – das ist Christina Lopinskis Appell an alle, die mit Betroffenen von Magersucht in Kontakt stehen. Auch, wenn es schwerfällt.

Es ist zu hoffen, dass dieses Buch größere Wellen schlägt als der Verlag mit der äußeren Gestaltung anzustreben scheint. Das liebevoll gezeichnete Coverbild hat nicht die richtige Auflösung und verfehlt auf dem weißen Hintergrund jegliche Wirkung. Auch die Schriftart wirkt unseriös – von der Gestaltung der Rückseite ganz zu schweigen. Doch ist hier die englische Phrase ‚Don’t judge a book by its cover‘ wörtlich zu verstehen: Wer dieses Buch in der Hand hält, sollte die stiefmütterliche Gestaltung ignorieren und einen Blick auf das werfen, was eigentlich zählt: den Inhalt. Vielleicht fällt das Buch sogar ein paar Deutschlehrer*innen in die Hände, die es dann mit ihrer Schulklasse besprechen. Denn Durchsichtig ist ein Buch, das in Schulen gelesen werden sollte. Damit Menschen hinsehen. Damit Magersucht kein Tabu mehr ist. Damit betroffene Kinder und Jugendliche sich nicht mehr allein fühlen und wissen, dass es besser werden kann.

 

Hinweis:

Sollten Sie selbst oder Angehörige von Magersucht oder anderen Essstörungen betroffen sein, finden Sie auf der Homepage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung alle relevanten Informationen aufgeführt und bekommen Tipps zur Erkennung und Behandlung der Krankheit.

Die Nummer gegen Kummer berät Kinder, Jugendliche und Eltern zudem rund um die Uhr zu allen möglichen Fragen und Problemen – auch Magersucht und Essstörungen.

Titelbild

Christina Lopinski: Durchsichtig – Autobiografie einer Magersucht.
Verlag DeBehr, Radeberg 2020.
324 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783957537874

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