Sieg der Vernunft über die Angst
Lukas Maisels Roman „Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ widmet sich einem historischen Moment, der die Welt beinahe in einen nuklearen Krieg gestürzt hätte – und der Entscheidung eines russischen Offiziers, der uns allen das Leben rettete
Von Monika Grosche
Der sowjetische Oberstleutnant Stanislaw Petrow muss in der Nacht des 26. September 1983 die schwerste Entscheidung seines Lebens fällen. In dem geheimen sowjetischen Militärkomplex, wo er stationiert ist, bricht der Alarm los, der den Start amerikanischer Atomraketen meldet. Und Petrow allein muss nun entscheiden: Soll er seine Vorgesetzten bis hin zu Staatschef Juri Andropow informieren und damit das Raketenabwehrsystem für den nuklearen Rückschlag in Gang setzen? Oder soll er lieber abwarten und schauen, ob das System nicht vielleicht fehlerhaft reagierte, statt womöglich grundlos den atomaren Overkill einzuleiten?
Die Geschichte, die Maisel hier schildert, ist keineswegs fiktiv. Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow lebte und arbeitete in einer der geheimen sowjetischen Militär-Städte, von denen es in der Zeit des kalten Krieges einige gab. Seine Tätigkeit beim Raketenabwehrzentrum war ebenfall ein Geheimnis. Petrows Ehefrau Raisa und die beiden Kinder Jelena und Dimitri hatten keine Ahnung davon, dass ihr Mann und Vater Atomangriffe auf die Sowjetunion rechtzeitig aufspüren und melden, und damit einen russischen Gegenschlag einleiten sollte. In ihrem bescheidenen Alltag zwischen Arbeit, Schule, und Piroschki mit Pilzen zum Abendessen war das aber auch nicht von Belang.
So ahnen weder die Familie noch „Stasik“ selbst, dass ihn seine Vertretungsschicht für einen kranken Kollegen am 26. September 1983 genau in die Situation bringt, vor der sich im Abwehrzentrum alle fürchten. Um null Uhr fünfzehn geht der Alarm los, der bedeutet, dass US-Amerikanische Interkontinentalraketen Richtung Sowjetunion fliegen. Petrow ist in den wenigen Minuten, die er zur Reaktion hat, vollkommen klar, was auf dem Spiel steht. Während er versucht, die Fakten abzuwägen, bricht im Abwehrzentrum Panik aus, alle warten auf seinen Befehl. Doch Petrow zweifelt an der Authentizität des Angriffs, denn er vertraut – obwohl er selbst Programmierer ist – dem Großrechner M-10 nicht. Seine logischen Überlegungen führen ihn vielmehr zu der Frage, ob den Amerikanern nicht ebenso klar sein müsste, dass ein solcher Erstschlag automatisch auch ihren Untergang bedeuten würde?
Tatsächlich meldeten sowjetische Satelliten inmitten des kalten Krieges in dieser Nacht fälschlicherweise gleich mehrfach den Start amerikanischer Atomraketen. Dass dies nicht in einer globalen Katastrophe endete, ist allein Petrows Kaltblütigkeit und persönlicher Größe geschuldet, der dem Alarm nicht blind folgte, sondern auf sein Bauchgefühl vertraute. Weil sich das damalige System keine Blöße geben wollte, wurde der Zwischenfall totgeschwiegen und der Offizier weder befördert noch bestraft, sondern zur Geheimhaltung verpflichtet und „kaltgestellt“. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der Vorfall publik und Petrow erhielt in seinen letzten Lebensjahren Ehrungen im In- und Ausland.
Der schmale Roman beleuchtet auf 128 Seiten kammerspielartig die klaustrophobische Situation im geheimen Bunker und die inneren Konflikte Petrows. Dabei verzichtet Maisel auf dramatische Effekte, vielmehr wählt er einen nüchternen, fast dokumentarischen Stil. Spannung und Emotionen entstehen allein durch die Schilderung des enormen Drucks, unter dem der Protagonist steht.
So tauchen wir beim Lesen tief in die Psyche des Protagonisten ein und spüren den Gedankengängen und Gefühlen nach, die ihn damals dazu gebracht haben, auf einen gewaltsamen Rückschlag zu verzichten und damit ein enormes Risiko einzugehen. Nachvollziehbar und sensibel imaginiert Maisel, wie Petrow sich nicht nur den Algorithmen des Computers, sondern auch den eigenen Zweifeln stellt und im abwägenden Abwarten die richtige Strategie für die komplex-katastrophale Situation findet.
Damit macht Maisel seinen Roman, den man gerade wegen des „unerhörten Ereignisses“ sowie seiner zeitlosen thematischen Relevanz durchaus auch als Novelle lesen kann, zu einem Plädoyer für Vernunft und Humanität. Allerdings wirkt die stilistische Umsetzung mitunter etwas unbeholfen angesichts des geschilderten Ereignisses von historischen Ausmaßen. Diesbezüglich stört auch beim Lesen die mangelnde geschichtliche Einordnung von Petrows einsamer Entscheidung. Deren Dimensionen werden hier nicht wirklich deutlich herausgearbeitet, dabei war Petrow selbst die existenzielle Bedeutung seines Handelns zu jedem Zeitpunkt voll bewusst. So berichtet er später in einer Dokumentation: „Totale Auslöschung allen Lebens. (…) Die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki wirken wie Spielzeuge im Vergleich zu den 11.000 nuklearen Sprengköpfen, die damals eingesetzt worden wären.“
Nur weil dieser Mann damals in den 17 Minuten zwischen der Alarmierung durch ein anfälliges Raketenabwehrsystem und dem Moment der Entwarnung dem kritischen Denken fähig war und durch logische Schlussfolgerungen die Panik angesichts einer fatalen Kette scheinbar gesicherter Fakten relativierte, blieb uns die globale Katastrohe erspart.
Leider wird der dokumentarische Stil mitunter von etwas kitschigen und plakativen Formulierungen gestört. Dennoch setzt Lukas Maisels Buch ein empathisches Denkmal für einen Mann, der sich inmitten der Zwänge von Macht und Hierarchie allein von seinem Verstand und seinem Gewissen leiten ließ. Der Roman ist damit gerade angesichts der heutigen Klimakrise, kriegerischer Konflikte und des globalen Rechtsrucks eine Lektüre, die zum Nachdenken über die Rolle des Einzelnen in kritischen Momenten anregt und daran erinnert, wie zerbrechlich das Gefüge der Welt ist.
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