Zivilisationsbruch, erster Akt

In einem brisanten Sammelband widmet sich Leonid Luks europäisch-russischen Schnittstellen zu Herausforderungen wie Revolution und totalitären Herrschaftsformen

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die russische Oktoberrevolution von 1917 hatte im Windschatten der Schrecken des Ersten Weltkrieges weltweit Aufmerksamkeit geweckt. Radikalisierte Teile der internationalen Arbeiterbewegung nahmen mit Begeisterung wahr, dass ihre Träume von der Befreiung des Menschen erstmals in der Geschichte konkrete Gestalt angenommen hat.

Der renommierte Russland-Kenner Leonid Luks hat sich in den vorliegenden Studien Totalitäre Versuchungen der entgegengesetzten Perspektive zugewandt und Wortmeldungen jener exilierten Historiker, Philosophen und Publizisten untersucht, die in der Fremde vehement vor den verheerenden Folgen der Revolution warnten. Bei aller Verschiedenheit ihrer denkerischen Ansätze hatten sie als Zeitzeugen die Geschehnisse in ihrer Heimat unmittelbar miterlebt.

In zwei Teilen werden Aspekte des politischen Totalitarismus, von Demokratie, Revolution und Utopie sowie in einer abschließenden Bilanz politisch-historische Diskurse von Dissidenten in der nachstalinistischen Sowjetunion entfaltet. Dabei legt Leonid Luks seinen Schwerpunkt ausdrücklich auf die ideengeschichtliche Auswertung der exilrussischen Perspektive und setzt deren theologisch-philosophischen Aspekte zurück.

Im ersten Themenblock „Totalitäre Versuchungen von links und von rechts und die Krise der europäischen Demokratie aus der Sicht der Vechi-Autoren“ widmet sich Luks in vier kritischen Porträts den Philosophen Petr Struve, Simon Frank, Nikolaj Berdjaev und Sergej Bulgakov. Sie waren bereits in dem 1909 erschienenen legendären Sammelband Vechi (Wegzeichen) beteiligt, in dem russische Intellektuelle in aller Schärfe mit Konzeptionen radikaler Revolutionierung der russischen Gesellschaft ins Gericht gegangen waren. Dieser Band hatte seinerzeit für großes Aufsehen gesorgt, zumal die meisten seiner Autoren ursprünglich selbst in verschiedener Weise der sozialistischen Bewegung wie auch marxistischen Überzeugungen nahegestanden waren, in Folge der russischen Revolution von 1905 aber mit dieser Option nachhaltig gebrochen hatten.

Nach der Oktoberrevolution von 1917 sahen sich diese Denker nicht nur in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt, sie waren zudem aufgrund ihrer Analysen wie auch konkreter Erfahrungen im eigenen Lande in der Lage, in Europa aufziehende totalitäre Strömungen der politischen radikalen Rechten als verheerende Bedrohung einzuschätzen. Auch Leonid Luks hält durchaus Parallelen in der Einordnung des Bolschewismus mit dem deutschen Nationalsozialismus im Blick. Beide Erscheinungen als eine Art „Betriebsunfall“ in der Geschichte zu bewerten, hält seiner Meinung nach den Tatsachen nicht stand: „Eine derartige Betrachtungsweise ist jedoch ähnlich unhistorisch wie der Versuch, den russischen Charakter des Bolschewismus zu negieren. Beide Regime waren mit bestimmten, wenn auch verzerrten Entwicklungssträngen der politischen Kultur ihrer jeweiligen Länder verbunden. Sie entstanden nicht in einem luftleeren Raum“.

Unter der Zusammenfassung „Ideokratie oder Demokratie? Ideengeschichtliche Diskurse der ‚ersten‘ russischen Emigration“ werden einige Schlüsselkategorien herausgegriffen, die in den Zeitschriften und Zirkeln der Exilanten in den 1920er und 1930er Jahren entwickelt worden waren.

Neben ideengeschichtlichen Überlegungen zur eigenen Geschichte wendeten sich diese russischen Denker zunehmend auch den bedrohlichen Strömungen in Europa zu. Da sie in ihrer Heimat Augenzeugen eines Zivilisationsbruches geworden waren, dessen bisweilen apokalyptische Dimensionen in dieser Form für Europa unbekannt waren, stellte sich bei ihnen das Gefühl ein, der Zeit voraus zu sein. Leonid Luks konstatiert: „Dieses geschärfte Katastrophenbewusstsein sollte den geschlagenen und zur Flucht in die Fremde gezwungenen Gegnern der Bolschewiki ein Überlegenheitsgefühl gegenüber ihren Gastländern vermitteln“. 

Im abschließenden Ausblick „Auf der Suche nach Kontinuität: Zur Renaissance des authentischen politischen Diskurses in der nachstalinistischen Sowjetunion am Beispiel der sowjetischen Dissidentenbewegung“ wendet sich Luks der ideengeschichtlichen Fortsetzung im Milieu des unabhängigen Denkens zu. Eine der Schlüsselfragen in den Dissidentenzirkeln war diejenige, wie es zur sowjetischen Katastrophe mit ihrer marxistisch-leninistischen Deutungshoheit kommen konnte. Hier wurde an die Anregungen jener unabhängigen Denker der 1920er und 1930er Jahre neu angeknüpft, um Aufschlüsse über eine nicht-sowjetische, russische Identität zu erhalten.

Mit dem Ende der Sowjetunion ist die kritische Reflexion über das Schicksal Russlands nicht überflüssig geworden. Die vorliegenden, bereits verstreut publizierten Studien von Leonid Luks unterstreichen in ihrer Zusammenschau die nachgerade brisante Aktualität so großer russischer Denker wie Nikolaj Berdjajev, Sergej Bulgakov, Georgij Fedotov, Simon Frank oder Fedor Stepun – für Russland wie auch für Europa.

Ein Blick in russische Schulbücher belegt, daß bedenkliche und auch illusionäre Strategien bemüht werden, um sich über tragische Wahrheiten hinwegzutäuschen. Die Beschwörung der russischen Geschichte auf ein über Generationen hinweg bestehendes Imperium stellt eine sträfliche Reduktion dar. Neben den Schätzen russischer Kulturleistungen werden somit zudem konsequent jene Mechanismen ausgeklammert, die zum gesellschaftlichen Stillstand, umklammert von einer allgegenwärtigen Korruption, geführt haben. Da hilft es auch nicht weiter, reflexhaft auf Feinde von innen und von außen zu verweisen.

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Leonid Luks: Totalitäre Versuchungen. Russische Exildenker über die Ursachen der russischen Revolution und über den Charakter der europäischen Krise des 20. Jahrhunderts.
LIT Verlag, Münster 2017.
334 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783643136664

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